Y. Hotam: Moderne Gnosis und Zionismus

Titel
Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken


Autor(en)
Hotam, Yotam
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Brauch, München

Der messianische Anspruch des säkularen Zionismus hat seit jeher fasziniert. In zahlreichen Werken wurde dem Einfluss der jüdischen Überlieferung auf die zionistischen Strömungen nachgegangen. Immer wieder gab es zudem Versuche, dem Einfluss der politisch-theologischen Traditionslinien auf die israelische politische Kultur nachzugehen.1 Die hohe Wirksamkeit tradierter messianischer Topoi im säkularen Bereich wurde dabei zumeist entweder oberflächlich geistesgeschichtlich oder instrumentell politikwissenschaftlich interpretiert.

Am Beginn von Yotam Hotams Studie „Moderne Gnosis und Zionismus“ steht denn auch das Ungenügen an bisherigen Erklärungsmustern, mit welchen der Zionismus oft recht generell als „säkulare Form von Messianismus oder Erlösungshoffnung“ (S. 13) analysiert wird. Er verspricht eine präzisere Bestimmung der „inneren Struktur“ des Zionismus (S. 13), indem er die politisch-theologische Spezifik frühzionistischen Denkens aufzudecken versucht, die er nachhaltig durch die Lebensphilosophie bestimmt sieht. Insofern die Lebensphilosophie ihren Einfluss mehr als epochenprägende Stimmung und Zeitgeist, denn als systematische Philosophie hinterlassen hat, nimmt er die durch sie geprägten modernen „gnostischen Strukturen“ phänomenologisch in den Blick. Die Verbindungslinie zwischen Gnosis und Lebensphilosophie zieht Hotam schlüssig durch Verweis auf die blühenden Gnosis-Forschung Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts.

Vor diesem Hintergrund bemüht er sich, die Gnosis mit ihrem recht breiten semantischen Bedeutungshorizont über Grundmotive näher zu bestimmen. Diese findet er in der antiken Gnosis zunächst im Dualismus von Immanenz und Transzendenz; ein Dualismus, der in der Lebensphilosophie unter umgekehrten Vorzeichen seine Renaissance erlebt. Gut und Böse wird in der antiken Gnosis durch Gott und die (böse) Welt, zwischen transzendentem Geist und immanenten Leben, repräsentiert. Gott als transzendentes Wesen steht für das ursprüngliche Sein jenseits der Welt, die als Werk eines „minderwertigen Schöpfergottes“ gilt (S. 55). In der Lebensphilosophie kehren sich die Rollen um, und immanente Natur und „wahres“ Leben avancieren zum eigentlichen Ideal. Der transzendente Geist-Gott gilt nunmehr als Reinkarnation der rigoros abzulehnenden modernen Ordnung, deren liberale und rationale Grundlagen als direkte Folge aus der jüdischen und christlichen Tradition interpretiert werden. Im Geiste der Lebensphilosophie wird die Rückkehr in einen heidnischen, ursprünglichen Zustand angestrebt; Kultur und Gesetz werden durch „Erleben“ und „Eros“ ersetzt. Am Beispiel von Ludwig Klages gelingt es Hotam, die behauptete Strukturgleichheit von Gnosis und Lebensphilosophie zu zeigen. Tatsächlich ist die gedankliche Konstruktion von der Gnosis, über die Lebensphilosophie hin zum Zionismus schlüssig hergeleitet. Die beiden hervorragenden Fallstudien zu Theodor Lessing und Jakob Klatzkin zeigen das en détail. In diesen Kapiteln wird einerseits deutlich, wie in diesem Denken das Judentum radikal mit der ins Verderben führenden „Geistesethik“ (S. 167) – oder gnostisch gesprochen: dem transzendenten Geist-Gott – der Moderne identifiziert wird. Andererseits ist das Bemühen erkennbar, aus der jüdischen Geschichte die Ursprünglichkeit aus der vorexilischen Zeit zu retten und die Juden als Vertreter einer „uralten Rasse“ (Lessing) wieder zu sich selbst zu führen.

Hotam liefert damit eine gehaltvolle und originelle Analyse, die in ihrem Rückgriff auf Gnosis und Lebensphilosophie die Zionismusforschung einen beträchtlichen Schritt voranbringen dürfte. Die strenge Fokussierung auf moderne Gnosis und Lebensphilosophie hat aber auch ihre Schattenseiten. Dies betrifft zum einen die argumentative Struktur der Studie. Eine wirksame Rezeption von Hotams Studie dürfte durch die analytisch zwar oft starke, hin und wieder aber auch an Redundanzen und sprachlichen Ambivalenzen leidende Heranführung von der Kulturkrise über die Lebensphilosophie hin zur modernen Gnosis nicht erleichtert werden. Die für die Schlüssigkeit der These entscheidende Auseinandersetzung mit dem Zionismus jenseits der Fallstudien zu Lessing und Klatzkin beginnt dagegen erst relativ spät im dritten Teil. Dass hier manches historische Argument nur kurz und oberflächlich angerissen wird, ist dieser Gewichtung geschuldet. Dies wäre in einer rein ideengeschichtlichen Studie nicht zu kritisieren, wäre da nicht die weitreichende These, dass im gnostischen Ansatz der „Kern des zionistischen Arguments zu sehen“ sei (S. 123f.). Wenn dem so ist, dann wäre eine nähere Untersuchung des Einflusses dieses Grundmotivs in der Geschichte des Zionismus und der Wechselwirkung mit anderen ideengeschichtlichen Komponenten durchaus von Interesse.

Hotam nimmt diese Herausforderung zwar an, begnügt sich aber mit einer knappen, aber lesenswerten tour d’horizon durch das säkulare Milieu frühzionistischer Vordenker. Vorgestellt werden Aaron David Gordon, Micha Josef Berdyczewski, Josef Chaim Brenner, Jecheskel Kaufmann und Max Nordau, die er zwar als relativ kleine, aber einflussreiche Strömung ansieht (S. 202). Metaphern von der Rückkehr zu den Ursprüngen der jüdischen Frühzeit wie bei Jecheskel Kaufman, die zentrale „kosmische“ Bedeutung der Landarbeit bei Gordon sowie die Dichotomie zwischen „negativer Diaspora“ und positivem „nationalen Fundament“ des durchaus rationalistischen Nordaus (S. 214), all das sind für Hotam Beweise für eine Metaphysik, die sich aus der modernen Gnosis speist.

Die abschließende Hinwendung Hotams zu Martin Buber und Gershom Scholem, die jenseits dieses säkularen Milieus gewirkt haben, stützt sein Argument, wonach wichtige zionistische Vordenker sich in ähnlichen, lebensphilosophisch geprägten Denkfiguren bewegten. Die vitalistische Begriffswelt von Buber erfährt durch Hotam eine Bedeutung, die ihn auch innerhalb des Zionismus nicht zu einer Ausnahme, sondern zum Exponenten eines zeittypischen Denkens macht. Das Staunen über die Ähnlichkeit bestimmter zionistischer Motive bei Persönlichkeiten unterschiedlicher Prägung bringt Hotam dazu, auf den letzten Seiten seines Buches den letzten argumentativen Schritt zu gehen und die wichtigsten zionistischen Ideologien – die revisionistische, die sozialistische und die religiöse – auf ihre gnostische Grundierung hin zu analysieren. Es ist dies die schwierigste Bewährungsprobe für Hotams These. Er muss zugestehen, dass etwa der Revisionismus die „gnostisch-zionistische Position nicht gänzlich vereinnahmt“ habe (S. 227), und dass im Denken von Rabbiner Kook das vitalistische Element letztlich doch wieder in der jüdischen Lehre absorbiert wurde (S. 237). An diesem Punkt wäre eine Analyse, was denn das gnostische Element im Verhältnis zu anderen Motiven im Zionismus bedeutet, hilfreich gewesen. Der letzte Teil bemüht sich hier um Anknüpfungspunkte, aber eine stimmige Bewertung bleibt aus. An mancher Schlussfolgerung ist zu erkennen, dass die Radikalität der These, mit welcher die überragende Bedeutung der gnostischen Figur für den Zionismus behauptet wird, nur mit Not aufrecht erhalten werden kann. Ein Beispiel: Hotam schreibt, die Wahl des Hebräischen als nicht säkularer Sprache sei „nicht der einzige Fall“ gewesen, „in dem Elemente der modernen Gnosis im Zionismus nicht so strikt ausgelegt wurden“ (S. 250). Hier klingt an, dass es jenseits der modernen Gnosis noch andere Motive im zionistischen Denken gab, denen aber im Dienste der Reinheit der Hauptthese nicht weiter nachgegangen wird.

Jenseits der lebensphilosophisch geprägten Triebkraft des Zionismus, welche Hotam als zentral beschreibt, gibt es andere Faktoren, die die enorme messianische Überzeugungskraft des Zionismus auch in säkularen Kreisen erklären können. Paul R. Mendes-Flohr hat einmal zur Beschreibung der religiösen Sensibilität unter den Bedingungen radikaler Infragestellung religiöser Glaubensinhalte den Begriff der „säkularen Religiosität“ gewählt.2 Dieses Phänomen, das eine ganz eigene Geschichte im Zuge der Aufklärung hat, ermöglicht bis zum heutigen Tag, dass Israel als jüdischer Staat bei einer großen jüdischen Mehrheit im Land eine tiefere Legitimität genießt, als dies eine allein demokratische Konstitution jemals allein erreichen könnte. Damit sei nicht bezweifelt, dass die moderne Gnosis als „intellektuelles Hauptgeschehen ihrer Zeit“ (S. 240) eine bedeutungsvolle Rolle im zionistischen Denken spielte und dem Zionismus philosophisches Gewicht über sein politisches Programm hinaus verlieh. Doch mögen weitere Arbeiten zusätzliche Erkenntnisse zu dem Phänomen beitragen, das am Anfang von Hotams Arbeit stand: die erstaunlich „stillschweigenden Beziehungen zwischen der säkularen Welt und ihrem religiösen Erbe“ (S. 7).

Anmerkungen:
1 Zuletzt David Ohana, Political Theologies in the Holy Land. Israeli Messianism and Its Critics (Routledge Jewish Studies), Abingdon 2009. Weiterhin grundlegend bleibt Aviezer Ravitzky. Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago u.a. 1996.
2 Paul R. Mendes-Flohr, Secular Religiosity. Reflections on Post-Traditional Jewish Spirituality and Community, in: Marc Lee Raphael (Hrsg.), Approaches to Modern Judaism (Brown Judaic studies, 49), Chico 1983, S. 19–30, hier: S. 19f.

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