A. Ludwig u.a. (Hrsg.): Jüdische Wohlfahrtsstiftungen

Titel
Jüdische Wohlfahrtsstiftungen. Initiativen jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform


Herausgeber
Ludwig, Andreas; Schilde, Kurt
Erschienen
Frankfurt a. M. 2010: Fachhochschulverlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Werner, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Seit zwei Jahrzehnten wird die deutsche Stiftungsgeschichte intensiver erforscht. Das geschieht mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Forschungsperspektiven. Schwerpunkte sind herausragende Stifterpersönlichkeiten, spezifische Gruppen wie die Juden, bedeutende Einzelstiftungen und das Stiftungswesen in einzelnen Städten. Die Studien konzentrieren sich allein auf das Thema Stiftungen und Mäzenatentum oder sie sind in größere Zusammenhänge eingeordnet, wie in Biographien oder die Untersuchung städtischer Wohlfahrtssysteme. Trotz dieser breiten Palette ist das Forschungsfeld Stiftungen noch keineswegs abgearbeitet. Vor allem dominiert bislang die Sicht auf das 19. Jahrhundert und das Kaiserreich. Die deutsche Stiftungsgeschichte endet aber keineswegs mit der Inflation der 1920er-Jahre und wird auch nachfolgend als Untersuchungsgegenstand nicht uninteressant. Zudem besitzt noch fast jede Stadt und jedes Land einen großen Fundus an Quellen, der der Aufarbeitung harrt und durchaus große Erträge für die Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verspricht. So findet beispielsweise der Einfluss von Frauen auf das Stiftungsgeschehen noch zu wenig Beachtung und es bedarf mehr komparatistischer Studien bzw. solcher, die Einzelaspekte in einer Forschungssynthese zusammenführen. Insofern ist ein Sammelband wie der von Andreas Ludwig und Kurt Schilde herausgegebene zu jüdischen Wohlfahrtsstiftungen sehr zu begrüßen, geht er doch von einer spezifischen Stiftungs- bzw. Stiftergruppe aus, widmet sich aber zugleich grundsätzlichen Fragen und nimmt wenig Erforschtes in den Blick. Dabei soll ihm auch nicht als Manko angerechnet werden, dass der Anspruch der Beiträge zum Teil stark differiert, das heißt von reinen Dokumentationen bis hin zu innovativen Forschungsansätzen reicht.

Hervorzuheben ist der einleitende Aufsatz der Herausgeber. Ludwig und Schilde zeichnen in konziser und prägnanter Form die Entwicklung der „Wohlfahrtsstiftungen“ nach, jener Stiftungen also, die im Bereich der sozialen Fürsorge agieren. Dabei haben Sie vor allem – wie der Band an sich – das lange 19. Jahrhundert im Blick, nehmen aber auch die aus der Sicht der jüdischen Stiftungen wichtige Zeit des Nationalsozialismus mit in ihre Betrachtung auf, markiert die NS-Herrschaft doch das zwischenzeitliche Ende des deutsch-jüdischen Stiftungswesens. Sie würdigen nicht nur die Bedeutung der jüdischen Stiftungen und legen Ihre Wurzeln frei, grundlegend beschreiben sie vor allem, was man überhaupt unter jüdischen Stiftungen zu verstehen hat. Zu unterstreichen ist, dass sie davor warnen, in eine „ex-post-Zuordnung von Stiftungen und Stiftenden als ‚jüdisch‘“ zu verfallen, ohne dass eine „solche Einordnung sachlich oder vor dem biographischen Hintergrund der Betroffenen eindeutig gegeben bzw. solcher Art eindimensional erklärbar wäre“. (S.18) Die Gefahr einer solchen eindimensionalen Betrachtung ist allein mit Blick auf die rassistischen Kriterien der Nationalsozialisten zu vermeiden, wie die Autoren zu Recht feststellen, da Stiftungen von Bürgern jüdischer Abstammung zumal in späteren Zeiten nicht immer ohne weiteres in einem glaubens- und traditionsbezogenen Rahmen verortet werden können oder vordergründige Akte der Emanzipation und Angleichung an die christliche Mehrheitsgesellschaft waren.

Untergliedert ist der Band in drei Teile. Das Schwergewicht liegt auf dem ersten Teil zu den Stiftungslandschaften in Städten und Regionen, wobei allerdings nur Daniel Römer mit der Geschichte eines Waisenhauses in den württembergischen Raum ausgreift. Der erste Aufsatz hier von Dieter J. Hecht gibt einen kurzen Überblick über die jüdischen Stiftungen in Wien und bespricht exemplarisch die Gründung und Entwicklung einiger verschiedenartiger Stiftungen. Werden bei Hecht die Verflechtungen sichtbar, in denen sich Stifter bzw. Stiftungen bewegten (Familien, Kommunalverwaltung etc.), beschreibt Mirosława Lenarcik in ihrem ähnlich angelegten Aufsatz zu Breslau den Zusammenhang von sozialem und ökonomischem Wandel. Sie geht auf die Zunahme der Stiftungsaktivitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein und insbesondere auf die Bedeutung von erfolgreichem Unternehmertum und Wachstum des bürgerlichen Wohlstands, die eine wichtige Grundlage für die Stiftungshochzeit im Kaiserreich waren. Auch Andreas Ludwig bietet in seinem Beitrag zu Charlottenburg einen Überblick des städtischen Stiftungsgeschehens. Darauf aufbauend fragt er danach, wie „jüdisch“ die Stiftungen der jüdischen Charlottenburger waren. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Stiftungen, die erst seit den 1880er-Jahren entstanden, zwar sichtbare Bezüge zu Herkunft und Gemeinde der jüdischen Bürger zeigen, ohne dass sie aber das spezifisch „Jüdische“ in den Vordergrund gestellt hätten. Einzuordnen sind sie vielmehr in die kommunalpolitischen und sozialreformerischen Entwicklungen der Zeit. In ihnen spiegelt sich das „Modell einer aktiven Bürgerschaftlichkeit“ wider (S.95). Angela Schwarz bietet im Folgenden einen detaillierten Einblick in die Aktivitäten jüdischer Stifter im Hamburger Wohnungssektor, das heißt zugunsten von Freiwohnungen und Mietunterstützungen, einem der wichtigsten Stiftungsfelder in der Hansestadt. Schwarz unterstreicht den innovativen und wegweisenden Charakter der jüdischen Stifter in diesem im Laufe der Zeit immer wichtiger werdenden Feld des kommunalen Sozialwesens. Die Begründung dafür findet sie in der jüdischen Soziallehre und einem anhaltend gut funktionierenden jüdischen Armen- und Wohltätigkeitswesen. Zugleich erkennt sie den „ausgeprägten bürgerlich-republikanischen Gemeinsinn“, der aus den jüdischen Stiftungen spricht, und eine Folge der Verbürgerlichung der Juden war. Anschließend stellt Ingrid Schupette die Krefelder Stifterin Rosine Frank und ihre Stiftung vor und Alissa Lange dokumentiert die Geschichte des auf Stiftungen beruhenden jüdischen Altenhauses am Grindel in Hamburg. Daniel Römer beschreibt als letzter in dieser Reihe mit der Entwicklung der „Wilhelmspflege“, als einem vereinsgetragen jüdischen Waisenhaus, die fließenden Übergänge zwischen Vereins- und Stiftungswohltätigkeit. Bemerkenswert an diesem philanthropischen Projekt sind vor allem die unmittelbaren Bezüge zwischen Gründung und staatlichen Aktivitäten schon in den 1830er-Jahren, ja sogar das Fehlen „jüdischer Vorbilder“ (S.179). In der Geschichte dieser regional wichtigen Wohltätigkeitsstiftung erscheint jüdische Philanthropie nicht als etwas vornehmlich Eigenständiges, sondern als Teil einer überkonfessionellen Entwicklung.

Der zweite und dritte Abschnitt umfassen jeweils nur noch zwei Aufsätze. Unter der Überschrift „Betriebsbezogene soziale Stiftungen“ skizziert Kristina Hübener das soziale Engagement der Berliner Unternehmerfamilien Israel und Mosse und Thomas Irmer setzt sich mit den Wohlfahrtseinrichtungen des AEG-Konzerns, insbesondere der „Mathilde Rathenau-Stiftung“ auseinander. Irmer präsentiert die Rathenaus und vor allem Mathilde Rathenau, die Frau des Firmengründers und Mutter von Walther Rathenau, als eine sozialreformerisch engagierte Unternehmerfamilie im Kaiserreich. Das große Potential dieses detaillierten Beitrags liegt darin, Anstöße zu geben für eine weitere Erforschung der Verbindung von Sozialreform, Stiftungswesen und betrieblicher Sozialpolitik und für eine intensivere Beschäftigung mit der scheinbar nicht zu unterschätzenden Rolle von Unternehmerfrauen. Abgeschlossen wird der Band mit dem Untergang der jüdischen Stiftungen im Dritten Reich. Monica Kingreen dokumentiert, wie sich die Frankfurter Stadtverwaltung den jüdischen Stiftungsbesitz einverleibte und bemüht war, sich noch vor dem Zugriff des Reichs möglichst große Vermögenswerte zu sichern. Frankfurt wurde damit vorbildhaft für den Arisierungskurs in den deutschen Kommunen. Diesem Beitrag folgt eine kurze Zusammenstellung amtlicher Dokumente zur Zerstörung des jüdischen Stiftungswesens von Andreas Ludwig.

Ausgangspunkt dieses Bandes war es, „einen Überblick über die gesamte Breite von Initiativen des jüdischen Bürgertums für wohltätige Zwecke“ zu bieten (S.9), was durchaus gelungen ist. Sicher ist damit noch nicht jeder Bereich ausgelotet, in dem jüdische Wohlfahrtsstiftungen aktiv waren. Vielmehr bieten die Studien viele Ansätze für weitere Forschungen und Vergleiche. Der Verdienst dieses Bandes ist es aber vor allem, die jüdischen Stifter und ihre Stiftungen in den Kontext der allgemeinen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts eingeordnet und in ihrer Komplexität erfasst zu haben. So können die religiösen Grundlagen und die Traditionen des Judentums als Stiftungsmotive gewürdigt werden, ohne dass dabei der hohe Verbürgerlichungsgrad der deutschen Juden vernachlässigt wird. Damit wird das philanthropische Engagement deutsch-jüdischer Bürger in allen Facetten sichtbar.

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