Wie setzten sich westdeutsche Feministinnen ab 1968 mit dem Nationalsozialismus (NS) auseinander? Einige Beiträge haben hierzu bereits erste Deutungen geliefert. Breite historiographische Studien fehlen indes. Sina Speit hat mit ihrer Dissertation den ersten Aufschlag gemacht und einen wichtigen Grundstein gelegt. Anhand von Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Ausstellungen, Filmen, Tagungen sowie Nachlässen von Hilde Radusch (1903–1994) und Annemarie Tröger (1939–2013) untersucht sie, „welche Erinnerungen an den Nationalsozialismus Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren erzeugten und tradierten“ (S. 13). Besondere Aufmerksamkeit erhält die Frage, „von welchen Frauen“ und „mit welchen Frauen“ Feministinnen sprachen (S. 405).
Das Werk ist in sieben Kapitel unterteilt. Neben Einleitung und Schluss widmen sich fünf Kapitel der Analyse. Diese beschreiben chronologisch Etappen in der feministischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Die Einleitung (Kap. 1) erklärt, dass sich die bisherigen Studien weitgehend auf die feministische Geschichtsforschung beschränkten und den Raum der „öffentlichen Geschichte“ ausblendeten (S. 23f.). Speit möchte hingegen aufschlüsseln, wie sich Feministinnen bereits vor der Etablierung der historischen Frauen- und Geschlechterforschung mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten und wie sich der feministisch-akademische Diskurs demgegenüber verhielt (S. 22–24). Die feministische Erinnerungskultur will sie „weder einer Fortschrittserzählung noch einer anderweitigen Homogenisierung unterwerfe[n]“ (S. 44). Stattdessen soll eine Vielzahl an Stimmen aus verschiedenen Debattenräumen sowie Strömungen untersucht und „in den zeithistorischen Horizont der 1970er und -80er Jahre“ eingebettet werden (S. 14).
Das zweite Kapitel nimmt die „Voraussetzungen für eine feministische Erinnerungskultur“, die Sozialisierung der Feministinnen als Angehörige der „68er-Generation“ und feministische Praktiken wie die „biographische Selbsterzählung“ in den Blick. Die Kapitel drei bis fünf befassen sich mit der Zeit von 1976 bis 1983 und bilden den Schwerpunkt der Arbeit. In dieser „Hochzeit der autonomen feministischen Öffentlichkeit“ (S. 40) erschienen die beiden überregionalen und oft konfliktvoll aufeinander bezogenen Zeitschriften „Emma“ und „Courage“. Deren Analyse bildet den roten Faden der Arbeit. Das kurze sechste Kapitel konzentriert sich – als ein Ausblick konzipiert – auf „Akteurinnen, Kritiken, Diskussionen“ zwischen 1984 und 1994, als die Neue Frauenbewegung aufgrund ihrer Professionalisierung und Institutionalisierung „nicht mehr im engen Bezugsfeld einer autonomen Alternativöffentlichkeit fassbar“ (S. 356) sei. Als bedeutende Akteurinnen dieser Zeit stellt Speit die afro-deutsche Frauenbewegung und den lesbisch-feministischen Schabbeskreis vor.
In einem knappen Schlusskapitel formuliert Speit fünf Thesen, unterlässt aber deren Einordnung in den Forschungsstand. Dies verschleiert, dass die Thesen kaum neue Erkenntnisse liefern. Speit resümiert, dass feministische Praktiken „ein besonderes Potenzial boten, sich der biografischen, alltags- und familiengeschichtlichen Verarbeitung des Nationalsozialismus anzunehmen“. Die Prämisse, dass alle Frauen gleichermaßen Opfer des Patriarchats seien, bedingte jedoch, dass NS-Täterinnen und Verfolgungsopfer „lange am Rande der Erinnerung blieben“. Erst in den 1980er-Jahren brachten „marginalisierte und rassismus- und antisemitismuskritische Frauen […] ihre Positionen und Identitäten […] gedächtnisaktivistisch“ ein, was nicht konfliktfrei verlief (S. 406–411). Das alles überrascht nicht und kann auch andernorts nachgelesen werden. Ein Verdienst der Dissertation ist es indes, dass sie „bisher oft schlaglichtartig besprochene oder kritisierte Veröffentlichungen oder Debatten […] in einen größeren Kontext“ (S. 44) stellt, also zur Synthesebildung und historischen Kontextualisierung beiträgt.
Aufmerksam macht die auf dem vierten Kapitel basierende dritte These, in der Speit die Bedeutung des intergenerationellen Gesprächs hervorhebt: Durch den Austausch mit älteren Lesben, Frauen aus dem Widerstand und „ganz normalen Frauen“ der Müttergeneration integrierten Feministinnen „weibliche Erfahrungen, darunter auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg, in die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus […]. Damit verstärkten sie jedoch auch deutsche Opfererzählungen.“ (S. 408). Speit unterstreicht, dass der Austausch zwischen jüngeren Feministinnen und älteren Frauen bisher nur wenig beachtet worden sei (S. 195). Ihre Untersuchung des Gesprächs mit „Frauen der eigenen Müttergeneration“ stützt sie jedoch leider auf spärliche Quellen aus dem engen Zeitraum von 1980 bis 1982. Neben dem Motiv der positiven Identifikation kommen Konflikte hier kaum zur Sprache. Deren Virulenz hat Irene Below bezüglich der Konzeption der von Speit ebenfalls thematisierten Ausstellung „Frauenalltag und Frauenbewegung 1890–1980“ gezeigt: „Der Versuch, ein Verständnis herzustellen, scheiterte an der Gretchenfrage des Faschismus und ihrer von beiden Generationen gereizten Behandlung.“1
Drei weitere Analyse- und Argumentationslücken sollen angemerkt werden:
1.) Zwar ist es Speit gelungen, „plurale Stimmen und Identitäten innerhalb der spezifischen Bewegungsöffentlichkeit“ (S. 405) zu analysieren. Dies geschieht etwa durch den Einbezug von Texten, die Schwarze Frauen, Jüdinnen, Sintizze und Romnja in der „Courage“ und „Emma“ veröffentlichten. Auch sozialistische Stimmen tauchen mitunter auf. Eigenheiten feministischer Strömungen im Umgang mit der NS-Zeit werden hingegen nicht reflektiert. Zudem hätten die Texte lesbisch-feministischer Zeitschriften, die über einen längeren Zeitraum erschienen, systematischer untersucht werden können. Nicht zuletzt bleibt der Vergleich zwischen „Courage“ und „Emma“ zu vage.
2.) Im Anschluss an Wolfgang Kraushaar und Norbert Frei geht Speit davon aus, dass ein bundesdeutsches Spezifikum der Studierendenbewegung die „NS-Vergangenheit als ‚Resonanzboden‘“ bildete und dass dies auch für die Neue Frauenbewegung gelte (S. 55 und 67). Zur Überprüfung dieser Hypothese hätte Speit international vergleichen müssen. Sie weist zwar – wie Franka Maubach vor ihr – darauf hin, dass „in der feministischen, historischen Frauenforschung […] mehrere US-Amerikanerinnen mit deutsch-jüdischen Wurzeln […] entscheidende Impulse gaben und auch Streitpunkte aufwarfen“ (S. 285). Umgekehrt hätte jedoch wenigstens ein Seitenblick auf die Rezeption deutscher feministischer Forschung in den USA gelohnt, etwa anhand des Historikerinnenstreits zwischen Gisela Bock und ihrer US-amerikanischen Kollegin Claudia Koonz. Erste Ansätze hierzu hat Maubach bereits geliefert.2
3.) Das fünfte und sechste Kapitel behandeln Debatten über Rassismus und Antisemitismus in der Neuen Frauenbewegung. Speit erklärt zu Beginn, sie halte es – mit den Worten Peter Ullrichs – für unmöglich, „den Antisemitismus zu erfassen oder gar auf einen überzeitlichen wesenhaften Begriff zu bringen“. Daher möchte sie sich „zurück[halten], alle hier diskutierten Aussagen als eindeutig antisemitisch oder nicht antisemitisch zu klassifizieren“. Ungeachtet dessen legt sie ihren Ausführungen die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zugrunde (S. 309). Die Debatte, ob sich diese aufgrund ihrer Unbestimmtheit für eine wissenschaftliche Analyse eigne, ignoriert Speit, ja wendet die Definition nirgends explizit an.
Während Speit den israelbezogenen Antisemitismus als „sehr präsent“ (S. 411) charakterisiert und hierfür einige Beispiele nennt, fällt sie hinsichtlich anderer Formen des Antisemitismus dürftig belegte Urteile: Die Parallelisierung der Hexenverfolgung mit dem Holocaust war laut Speit „unter Feministinnen in den 1980er Jahren sehr verbreitet“, jedoch „nicht per se […] antisemitisch motiviert, es erzeugte aber eine große Schieflage“ (S. 369). Was unter dem mehrfach bemühten Begriff „Schieflage“ zu verstehen ist, bleibt ebenso nebulös wie die tatsächliche damalige Verbreitung und Nutzung dieser Parallelisierung. Ein Vergleich mit dem Hexenthema und anderen historischen Bezugspunkten hätte ferner geholfen, den Stellenwert des Nationalsozialismus in der feministischen Erinnerungskultur zu beurteilen.
Als ein Beispiel für eine „pauschalisierende Rezeption der jüdischen Religion in Teilen der Frauenbewegung“ verweist Speit auf Elizabeth Gould Davis, behauptet jedoch fälschlicherweise, diese habe ihr Werk „The first sex“ später überarbeitet und sich „konstruktiv und selbstkritisch mit Antisemitismus-Vorwürfen auseinander[gesetzt]“ (S. 316f.). In Wahrheit nahm sich Davis das Leben, bevor die Diskussionen über ihr Buch in Gang kamen.
Auch die These, dass durch die feministische Reflexion der Diskriminierungskategorie race „Marginalisierte das Wort ergreifen und Öffentlichkeit für ihre Identitäten und Geschichten herstellen“ (S. 408) konnten, ist so nicht haltbar. Denn Antisemitismus kann nicht auf eine Form des Rassismus reduziert werden. Rassismus- und Antisemitismuskritiken standen vielmehr selbst in einem Spannungsverhältnis, was Debatten über den Nahostkonflikt zeigten.
Die genannten Monita sollen auch als weiterführende Fragen verstanden werden. Für alle kommenden Forschungsarbeiten zum Umgang der Neuen Frauenbewegung mit Rassismus, Antisemitismus und dem Nationalsozialismus bietet Speits Dissertation ohne Frage ein solides Fundament. Ihre Analyse führt die Vielfalt feministischer Medien und Praktiken vor Augen. Speits bemerkenswert klarer und ansprechender Schreibstil sowie die umfassende historische Kontextualisierung machen ihre Arbeit zugänglich für alle, die an der Geschichte der Neuen Frauenbewegung interessiert sind.
Anmerkungen:
1 Irene Below, Feministische Interventionen – Die Ausstellung „Frauenalltag und Frauenbewegung“ im Historischen Museum in Frankfurt, in: Annegret Friedrich (Hrsg.), Die Freiheit der Anderen. Festschrift für Viktoria Schmidt-Linsenhoff zum 21. August 2004, Marburg 2004, S. 67–81, hier S. 71.
2 Franka Maubach, Konsensuales, kontroverses oder plurales Wissen? Zum Spannungsverhältnis von Frauenbewegung und NS-Frauenforschung in den 1980er und frühen 1990er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21 (2010) 1, S. 175–200, hier S. 195f.