Der Herausgeber des Oxford Handbook of Modern German History, Helmut Walser Smith, beschreibt den Grundimpuls des über achthundert Seiten umfassenden Bandes folgendermaßen: Ein Handbuch habe nicht die Aufgabe, die Forschung auf einem Gebiet abzuschließen, sondern diese vielmehr für neue Fragen zu öffnen. Welches sind nun diese neuen Fragen, die durch das Handbuch angeregt werden?
Zuerst und vor allem wird der Versuch unternommen, national beschränkte Narrative über die deutsche Geschichte zu überwinden. Dazu gehört die Behandlung der deutschen Nation als ein Problem. Die Verflechtungen und Wechselwirkungen Deutschlands mit Europa und der Welt rücken ins Blickfeld. Durch weit angelegte Vergleiche soll die Vorstellung eines „deutschen Sonderwegs“ hinterfragt und ein Bild gezeichnet werden, das von einem komplexen Nebeneinander von Unterschieden und Ähnlichkeiten geprägt ist. Kurz, die deutsche Geschichte soll in transnationaler Perspektive behandelt werden. Diese hat sich inzwischen in der Forschung fest etabliert, ist aber als Ausgangspunkt für eine handbuchartige Darstellung der neuesten deutschen Geschichte noch nicht erprobt worden. Eine der Leitfragen des Bandes lautet demnach: Lässt sich aus den vielen Puzzleteilen, welche die transnationale Geschichte der letzten Jahre und Jahrzehnte hervorgebracht hat, schon ein neues Gesamtbild zusammenlegen?
Chancen, aber auch Grenzen eines solchen Versuchs zeigt schon ein Blick auf den Autorenkreis: Deutsche, englische und amerikanische Historiker haben zu diesem Band beigetragen. So sind grenzüberschreitende Perspektiven angelegt. Allerdings fehlen die Stimmen von Historikern aus anderen Gegenden Europas sowie von Autoren, die nicht aus Europa oder Nordamerika stammen. Sie hätten das Spiel der „gekreuzten Blicke“ intensivieren können. Wie groß die Herausforderung ist, zeigt auch die chronologisch angelegte Gliederung des Bandes. Transnationale Geschichte, so zeigt sich auch hier wieder, kann nur im Bezug zu der Größe existieren, die zu überwinden sie angetreten ist – der Nation. Auch wenn die chronologischen Bögen weit gespannt werden, greift die Gliederung des Handbuchs die großen Zäsuren der deutschen National- und Politikgeschichte auf: Zwischen 1760 und 1860 kommen Staat und Nation (noch) nicht zur Deckung. Ab 1870 beginnt dann das „75-year experiment of the German national state“ (S. 7), das 1945 mit der Teilung Deutschlands zu einem vorläufigen Ende kommt. Das Jahr 1989 – mit seiner von Osten nach Deutschland schlagenden Welle der Veränderung – markiert einen nationalen Neubeginn. Interessant ist, dass sich die einzelnen Beiträge des Bandes nur lose in dieses chronologische Gerüst fügen, sich vielmehr daran reiben, indem sie über die genannten Zäsuren hinwegreichen. Dies deutet darauf hin, dass die Betrachtung aus transnationaler Perspektive geeignet sein könnte, die klassische Chronologie aufzulösen – ein Problem, das der Band anschaulich macht, ohne aber Alternativen aufzuzeigen.
Den chronologischen Abschnitten ist ein erster, allgemeiner Teil vorangestellt. Er enthält ausgezeichnete Beiträge über das Alte Reich (Robert von Friedeburg), das eben kein Vorläufer des späteren deutschen Nationalstaates war, über die „Senses of space“, das heißt die Wahrnehmung von lokalen und regionalen Räumen innerhalb Deutschlands (Celia Applegate), sowie über die deutsche Geschlechtergeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Ann Goldberg).
Im zweiten Teil (1760-1860) ist die Zusammenstellung der Beiträge thematisch breiter und sinniger, die Aufsätze sind geschickt miteinander verzahnt. Die großen Säulen der Strukturgeschichte – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur (vor allem Religion und Literatur), Erfahrung und Mentalitäten – werden behandelt, ohne den Stoff einem rigiden Schema zu unterwerfen. Am Anfang der modernen deutschen Geschichte steht im Oxford Handbook of Modern German History weder eine Revolution noch Napoleon, sondern der Krieg: Ute Planert entwickelt in ihrem Beitrag das „Making of Modern Germany“ (S. 91) aus dem Siebenjährigen Krieg heraus, jenem „europäischen Weltkrieg“1, der durch die Mobilisierung breiter gesellschaftlicher Schichten Prozesse der Nationalisierung im Heiligen Römischen Reich anstieß. Der Beitrag von Franz Leander Fillafer und Jürgen Osterhammel ergänzt diese politik-, sozial- und erfahrungsgeschichtlichen Linien durch eine Auseinandersetzung mit dem Kosmopolitismus und der Aufklärung, die in Deutschland im Kontext einer europäischen Ideenzirkulation standen. Jonathan Sperber spinnt einen anderen Faden fort und schildert die Reformzeit, den Vormärz und die 1848-Revolution als Teil einer Atlantischen Revolution im Sinne Robert R. Palmers. James M. Brophys Aufsatz über die „Great Transition“ von der Agrargesellschaft zur Industrialisierung und weitere einschlägige Beiträge runden das Bild der Epoche ab.
In der Mitte der zweiten behandelten Ära (1860-1945) liegt der Erste Weltkrieg, den Benjamin Ziemann nicht als Bruch, sondern als einen „Catalyst of Change“ (S. 378) verstanden wissen möchte. In diesem Abschnitt muss sich insbesondere zeigen, zu welchen alternativen Einsichten eine transnationale Geschichte kommt, welche die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs endgültig zu den Akten legen und Alternativen vorschlagen möchte. Die zunehmende Einbindung des deutschen Kaiserreiches und seiner Gesellschaft in den Weltmarkt ist Thema in den Beiträgen von Cornelius Torp und Adam Tooze. Pieter M. Judson betont, dass der deutsche Nationalismus „remarkably similar“ (S. 520) zu dem anderer europäischer Länder gewesen sei. Sebastian Conrad und Philipp Ther zeigen, wie stark die deutsche Gesellschaft durch Migrationsströme mit der restlichen Welt verflochten war. Dennoch kommt Thomas Mergel zu dem Schluss, dass sich die NS-Diktatur – trotz gewisser struktureller Ähnlichkeiten – von gleichzeitig existierenden, diktatorischen Regimen signifikant unterschied. Somit bleibt die Frage, wie trotz Verflechtung und Zirkulation die Spezifik von Diktatur und Genozid im „Dritten Reich“ zu erklären ist.
Ein Ansatz für eine alternative Lesart könnte das Verhältnis von Imperialismus, nationalsozialistischer Diktatur und Holocaust sein. Andrew Zimmerman unterstreicht die Bedeutung rassistischer Deutungsmuster für die Legitimierung der im Deutschen Reich und seinen kolonialen Peripherien betriebenen ökonomischen Ausbeutung. Zimmerman betont, dass rassistische Denkmuster in allen Imperien der Zeit zirkulierten. Für ihn ist die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eine Fortsetzung kolonialer Denk- und Handlungsweisen (S. 369); doch die Frage, wie genau die Verbindung zwischen außer- und innereuropäischen Gewaltpolitiken zu verstehen ist, bleibt offen. Helmut Walser Smith betont die Spannung zwischen autoritärem Staat und dynamischer Gesellschaft im Kaiserreich. Er bezeichnet das Kaiserreich als eine „failed imperialist power“ (S. 306) und stellt die alternative These in den Raum, dass das Scheitern des deutschen Imperialismus als Ursache für spätere Entwicklungen bis hin zum Holocaust angesehen werden könne. Im Licht dieser gegensätzlichen Hypothesen kann die nationalsozialistische Expansion nach Osten, die William W. Hagen als eine der wichtigsten Ursachen für die Vernichtungspolitik ansieht, entweder als Fortsetzung kolonialer Traditionen oder als der Versuch einer Kompensation vergangener Misserfolge gelesen werden. Die bedenkenswerten Argumente, die von Stephan Malinowski und Robert Gerwarth gegen die These von den kolonialen Wurzeln des Holocaust vorgebracht worden sind2, werden von den Autoren in diesem Teil leider nicht diskutiert.
Der vierte Teil wendet sich dem geteilten Deutschland zwischen 1945-1989 zu und damit einer Zeit, in der die transnationalen Bezüge auf der Hand liegen. Er beginnt mit einem von Stefan-Ludwig Hoffmann verfassten, eindrücklichen Panorama der Erfahrungen des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Seine Ausführungen über die Begegnungen und Erfahrungen der Deutschen mit den Besatzern leiten über zu Andrew I. Ports vergleichender Behandlung von BRD und DDR im Kontext des Kalten Krieges. Mit den Protestkulturen der 1960er-Jahre spricht Uta G. Poiger eine Bewegung an, die nicht nur parallel Ost- und Westdeutschland ergriff, sondern in einem weiten internationalen Kontext stand. Der Teil schließt mit einem Beitrag von Andreas Daum zur Rolle von Bundesrepublik und DDR in der internationalen Politik.
Der fünfte Teil behandelt in drei Beiträgen das wiedervereinigte Deutschland. David F. Patton zeigt, wie sehr die Wende des Jahres 1989 von Faktoren abhing, deren Ursachen außerhalb Deutschlands lagen. Kiran Patel analysiert die deutsche Nachkriegsgeschichte im Kontext der Europäischen Einigung. Abschließend argumentiert William A. Barbieri, dass die deutsche Nation der Nachkriegszeit zu einer „multikulturellen Gesellschaft“ geworden sei - selbst wenn dies mit dem Selbstbild vieler Deutscher nicht in Einklang zu bringen ist.
Es steht zu befürchten, dass der interessierte Laie, der eine Einführung in die neuere deutsche Geschichte sucht, das Oxford Handbook of Modern German History irritiert zur Seite legt. Entstanden ist nämlich ein Handbuch für Fortgeschrittene, das die interessanten Arbeitsfelder der modernen deutschen Geschichte darstellen möchte. Leser, welche mit den etablierten Narrativen und den jüngeren Forschungsdebatten vertraut sind, werden an den kenntnisreichen, zum Teil brillanten und raffiniert verschränkten Texten ihr intellektuelles Vergnügen haben. Sie werden den weiten europäischen und globalen Horizont zu schätzen wissen. Der Reiz des Bandes resultiert aus der Unabgeschlossenheit des Forschungsfeldes der transnationalen Geschichte.
Anmerkungen:
1Sven Externbrink (Hrsg.), Der Siebenjährige Krieg (1756–1763): Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2010.
2Stephan Malinowski / Robert Gerwarth, Der Holocaust als kolonialer Genozid? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466.