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Titel
Kontrollierte Kontrolleure. Die Bedeutung der Zollverwaltung für die "politisch–operative Arbeit" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR


Autor(en)
Goll, Jörn M.
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 044
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Maurer, FB IV, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist auch mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung keineswegs abgeschlossen. Trotz der Fülle der seit dem Mauerfall veröffentlichten Literatur zur DDR und den diesen Staat prägenden Organen stößt der interessierte Leser immer wieder auf Themen, die bei näherem Hinsehen aus wissenschaftlicher Sicht bis dato nur unzureichend oder teilweise überhaupt nicht untersucht wurden. Hierzu zählte bis vor kurzem auch das Themenfeld Zollverwaltung der DDR, dem sich Jörn-Michael Goll in seiner 2011 erschienenen Publikation angenommen hat. Auf den ersten Blick mag diese Forschungslücke nicht sehr verwundern, schließlich zählte die Zollverwaltung mit einem Personalumfang von etwas mehr als 8.000 Mitarbeitern zu den kleinsten unter den „bewaffneten Organen“ der DDR. Im Vergleich dazu brachten es andere Vertreter dieser Gruppe wie etwa die Nationale Volksarmee auf 170.000, oder aber im Fall der Grenztruppen der DDR auf knapp 50.000 Mann. Dennoch nahm gerade die Zollverwaltung eine wichtige Rolle innerhalb der Kontrollorgane der DDR ein, zeichnete sie doch für die Abwicklung des gesamten Personen-, Güter- und Warenverkehrs an den Grenzen der DDR verantwortlich. Die Aufgabe, diesen Personen- und Warenstrom zu durchleuchten, nach bestimmten Vorgaben auszusondern, zurückzuweisen, Beschlagnahmungen durchzuführen oder aber Mensch und Material anderen Organen wie dem Ministerium für Staatssicherheit zu überantworten, machte sie zu einem wesentlichen Bestandteil des Grenzregimes der DDR.

Jörn-Michael Goll setzt sich in seiner knapp 500 Seiten starken Untersuchung fundiert mit nahezu allen Aspekten der Zollverwaltung auseinander. Die Arbeit ist klar gegliedert, nachvollziehbar aufgebaut und ermöglicht einen guten Zugang zu allen Kapiteln ohne dabei Verständnisfragen aufzuwerfen. Lediglich an wenigen Stellen gewinnt der Leser den Eindruck, dass es unter Umständen besser gewesen wäre, zwei Unterkapitel zu einem zusammenzufassen oder anders zu strukturieren. Zu Beginn legt Goll mit der Untersuchung der Entwicklungs- und Organisationsgeschichte der Zollverwaltung einen strukturellen Baustein für das Verständnis aller weiterführenden Abschnitte. Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich mit der Aufgabe, dem Selbstverständnis und insbesondere der „politisch-operativen Arbeit“ des MfS und muss, ebenso wie das vorangegangene, als ein Grundlagenkapitel seiner Arbeit bewertet werden. Der Autor beschreibt hierin unter anderem, welche Personengruppen die Staats- und Parteiführung der DDR zu „Feinden“ abstempelte und insbesondere die Art und Weise, mit der die SED das MfS als Herrschaftsinstrument zur Bekämpfung dieser Feinde einsetzte.

Die Hauptkapitel und den eigentlichen Kern seiner Arbeit bilden die Kapitel vier bis sechs. Diese drei Abschnitte geben detaillierte und fundierte Einblicke nicht nur in die Rolle der Zollverwaltung als Kontrollorgan, die enge Verflechtung mit und Kontrolle durch das MfS, sondern auch in die Art und Weise, wie sich der Dienstalltag der Kontrolleure gestaltete und welche Auswirkungen und „Rückkopplungen“ diese Arbeit auf die Lebenswelt der Zollmitarbeiter hatte. Goll gelingt es im Verlauf dieser Kapitel sehr gut, den von ihm benannten Dreiklang der Zollverwaltung aus „Deckmantel, Handlanger und Erfüllungsgehilfe“ sichtbar zu machen. Die drei Schlagworte bleiben hier keinesfalls Worthülsen, sondern verdeutlichen im Verlauf der Arbeit anhand anschaulicher Beispiele, dass hierin die wesentliche Funktion der Zollverwaltung für die politisch-operative Arbeit des MfS lag. Ob ausgedehnte Kontrollen von Personen und Kfz durch das MfS mit dem Anstrich einer Zollkontrolle, ob Handlanger bei der Kontrolle und Sichtung von Postsendungen, oder aber Erfüllungsgehilfe bei der Nutzung des Zollfahndungsdienstes für Ziele des MfS; die Stasi wusste den Mitarbeitern der Zollverwaltung stets ihren – zugegeben nicht immer freiwilligen – Beitrag zum Grenzregime der DDR zu entlocken. Goll taucht tief ein in den Alltag an den Transitstrecken und sogenannten GÜSt – den Grenzübergangsstellen der DDR –, in die Arbeit der Postzollämter und die Vorgänge des Zollfahndungsdienstes. Nicht zuletzt werden diese Einblicke auch durch eine Vielzahl von Zeitzeugeninterviews sowohl von ehemaligen Mitarbeitern der Zollverwaltung als auch von kontrollierten Reisenden ermöglicht, die Goll in seine Untersuchung mit einfließen lässt und die sich etwa im Fall einer Beschlagnahmung von Zeitschriften an der GÜST Marienborn so niederschlagen: „So, sagt er zu seinen Kollegen, jetzt sucht Euch jeder einen Stapel aus. Ich sagte, Augenblick mal, sag ich, heißt das […] dass Sie die gar nicht beschlagnahmen, sondern dass Sie die privat mit nach Hause nehmen? […] Ich sag, Augenblick mal, das machen Sie in meinem Beisein, wo ich da als Zeuge sitze, verteilen Sie hier an Ihre Kameraden die Bücher? Ja, sagt er, das kannst du doch jedem erzählen, das glaubt Dir doch keiner. […]“ (S. 393).

Kritiker der DDR-Aufarbeitung könnten Goll angesichts der über weite Teile bedrückend, zuweilen auch anklagend klingenden Zeitzeugenaussagen vorhalten, er betreibe tendenziöse Effekthascherei, indem er sich auf die negativen Erfahrungen der Betroffenen konzentriere. Dass er weit entfernt von einer solchen Arbeitsweise ist, zeigt sich bereits darin, dass Goll sich bei seiner Untersuchung keineswegs nur auf die Aussagen von Zeitzeugen stützt, sondern dieser eine umfangreiche und akribische Aktenrecherche zugrunde legt, die die Mehrzahl der kritischen Zeitzeugenberichte untermauern: „Unabhängig davon, ob man den Aussagen des Zeitzeugens Glauben schenken mag oder nicht: Fälle schwerer Korruption bei Zöllnern des GZA Marienborn sind in den Unterlagen des MfS aktenkundig.“(S. 393) In seiner gesamten Betrachtung bedient sich Jörn-Michael Goll – gänzlich dem wissenschaftlichen Anspruch folgend – durchweg einer sachlichen und nüchternen Sprache und lässt an keiner Stelle Raum für einseitige Auslegungen. Gerade in einem eng mit dem MfS verzahntem Themenfeld, dass einer kritischen aber ebenso unvoreingenommenen Untersuchung bedarf, ist seine Publikation spürbar um eine sachliche und objektive Darstellung bemüht. In diesen Zusammenhang passt auch das namensgebende Kapitel seiner Arbeit „Kontrollierte Kontrolleure“. Nachdem er auf die Rolle und Mitarbeit der Zollverwaltung im repressiven System der Partei- und Kontrollorgane der DDR hingewiesen hat, versäumt es Goll auch nicht darauf einzugehen, wie umfassend die Mitarbeiter der Zollverwaltung selbst durch das System kontrolliert wurden. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gelingt es ihm auch hier, ein realitätsnahes Bild vom „durchherrschten Alltag der Zöllner“ wiederzugeben.

Ein Defizit der Untersuchung mag vor allem darin liegen, dass seine Hauptkapitel eine unzureichende Unterteilung der Forschungsergebnisse in die jeweils verschiedenen Zeiträume aufweisen. Die Kapitel folgen in ihrer Gesamtheit zwar dem Zeitraum von 1945 bis 1990, jedoch ist nur der Abschnitt zur Organisationsgeschichte der Zollverwaltung in wesentliche Zeitabschnitte der DDR-Geschichte untergliedert. Viele der wesentlichen Forschungsergebnisse Golls beziehen sich auf einen Sachstand Mitte der 1970er- oder 1980er-Jahre und lassen mangels fehlender Vergleichswerte, etwa Mitte der 1960er-Jahre, keine Analyse einer möglichen Entwicklung zu. Hier wäre – nicht nur für den sachkundigen Leser – eine vergleichende Betrachtung mit anderen Zeiträumen wünschenswert gewesen.

Insgesamt liegt mit Jörn-Michael Golls Publikation nun erstmals eine wissenschaftliche Untersuchung zur Zollverwaltung der DDR vor, die als wichtiger Baustein im Zuge einer Aufarbeitung der DDR und ihrer bewaffneten Organe betrachtet werden darf. Beachtung dürfte seine Arbeit im Besonderen unter den Kennern von „benachbarten“ Forschungsfragen wie etwa zu den Grenztruppen oder dem Grenzregime der DDR finden, da Golls gewonnene Erkenntnisse diese Themen abzurunden und oftmals zu ergänzen vermögen. Aber auch für den nicht sachkundigen Leser dürfte seine Publikation – allein schon aufgrund des Alleinstellungsmerkmals einer ersten sachlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema – durchaus interessant und lesenswert sein.

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