Erst seit wenigen Jahren steigt das Interesse von Historikerinnen und Historikern an der Geschichte des Europäischen Parlaments. Nach der Arbeit von Iris Soldwisch über das Europäische Parlament 1978–2004 und neben dem vor kurzem erschienenen Buch von Richard Steinberg über die Krisenwahrnehmungen im Europäischen Parlament während der langen 1970er-Jahre legt Mechthild Roos eine Abhandlung über die Sozialpolitik des Europäischen Parlaments vor 1979 vor.1 Dieses Buch entstand als Dissertation an der Universität Luxemburg und an der London School of Economics unter Betreuung von David Howarth, Anna-Lena Högenauer und N. Piers Ludlow. Mechthild Roos stellt sich darin die Doppelfrage, wie weit das Europäische Parlament vor der ersten Direktwahl 1979 die Sozialpolitik und damit gleichzeitig auch die institutionellen Regeln und die Machtverteilung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beeinflusste. Über die Sozialpolitik hofft sich Mechthild Roos einen Einblick in den wachsenden politischen Einfluss des Europäischen Parlaments deshalb zu verschaffen, weil die Abgeordneten glaubten, in diesem Themenfeld eine besonders enge Verbindung zu den Bürgern herstellen zu können, aber auch, weil dieses Politikfeld besonders wenig strukturiert war und daher Einflussraum für das Parlament bot. Das Buch stützt sich auf Bestände in den Archiven des Europäischen Parlaments in Luxemburg sowie der Europäischen Union in Florenz und zusätzlich auf über zwanzig Interviews mit früheren Abgeordneten des Europäischen Parlaments vor allem zu den späten 1960er- und 1970er-Jahren. Roos möchte den Einfluss des Europäischen Parlaments in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über oft nicht institutionalisierte Prozeduren und Routinen sowie über die Ideen und die Sozialisierung der Abgeordneten erfassen und dabei intensiv auf den zeitgenössischen Kontext eingehen.
Der Aufbau des Buchs folgt dieser doppelten Fragestellung. Nach einem methodischen Kapitel setzt Mechthild Roos im ersten inhaltlichen Kapitel den Rahmen des Buchs, befasst sich einerseits mit den schwachen rechtlichen Kompetenzen des Parlaments in der Gesetzgebung, in der Bewilligung des Etats und in der Kontrolle über die Europäische Kommission sowie den Europäischen Rat und behandelt andererseits die gemeinsamen Normen, die Ideen und die politische Sozialisation der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die in ihren Augen entscheidend für den Druck auf mehr Einfluss des Parlaments waren. In den folgenden Kapiteln über Sozialpolitik geht sie zuerst auf die Freizügigkeit und ihre soziale Absicherung im Raum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein, die in den Augen vieler europäischer Bürger eine besonders wichtige Errungenschaft der europäischen Integration darstellt. Dem Europäischen Parlament gelang es, an den zahlreichen Richtlinien und Verordnungen zur sozialen Absicherung der Migranten beteiligt zu werden und sogar mehr zu erreichen, als Europäische Kommission oder Europäischer Rat beabsichtigten.
Roos behandelt dann in einem weiteren Kapitel die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Bezahlung. Sie sieht allerdings in diesem Themenfeld ein geringeres Engagement der Abgeordneten und keine deutliche Erweiterung des Einflusses des Parlaments. Im darauffolgenden Kapitel geht sie auf die Kinder- und Jugendpolitik des Europäischen Parlaments ein – ein Thema, das in den Darstellungen zur europäischen Sozialpolitik seltener vorkommt. An dieser Stelle sieht sie das Parlament wieder als die treibende Kraft unter den Entscheidungsorganen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zwar mit wenig Erfolg, aber mit besonders klaren, pro-europäischen Vorstellungen der Abgeordneten. Das letzte sozialpolitische Kapitel dreht sich um den Europäischen Sozialfonds, der zwar damals mit relativ wenigen Mitteln ausgestattet war, über den das Parlament aber ausnahmsweise aufgrund der europäischen Verträge mitentscheiden konnte. Auf dieser Grundlage weitete das Parlament seinen Einfluss auf das Budget der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus. In diesem Bereich werden daher die Vorstellungen der Abgeordneten von der europäischen Integration besonders gut sichtbar. Ein anderes wichtiges Themenfeld der europäischen Sozialpolitik – der „soziale Dialog“, also die Mitbeteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern an europäischen sozialpolitischen Entscheidungen – scheint für Mechthild Roos für den wachsenden Einfluss des Europäischen Parlaments weniger aufschlussreich zu sein. Sie widmet diesem Thema jedenfalls kein eigenes Kapitel. Auch die Stellung des Europäischen Parlaments zur sozialen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs scheint Roos nicht wichtig genug gewesen zu sein, um darauf ausführlich einzugehen.2
Was bringt das Buch Neues? Man sollte die „European social policy“ im Titel nicht falsch verstehen: Das Buch dreht sich weniger um die bereits häufiger untersuchte Frage, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in der Sozialpolitik erreichte und worin sie nicht erfolgreich war. Vielmehr geht es um den Untertitel „Turning talk into power“, also um den Machtzuwachs des Europäischen Parlaments. Dieses Thema steht auch im Zentrum der ausführlichen, klaren und pointierten Zusammenfassung. In diesem Themenfeld besitzt das Buch von Mechthild Roos besonders zwei Vorzüge.
Erstens gibt die Autorin eine einleuchtende Erklärung dafür, warum sich das Europäische Parlament nicht erst nach der ersten Direktwahl 1979 oder den Vertragsreformen zwischen 1986 und 2007, sondern schon davor einen erheblichen Zuwachs an politischem Einfluss gegenüber dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission in der Gesetzgebung, in der Verabschiedung des Etats und in der Kontrolle anderer Entscheidungsorgane zu verschaffen verstand. Sie zeigt zumindest für die europäische Sozialpolitik, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die aus nationalen Parlamenten delegiert waren, von ihren nationalen Erfahrungen ausgingen und daher die gleichen Regeln und Prozeduren auch im Europäischen Parlament durchzusetzen versuchten. Darüber hinaus besaßen sie meist eine positive Vorstellung von der europäischen Integration.
Allerdings nahm der Einfluss des Europäischen Parlaments in der Politik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht linear zu, sondern wurde durch Krisen unterbrochen. Dieser Einfluss begann früher als oft angenommen, und zwar häufig durch informelle Prozeduren und Regeln, die nur in den Interviews fassbar sind und häufig erst später formalisiert wurden. Von der Europäischen Kommission wurde der wachsende Einfluss des Parlaments akzeptiert, weil das Europäische Parlament die Europäische Kommission jederzeit absetzen konnte, aber auch weil es oft politische Übereinstimmungen zwischen Kommission sowie Parlament gab und dabei nicht selten ein Gegensatz zum weniger integrationsfreundlichen Europäischen Rat entstand. Der Europäische Rat nahm den wachsenden Einfluss des Parlaments hin, weil ihm selbst eine direkte demokratische Legitimierung seiner Entscheidungen fehlte und weil er über die Sozialpolitik ein menschlicheres Antlitz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erreichen wollte. Zudem bestanden in vielen Fällen enge persönliche Verflechtungen zwischen dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Parlament – teils weil man sich aus der nationalen Politik kannte, teils weil die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft damals nur wenige Mitgliedsländer umfasste. Mechthild Roos gelingt es damit überzeugend zu erklären, warum es dem Europäischen Parlament vor 1979 ohne die substanziellen Rechte der späteren europäischen Verträge gelang, ein beträchtliches Gewicht innerhalb der europäischen Institutionen zu gewinnen, auch wenn es noch weit vom Einfluss des heutigen Europäischen Parlaments entfernt war. Für die Geschichte des Europäischen Parlaments wird man daher um dieses Buch nicht herumkommen.
Zweitens ist dieses Buch eine gute Ergänzung zu dem Buch von Iris Soldwisch, die das Europäische Parlament in der Epoche danach zwischen 1978 bis 2004 untersucht. Beide Bücher füllen zusammengenommen nicht nur eine empfindliche Forschungslücke, sondern zeigen auch sehr schön, mit welchen unterschiedlichen Methoden man diese Frage angehen kann. Man kommt mit dem Buch von Mechthild Roos auch der Antwort auf die Frage näher, warum unter den internationalen Organisationen, die nach 1945 im Westen Europas miteinander kooperierten und konkurrierten (EWG, Europarat, OECD, NATO, ILO), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft am Ende nicht nur die gewichtigste wurde, sondern auch stärker von einem ambitionierten Parlament kontrolliert wurde.
Insgesamt hat Roos ein genau gearbeitetes, methodisch sehr reflektiertes, dicht am historischen Kontext geschriebenes, originelles, klar argumentierendes und eine wichtige Lücke füllendes Buch über das lange vernachlässigte Thema der frühen Geschichte des Europäischen Parlaments vorgelegt.
Anmerkungen:
1 Iris Soldwisch, Das Europäische Parlament 1978–2004. Inszenierung, Selbst(er)findung und politisches Handeln der Abgeordneten, Hamburg 2021; Richard Steinberg, Das Europäische Parlament in der Krise? Krisenwahrnehmung und Krisendiskurse im Europäischen Parlament in den langen 1970er Jahren (1969–1986), Stuttgart 2024.
2 Vgl. demnächst dazu Mala Loth, Last Stop Luxembourg. Lawyers’ dynamism and the European Court of Justice’s contribution to social equity, c.1970–1990, [Phil. Diss. University] Oslo 2022.