Cover
Titel
Readers, Rebels, Visionaries. The Literary Sphere of Bhagat Singh and Sukhdev


Autor(en)
Anand, Neeru Nangia
Erschienen
New Delhi 2024: Primus Books Delhi
Anzahl Seiten
338 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melitta Waligora, Berlin

Lesen ist revolutionäre Praxis. Dieser Gedanke von J. Daniel Elam kann als Motto über dem Buch von Neeru Nangia Anand stehen und bildet die Quintessenz nach dessen Lektüre. In seinem Text fragte Elam nach dem Sinn des Lesens für Gefangene, die sich in einem Hungerstreik bis zum möglichen Tod befinden.1 Im Zentrum seiner Analyse steht Bhagat Singh (1907–1931), ein Revolutionär aus dem nordindischen Punjab, dem das Lesen ein unabdingbares Lebenselixier war, bis wenige Minuten vor seiner Hinrichtung mit 23 Jahren. Doch nicht um den Erwerb von Gelehrsamkeit, Autorität oder gar Wissensmacht ging es ihm, sondern um die Kultivierung eines revolutionären Subjekts auf egalitäre Weise, da alle lesen können (sollten).

Neeru Nangia Anand wendet sich in ihrem Buch der Lesepraxis nordindischer Revolutionäre zu und greift exemplarisch den schon erwähnten Bhagat Singh und Sukhdev (1907–1931) heraus. Beide waren Freunde seit Kindertagen, teilten die Leidenschaft für das Lesen, waren Gefährten im Kampf gegen die Kolonialmacht und für eine soziale Revolution. Damit waren sie nicht allein, sondern stets Teil einer Gruppe, sei es in der Hindustan Republican Association (HRA), der Naujawan Bharat Sabha (NSB) und der Hindustan Socialist Republican Association (HSRA). Es waren vornehmlich junger Männer, die gemeinsam studierten, diskutierten, Meinungsverschiedenheiten austrugen, auf diese Weise ihre Freundschaft und ihren Zusammenhalt festigten, um revolutionäre Aktionen zu planen und durchzuführen. Sie gaben sich keiner Illusion hin bezüglich der Bereitschaft der Kolonialmacht, ihre Herrschaft in Indien freiwillig aufzugeben, etwa infolge des gewaltfreien Widerstandes, wie ihn Gandhi predigte. Ihre Generation wurde erschüttert und aufgerüttelt am 13. April 1919, als ein britischer Offizier auf eine große Menge unbewaffneter und friedlich demonstrierender Menschen schießen ließ, bis die Munition ausging – das Massaker von Jallianwallah Bagh in Amritsar. Mit diesen Schüssen und Toten begann eine von Anand in der Einführung skizzierte ereignisreiche Dekade, in der diese jungen Männer die aktivste Zeit ihres Lebens verbrachten, und sie endete für Bhagat Singh und Sukhdev 1931 mit der Hinrichtung.

In den letzten Jahrzehnten, insbesondere seit dem neuen Jahrtausend, hat das Interesse an dem antikolonialen, revolutionären Widerstand – von der britischen Kolonialmacht wie auch von Gandhi und dem Indischen Nationalkongress als terroristisch verunglimpft und nach der Unabhängigkeit 1947 weitgehend ignoriert – unter Historikern, Journalisten und Künstlern zugenommen. Lag der Fokus vordem auf der Provinz Bengalen, rückt nun vermehrt Nordindien in den Blickpunkt. Auch gibt es bereits Forschungen zum Einfluss sozialistischer, marxistischer und anarchistischer Literatur auf Denken und Handeln der Revolutionäre.

In ihrem Buch greift Neeru Nangia Anand einen bislang weniger beachteten Aspekt der Lesefreude von Bhagat Singh und Sukhdev auf: die Leidenschaft der Revolutionäre für Romane. Keineswegs nur ein Freizeitvergnügen, trägt die Lektüre von Romanen wesentlich zur Herausbildung einer revolutionären Subjektivität bei (S. 20). Dies an einigen ausgewählten Beispielen zu zeigen ist Thema des Buches.

Das Buch ist in drei Teile von unterschiedlicher Länge gegliedert. Der erste Teil „Spaces“ stellt Lahore, die kulturelle Hauptstadt des Punjab, vor, in der Bhagat Singh und Sukhdev ihre prägenden Jahre verbracht haben. Sie bot der Jugend vielfältige Möglichkeiten intellektuellen Lernens und Austausches. Anand beschreibt die anregende Atmosphäre am National College, den großen Bestand von Büchern revolutionären Inhalts in den öffentlichen Bibliotheken, florierende Druckereien und Verlagshäuser, verschiedene Zeitungen und Journale, daneben Untergrundliteratur. Auch an Buchläden und Kinos mangelte es nicht und die Jugend traf sich an öffentlichen wie privaten Orten. Von besonderer Bedeutung waren zudem einige Lehrer am National College, mit denen Studenten gemeinsam revolutionäre Literatur lasen und auf Augenhöhe miteinander diskutierten. In diesem anregenden Umfeld konnten sich früh Netzwerke Gleichgesinnter bilden, die ihnen auch später in den Gefängnissen, neben der weiter lebensnotwendigen Lektüre, Halt boten.

Im zweiten Teil „Readings“ greift Anand aus der Vielzahl der gelesenen Literatur fünf Bücher heraus, die besonderen Eindruck auf ihre beiden Protagonisten ausgeübt haben. Durch das Lesen und Diskutieren der Texte gelangten sie zu immer weiterer Klarheit in ihren Ideen und reiften als Persönlichkeiten. Victor Hugos Roman „1793“ von 1874 war am National College Pflichtlektüre. Anand zeigt, wie sich interessanterweise am individuellen Verhalten einiger fiktiver Figuren – also nicht an realen Akteuren wie Robespierre, Marat oder Danton – eine grundsätzliche Debatte zwischen Bhagat Singh und Sukhdev entwickelte. Beide positionierten sich unterschiedlich zu der Frage des Selbstmords und der Liebe. Im Kern ging es um den Platz von Emotionen und persönlichen Bindungen im Leben eines Revolutionärs. Sollte er nur seinem Ideal verpflichtet sein, fern jeder individuellen Zuneigung, wie Sukhdev meinte, oder werden sie so zu Göttern (oder Maschinen), denen jegliches Menschliche fremd ist, wie Bhagat Singh einwendete. Dies war keine rein theoretische Debatte, denn in der Gruppe mussten Entscheidungen über revolutionäre Aktionen getroffen werden, in denen ein Freund geopfert werden musste, wenn es dem Ideal dient. Das Thema des Selbstmords und der Liebe beschäftigte die beiden bis zum Ende ihres kurzen Lebens, wie ihre berührenden Briefe und Tagebucheintragungen zeigen.

„Anandamath“ von Bakim Chandra Chatterjee, 1882 in Bengali erschienen, schildert den Aufstand eine Gruppe junger Männer gegen eine tyrannische Herrschaft. Es wurde in verschiedene Sprachen Indiens übersetzt und zur Pflichtlektüre nicht nur bengalischer Revolutionäre, sicher damals eines der meistgelesenen Bücher. Dennoch empfahl Sukhdev einem Neuling in der revolutionären Gruppe erst einmal ein anderes Buch: John Reeds „10 Tage die die Welt erschütterten“ (1919) über die russische Revolution. Anand hebt hervor, was die nordindischen Revolutionäre an „Anandamath“ störte, obschon auch sie das Buch lasen: der darin verbreitete religiöse Nationalismus. Für sie war Religion Privatsache. Es musste nicht jeder wie Bhagat Singh ein Atheist sein, aber in ihren verschiedenen Organisationen wurde auf die Trennung von Religion und Politik geachtet, was zu dem Zeitpunkt bemerkenswert war und bis heute nicht selbstverständlich ist.

Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“ erschien erstmals 1906 auf Englisch und wurde zu einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, übersetzt in viele Sprachen der Welt. Die revolutionäre Jugend liebte den Roman und dessen erste Verfilmung von 1926 sah der kinobegeisterte Bhagat Singh mit seinen Kameraden. Den Weg zu einer sozialen Revolution wie in Russland sahen sie vorgezeichnet in der Politisierung und Radikalisierung eines einfachen Arbeiters und seiner Mutter. Der 1917 veröffentlichte Roman „King Coal“ von Upton Sinclair erzählt die Geschichte eines Bergarbeiterstreiks, der 1913–1914 in Colorado ausgefochten wurde. Hier war es vor allem die Figur eines jungen Mannes aus einer Industriellenfamilie, seine Empathie und Hinwendung zu den Streikenden, die Bhagat Singh und Sukhdev beeindruckten.

Ein für alle Revolutionäre essentielles Thema greift die Novelle „The seven who were hanged“ von Leonid Andrejew aus dem Jahr 1908 auf: den – wahrscheinlich frühen – Tod. Bereits 1909 lag sie in englischer Sprache vor. Die Novelle, schreibt Anand, sei eine Reaktion auf einen Text von Leo Tolstoi aus dem gleichen Jahr, in dem dieser sich unter der Überschrift „Ich kann nicht schweigen!“ klar, unmissverständlich und überzeugend gegen die Todesstrafe wendete. Vom Tolstoi-Verehrer Gandhi ist derartiges nicht bekannt. Die Revolutionäre in der Novelle akzeptieren den Tod als Konsequenz ihres Tuns wie es auch Bhagat Singh und Sukhdev taten. Darüber hinaus begriffen sie Anand zufolge ihren Tod als Bestärkung ihrer Ideale. Sie wollten weder als Märtyrer sterben noch sinnlos, sondern noch mit ihrem Tod der Revolution dienen.

Dem schließt sich ein kurzer dritter Teil „Readings: A coda“ an. In diesem hebt Anand den kritischen und nachforschenden Geist, der generell unter den Mitgliedern dieser revolutionären Gruppen herrschte, hervor, und belegt ihn mit gut gewählten Zitaten aus deren Texten. Neben dem Lesen beruhe dieser Geist aber auch auf der Wahrnehmung des Elends in der indischen Gesellschaft. Sie kannten die zugrundeliegenden sozialen Strukturen und richteten daran ihre Ziele und Methoden aus. Diese Zusammenhänge zwischen Lesenden, Rebellen und Visionären arbeitet Neeru Nangia Anand mit großer Sachkenntnis und Empathie heraus.

Am Ende stellt sich mir eine Frage: Warum investieren viele Regierungen, trotz gegenteiliger Beteuerungen, so wenig in gute Bildung und fördern so die Freude am Lesen? Vielleicht, weil ein revolutionäres Subjekt dabei herauskommen könnte?

Anmerkung:
1 J. Daniel Elam, Commonplace Anti-Colonialism. Bhagat Singh’s Jail Notebook and the Politics of Reading, in: South Asia. Journal of South Asian Studies 39 (2016) 3, S. 592–607.

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