J. Panagiotidis u.a.: Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland

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Titel
Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Panagiotidis, Jannis; Petersen, Hans-Christian
Erschienen
Weinheim 2024: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Igor Biberman, Hamburger Institut für Sozialforschung

Im Frühjahr 2022 geriet der Fleischhersteller Tönnies aufgrund seiner Anwerbeversuche an der polnisch-ukrainischen Grenze in die Negativschlagzeilen. Der Schlachtbetrieb hatte kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine Rekrutier:innen an den polnischen EU-Grenzübergang bei Przemyśl entsandt, um geflüchtete Ukrainer:innen direkt bei der Einreise zur Arbeit für das westfälische Unternehmen zu verpflichten. Die angebotenen Verträge sahen eine Sammelunterbringung in Werkswohnungen vor. Die Kosten dafür sollten den Beschäftigten vom Lohn abgezogen werden.1 Der Fleischhersteller musste schließlich zurückrudern: Den Vorstoß habe man „zu voreilig“ gestartet, man habe doch nur helfen wollen.2 Tarifrechtler:innen bewerteten den Vorfall anders: Der Fleischkonzern habe die geflohenen Menschen zu eigenen Konditionen vor der Konkurrenz abgreifen wollen.3 Da Ukrainer:innen die Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis in Deutschland hatten, wurden sie im Niedriglohnsektor als begehrte Personalressource betrachtet.

Osteuropäer:innen zunächst und vor allem als „billige Arbeitskräfte“ zu betrachten, ist Teil einer rassifizierenden und kolonial geprägten Zuschreibung, die in Deutschland einer langen Wahrnehmungstradition folgt. Doch in den Diskursen über Rassismus und die postmigrantische Gesellschaft wurde dieses Problem lange Zeit kaum wahrgenommen. Das allgemeine Wissen über die Kontinuitäten von antislawischem Rassismus ist daher begrenzt, und auch wissenschaftlich wurde das Thema selten aufgegriffen. Zu diesem Schluss kommen Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen in ihrer Monografie „Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“.4

Panagiotidis ist wissenschaftlicher Direktor des Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien. Petersen arbeitet am Bundesinstitut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg unter anderem zur russlanddeutschen Geschichte. In den letzten Jahren nahmen beide Forscher häufig an Diskussionsveranstaltungen teil, die von Aktivist:innen aus osteuropäischen Communities organisiert wurden.5 In solchen Austauschformaten fordern Betroffene die Sichtbarmachung und Anerkennung ihrer Erfahrungen ein. In diesem Kontext entstand die Idee, die Diskussionslinien in einem Buch zusammenzuführen, wobei die Autoren ursprünglich einen längeren Essay ins Auge gefasst hatten (S. 9). Daraus wurde letztlich ein prägnanter Grundlagenband, der überblicksartig neuere Forschungsergebnisse bündelt und einen multiperspektivischen Zugang zum historischen sowie aktuellen Rassismus gegen Osteuropäer:innen in Deutschland ermöglicht.

In ihrem Buch verwenden die Autoren bewusst den breiten Begriff des „antiosteuropäischen Rassismus“, was zu Irritationen führen kann, da der Begriff auf Osteuropa als vermeintlich einheitlichen geografischen Raum fokussiert, dessen Kultur und Bevölkerung von außen mit abwertenden Kategorisierungen belegt werden. Im Gegensatz zum geläufigeren „Antislawismus“ sei dieser Terminus jedoch besser geeignet, die Vielfalt an Diskriminierungsformen gegen marginalisierte Gruppen aus Osteuropa zu erfassen, da er explizit nicht nur die Abwertung einer Bevölkerungsgruppe aufgrund biologistischer Zuschreibungen in den Blick nehme (S. 16). Die begriffliche Öffnung ermöglicht es, die intersektionale Verschränkung von Antislawismus mit Antisemitismus und Antiziganismus zu fassen. Exemplarisch blicken die Autoren auf historische Formen hybrider Rassismen – etwa das Konstrukt des „Ostjuden“ (S. 67) oder des „jüdischen Bolschewismus“ (S. 96ff.).

Panagiotidis und Petersen verfolgen in ihrem Buch zwei übergreifende Argumentationslinien. Zum einen fragen sie, wie koloniale Diskurse und Praktiken die lange Verflechtungs- und Expansionsgeschichte Deutschlands im östlichen Europa prägten. Zum anderen blicken sie aus verschiedenen Perspektiven auf Ost-West-Migration: Sie beleuchten Migrationsdebatten innerhalb der deutschen Gesellschaft und fragen, wie diese den Umgang mit der Zuwanderung aus Osteuropa beeinflusst haben. Dabei wollen sie auch den Erfahrungsrahmen der Migrant:innen selbst abbilden. Die Autoren gehen in ihrer Studie chronologisch vor. Sie zeigen, wie das östliche Europa seit der Frühaufklärung als fremd und vermeintlich rückschrittlich beschrieben wurde. Der „Osten“ war als imaginierter Raum zwischen Orient und Okzident verortet. Die geografischen Gebiete, welche unter diese Bezeichnung fielen, konnten je nach Kontext und Zuschreibung variieren (S. 31). Diese Denktradition lieferte ab dem 18. Jahrhundert die Grundlage zur Rechtfertigung deutscher Vorherrschaftsansprüche.

Der „koloniale Blick“ auf den Osten Europas war dabei, wie die Autoren eindrücklich belegen, in allen gesellschaftlichen Schichten vertreten und breit anschlussfähig. Erhellend ist hierfür ein Exkurs zu Debatten über den östlichen Grenzverlauf des Reichsgebietes in der Paulskirchenversammlung (Kapitel 3). In der deutschsprachigen Historiografie wird die Nationalversammlung von 1848/49 gemeinhin als „Demokratiewerkstatt“ gewürdigt, ihre Abgeordneten gelten als Vorkämpfer bürgerlicher Rechte (S. 37). Allerdings unterstützten sie, wie die Autoren zeigen, fraktionsübergreifend Hegemonialfantasien – basierend auf der Annahme einer „kulturellen Höherwertigkeit als Mittel zur Durchsetzung deutscher Ansprüche in (Süd-)Osteuropa“ (S. 46). Auch Anklänge völkischer „Boden“-Diskurse blieben unwidersprochen.

Derlei Ressentiments schlugen sich im Kaiserreich ab den 1880er-Jahren zunehmend in realpolitischen Maßnahmen nieder, die auf Marginalisierung und räumliche Verdrängung der ansässigen Bevölkerung in den preußischen Teilungsgebieten Polens zielten. Ob man übergreifend von einer „kolonialen Praxis“ sprechen könne, ist laut Panagiotidis und Petersen in der Forschung nicht abschließend geklärt. Der grundlegende Unterschied zu deutschen Überseekolonien sei etwa, dass der ansässigen polnischen Bevölkerung in Ostpreußen ebenso wie polnischen Arbeitsmigrant:innen im Ruhrgebiet seit der Reichsgründung 1871 die Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde (S. 60f.).

Der koloniale Blick auf Osteuropa hatte in Deutschland, wie die Autoren im ersten Drittel ihres Buches nachweisen, eine lange Vorgeschichte. Die Kulmination dieser Entwicklung sehen Panagiotidis und Petersen mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erreicht (Kapitel 6). Der „Generalplan Ost“, so die Autoren, „kombinierte Elemente von Ausbeutungskolonialismus und Siedlungskolonialismus: Osteuropa und speziell die Schwarzerdegebiete der Sowjetunion sollten das Deutsche Reich mit Nahrung und Rohstoffen versorgen und gleichzeitig der Ort deutscher Pioniersiedlungen werden.“ (S. 95) Der einheimischen Bevölkerung war das Schicksal der Zwangsumsiedlung, Versklavung und Ermordung zugedacht. Bislang dominiert in der deutschen Öffentlichkeit die Annahme, dass Russland der „Hauptlasttragende“ des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gewesen sei. Die Geschichten der Ukrainer:innen, Belarus:innen und vieler anderer werden häufig ausgeblendet. Deshalb wäre an dieser Stelle des Buches eine stärkere Einordnung zu wünschen gewesen – auch im Hinblick auf einen möglichen Reflexionsbedarf in der zitierten Forschung.6

Die Niederlage der Wehrmacht brachte den Vernichtungskrieg in Osteuropa zum Erliegen. Nicht einfach beizulegen war hingegen „antiosteuropäischer und antislawischer Rassismus, [der] in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet [war], als kollektives Feindbild und als millionenfache, mörderische Praxis an der ,Ostfront‘. Es spricht nichts dafür, dass diese Linien 1945 abrupt endeten.“ (S. 117) Während fraglich bleibt, ob die direkte Begegnung auch zu einem Abbau von Vorurteilen in der deutschen Bevölkerung beigetragen haben könnte (vgl. S. 110), prägten die Erfahrungen der Deutschen mit Zwangsarbeiter:innen indirekt auch den Umgang mit Arbeitsmigration nach 1945.

Die Nachkriegsordnung brachte zuerst große Migrationsbewegungen, dann aber massive Einschränkungen der globalen Migration mit sich. Durch Schließung des Eisernen Vorhangs wurde die Ost-West-Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts größtenteils blockiert, wobei sich in der Folge die Bedeutung der Süd-Nord-Migration zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Westeuropa erhöhte (S. 136ff.). Der Mauerfall und der absehbare Kollaps der Sowjetunion – verbunden mit der Einreise einer großen Zahl an Aussiedler:innen und Kontingentflüchtlingen nach Deutschland – beflügelten ab 1989 erneut die aufkeimende Angstdebatte über eine bevorstehende Welle der Armutsmigration. Gelabelt wurde die Drohkulisse dabei als „Völkerwanderung aus dem Osten“ (S. 149ff.). Strukturell setzte sich dieser Diskurs in der protektionistischen Haltung der deutschen Politik, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft hinsichtlich der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 und der damit verbundenen Ausweitung des Schengenraumes fort. Je weiter die Beitrittsverhandlungen voranschritten, desto lauter wurden in Deutschland Stimmen, die vor „billiger“ Konkurrenz durch Osteuropäer:innen auf dem Arbeitsmarkt warnten und Migrationsbeschränkungen einforderten.

Panagiotidis und Petersen arbeiten in ihrem Werk mit einer breiten Quellenbasis. In allen Kapiteln ziehen sie vielfältige literarische sowie journalistische Texte heran und bieten aufschlussreiche Analyseansätze für das reichhaltig abgedruckte Bildmaterial. Im letzten Kapitel (vor dem Fazit) stehen autobiografische Romane von Migrant:innen im Fokus. Für ihre übergreifende Narrationsanalyse haben Panagiotidis und Petersen exemplarisch zehn Bücher ausgewählt, die allesamt in den letzten acht Jahren erschienen sind, darunter „Wer wir sind“ von Lena Gorelik (2021) und „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ von Dmitrij Kapitelman (2016). Die Verfasser:innen dieser autobiografischen Romane beschreiben, wie sie die Ankunft in Deutschland, die Erfahrungen von Anderssein und Ausgrenzung, Anpassung und Unsichtbarkeit durchlebt haben – aber auch ihre persönlichen Wege, eine Sprache zu finden, die es ihnen ermöglichte, das Erlebte zu reflektieren. Panagiotidis und Petersen führen die unterschiedlichen Narrationsstränge zusammen. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass Rassismus als Analysebegriff für viele der hier geschilderten Erfahrungen tragfähig sei.

Mit ihrem Buch bieten die Autoren eine kompakte Bestandsaufnahme zu ihrem Forschungsfeld. Der ausführliche Literaturapparat ist äußerst hilfreich, will man einen fundierten Überblick der bisherigen Arbeiten zu kolonialen Diskursen und Praktiken in Bezug auf Osteuropa sowie zu deren Fortwirken bis in die Gegenwart erhalten. Ebenso heben die Autoren wissenschaftliche Desiderate hervor, etwa im Bereich aktueller empirischer Forschung. Ans Ende ihres Buches stellen Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen daher ein Plädoyer: Die Erforschung des „antiosteuropäischen Rassismus in Deutschland“ wie die öffentliche Debatte darüber stünden erst am Anfang und müssten fortgeführt werden.7 Das Buch bietet dafür eine solide Grundlage.

Anmerkungen:
1 Robert Bongen / Sebastian Friedrich, Nutzt Tönnies die Not der Flüchtlinge aus?, in: tagesschau, 30.03.2022, https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/toennies-fluechtlinge-ukraine-101.html (22.10.2024); Eiken Bruhn, Tönnies wirbt ukrainische Geflüchtete an. Aus der Not Profit schlagen, in: taz, 31.03.2022, https://taz.de/Toennies-wirbt-ukrainische-Gefluechtete-an/!5845384/ (22.10.2024).
2 Christoph Höland, „Sorry, zu voreilig“. Tönnies stoppt Anwerbung ukrainischer Geflüchteten, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, 31.03.2022, https://www.rnd.de/wirtschaft/zu-voreilig-toennies-stoppt-anwerbung-ukrainischer-fluechtlinge-RSHUIBD6PZANPNEDY2YTEB3XOU.html (22.10.2024).
3 Ebd.
4 Eine längere Fassung dieser Rezension erschien bei Soziopolis, 19.11.2024, https://www.soziopolis.de/keine-stunde-null.html (19.11.2024).
5 Vgl. Zoom-Talk: Antislawismus – mit Prof. Dr. Jannis Panagiotidis & Prof. Dr. Hans-Christian Petersen, in: O[s]tklick, 17.01.2022, https://www.ost-klick.de/live-antislawismus/ (22.10.2024).
6 Nicht mehr berücksichtigen konnten Panagiotidis und Petersen die jetzt erschienene, thematisch einschlägige Monografie von Tatjana Tönsmeyer, Unter deutscher Besatzung. Europa 1939–1945, München 2024.
7 Siehe dazu auch diese Berliner Tagung vom 26.–27.09.2024: Antiosteuropäischer Rassismus. Brauchen wir eine „Osterweiterung“ der Rassismusdebatte?, in: H-Soz-Kult, 24.07.2024, https://www.hsozkult.de/event/id/event-145482 (22.10.2024).