Titel
Material Nation. A Consumer’s History of Modern Italy


Autor(en)
Scarpellini, Emanuela
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
£37.00 / € 48,74
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Maria Gajek, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Im Jahr 2012 verzeichnete Italien den stärksten Konsumrückgang seit 1946 und erlebt damit eine der „schlimmsten Phasen der wirtschaftlichen Geschichte“.1 Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre des Buches der Mailänder Historikerin Emanuela Scarpellini besonders aufschlussreich. Sie zeichnet den Weg Italiens zur Industrie- und Konsumnation seit der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert nach. Dabei visiert sie eine Verbindung von Makro- und Mikrogeschichte an und legt eine lesenswerte Studie vor, die den Blick auf globale Transfers nicht verliert. „Material Nation“, das bereits bei Laterza 2008 auf Italienisch2 erschienen ist, schließt damit das bisherige Desiderat einer Überblicksstudie zur italienischen Konsumgeschichte, die nicht nur für Italien-Historiker von Interesse ist.

In chronologischer Reihenfolge geht Scarpellini der Konsumkultur Italiens vom Risorgimento bis heute nach. Die zeitliche Längsschnittstudie verdeutlicht, dass der „Weg zur Konsumgesellschaft kein linear verlaufender Prozess der Expansion und Partizipation“3 ist, sondern dass es unterschiedliche Formen von Konsumkulturen im Zeitverlauf gab. Scarpellini fragt, welchem Wandel die italienischen Konsummuster seit dem 19. Jahrhundert unterlagen (S. ix). Sie kommt zu dem Schluss, dass sich an die Jahre der großen Transformationen seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg das goldene Zeitalter des Kapitalismus von 1945 bis 1973 anschließt. Abschluss dieser Periodisierung bildet die Epoche seit den 1970er-Jahren, die Scarpellini als Zeit großer ökonomischer und sozialer Krisen beschreibt. Innerhalb dieser Chronologie verfährt die Autorin systematisch: Verbindendes Glied der Epochenanalysen ist ihr Blick auf Klassen, sowie auf geschlechtsspezifische Unterschiede beim Konsum. Ein besonderes Gewicht legt die Autorin zudem auf die Darstellung von regionalen Differenzen: zu Recht. Italien prägen bis heute das Gefälle zwischen reichem Norden und armen Süden (dem Mezzogiorno) und die erheblichen Stadt-Land-Unterschiede, die Einfluss auf den italienischen Konsum von Gütern hatten und haben. Daraus ergibt sich eine fragmentierte Konsumgesellschaft, wie Scarpellini aufzeigt, die abseits nationaler Gemeinsamkeiten, doch unterschiedliche regionale Konsummuster ausbildete.

Anhand der zeitlichen unterschiedlich gelagerten Rahmenbedingungen belegt Scarpellini zudem ihre These, dass Konsum omnipräsent im politischen Handeln der italienischen Regierung war. An solchen Stellen diskutiert sie auch die Frage der Legitimität staatlicher korrektiver Interventionen und der Erhebung von Steuern. Das zentrale Wechselspiel von Überfluss und Mangel hätte noch intensiver thematisiert werden können, um die sozialen Probleme und Konflikte in der italienischen Konsumgesellschaft zu verdeutlichen.4 Eine interessante Verbindung gelingt Scarpellini aber mit der Erörterung des Wechselverhältnisses von Konsumpolitik und Konsumpraxis. So konstatiert sie für die Zeit des Faschismus eine starke Betonung nationaler Produkte von Seiten der Konsumpolitik. Den Kauf italienischer Fabrikate erhob das Regime sogar zum nationalen Konsumideal. Die alltägliche Praxis der italienischen Bevölkerung wurde gleichzeitig von der amerikanisierten Massenkultur bestimmt, die das Regime ebenfalls popularisierte. Es legte damit den Grundstein für die weitere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Rolle der USA in der Konsumkultur Italiens macht Scarpellini besonders für die Zeit des Wirtschaftswunders stark. Neue Produkte und Konsumentenmodelle beeinflussten den Aufbau des zerstörten Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Zeit wurde Konsum zu einem Symbol für Erfolg und soziale Integration und dies, obwohl Italien immer noch in dem Ausgabeverhalten weit hinter den anderen europäischen Ländern stand.

Der deutsche Leser zieht zweifelsohne gedankliche Parallelen zum deutschen Wiederaufbau. Hilfreich sind deswegen die Vergleiche, die Scarpellini an einigen Stellen meist in Relation zu anderen europäischen Ländern anstellt. Gerade an diesen Stellen gewinnt die Analyse an Schärfe. So kommt sie zu dem Ergebnis, dass im Vergleich zu anderen Kulturen Essen und die damit einhergehenden rituellen Praktiken für die italienischen Konsumenten von höchster Priorität und somit ein nationales Kennzeichen seien. Die Herausarbeitung solcher nationaler Spezifika sind Leistungen des Buches. Gleichzeitig weist gerade die Entstehung der Massenkultur in Italien erhebliche Parallelen zur deutschen und englischen Entwicklung auf. Manche von Scarpellini für Italien konstatierten Ergebnisse müssen deswegen viel deutlicher als europäische Dynamiken verstanden werden. Konsumkultur ist ein transnationales Phänomen, dessen Praktiken gerade innerhalb der Klassen von Transferprozessen bestimmt wurden.

Innerhalb ihrer Periodisierung widmet sich Scarpellini den verschiedensten Arten von Konsum und belegt an vielen Beispielen die symbolische Bedeutung des Konsums, sei es beim Kauf von Lebensmitteln oder Kleidung, sei es bei der Nutzung von Verkehrsmitteln oder bestimmten Einrichtungen. Schilderungen über Waren- und Wohnhäuser, die literarisch anmuten und den Leser auf eine Zeitreise mitnehmen, ergänzen die zahlreich zu findenden statistischen Angaben im Buch. Dabei beschreibt sie nicht nur, was wann konsumiert wurde. Eine besondere Stärke des Buches ist es, dass sich Scarpellini auch der Frage annimmt, wie konsumiert wurde. Damit denkt sie auch die kulturelle Deutung und symbolische Repräsentationskraft von Konsum mit und reiht sich in die aktuelle Forschungsdiskussion ein, die zunehmend die kulturalistischen Aspekte des Konsums behandelt. So findet der Leser erkenntnisreiche Ausführungen zur Produktion, aber auch zur Werbung von Produkten. Scarpellini kommt zu dem Schluss, dass Konsumenten und Produzenten Teil desselben Prozesses sind, der kulturelle, politische und ökonomische Funktionen erfüllt.

Leider bleibt bei Scarpellini die Analyse der Konsumdiskurse oft auf Akteure aus Wirtschaft und Politik begrenzt. Einzig bei Ausführungen zur Konsumkritik verweist sie auf Stellungnahmen von Intellektuellen. Gerade hier wäre es von Vorteil gewesen, auch den öffentlichen und medialen Diskurs in die Analyse einzubeziehen, um die Wahrnehmung, Orientierung und Einstellung der Rezipienten zum Konsum zu untersuchen. Gerade die Massenmedien erfahren in ihrem Buch nur geringe Beachtung. Während der Zeitung kaum ein Augenmerk geschenkt wird, begrenzen sich die Ausführungen zu Radio und Fernsehen auf eine deskriptive Ebene und in der Angabe von Nutzerzahlen.

Zu bemängeln ist auch, dass dem Buch Zwischenfazits sowie ein Gesamtresümee, das noch einmal die großen Linien hervortreten lässt, genauso fehlen wie eine Einleitung, die Methoden und Fragestellungen umfassend klärt. Erfolgt im Vorwort keine zusammenfassende Darstellung und Positionierung innerhalb des Forschungsstandes, so webt Scarpellini solche Verweise jedoch in den folgenden Text ein. Das Buch glänzt durch die Verarbeitung breiter internationaler Forschungsliteratur und Theorieansätze. Die Autorin verschließt dabei nicht die Augen vor den Ergebnissen der Forschung jenseits der Grenzen ihres eigenen Faches, sondern arbeitet im besten Sinne interdisziplinär. Und hier sollte auch die Leistung des Buches gesehen werden: Scarpellini legt eine umfassende Überblicksstudie vor, die belesen und anschaulich die Entwicklung Italiens von einem fragmentierten armen und landwirtschaftlich geprägten Land zu einer Industrienation beschreibt, dessen Marken bis heute weltweite Bekanntheit besitzen.

Anmerkungen:
1 <http://www.repubblica.it/economia/2012/09/25/news/confcommercio_consumi_a_picco_il_peggior_trend_dal_1946-43234234/> (16.10.2012).
2 Emanuela Scarpellini, L’Italia dei consumi. Dalla Belle Époque al nuovo millennio, Rom 2008.
3 Christian Kleinschmidt, Konsumgeschichte, Göttingen 2008, S. 12.
4 Vgl hierzu die Anregung von: Manuel Schramm, Konsumgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.7.2011, URL: <https://docupedia.de/zg/Konsumgeschichte_Version_1.0_Manuel_Schramm?oldid=84925> (16.10.2012).

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