Die Studie von Anne-Christin Saß ordnet sich ein in den Kontext verschiedener neuer Forschungszugänge zur Geschichte der Migration und Migrationspolitik und zur Geschichte der sowohl zeitgenössisch als auch von den Historikern häufig simplifiziert als „Ostjuden“ kategorisierten Juden. Zugleich ist sie eine Geschichte der Weimarer Republik und der Metropole Berlin, die sowohl in der Forschung als auch in der Zeit selbst eine herausgehobene Stellung einnimmt.
Seit der Studie von Jochen Oltmer über Migration und Migrationspolitik in der Zeit der Weimarer Republik aus dem Jahre 20061 ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Berlin eine wichtige Stadt nicht nur für die Einwanderung, sondern ebenso für die Durch-Wanderung war. Dass Migrationsgeschichte eben nicht nur von einer linearen Bewegung von einem Ort A zu einem Ort B beschrieben werden kann, bildet den Rahmen der Studie von Anne-Christin Saß. Sie basiert auf einer an der Freien Universität eingereichten und im Zusammenhang des DFG-Projektes „Charlottengrad und Scheunenviertel – Osteuropäisch-jüdische Migranten in den 1920/30er Jahren“ entstandenen Dissertation. Berlin ist bei ihr Kristallisationspunkt der Migrationsbewegungen osteuropäischer Juden in der Weimarer Zeit – vor allem in den frühen Jahren –, und sie macht deutlich, dass es für viele MigrantInnen zunächst nur eine Zwischenstation auf dem weiteren Weg nach Westen sein sollte, Berlin dann aber zunehmend zur „Heimat“ wurde. Pointiert bezeichnet die Autorin dieses Phänomen als „gestoppte Durchwanderung“. Mit der Erweiterung des Blickes auf die Migrationsbewegung selbst fügt sich ihre Arbeit damit nahtlos ein in neuere Ansätze der Migrationsforschung innerhalb der deutsch-jüdischen Geschichte, wie sie jüngst auch Tobias Brinkmann in dem instruktiven Bändchen „Migration und Transnationalität“ verfolgt hat.2
In fünf großen Kapiteln rekonstruiert die Autorin die Kommunikationsräume und Netzwerke der nach Berlin zugewanderten Juden aus Ostmittel- und Osteuropa. Einleitend steckt sie den sozialhistorischen und demographischen Rahmen ab, in dem die Lebenswelt der „Berliner Luftmenschen“ in den 1920er-Jahren entstanden ist und kontextualisiert Berlin als Migrationszentrum der Weimarer Jahre. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren waren nach Schätzungen des Völkerbundes bis zu dreihunderttausend Jüdinnen und Juden aus dem Osten Europas auf der Flucht. Berlin erwies sich dabei zunehmend als Magnet für diese Durchwanderer, die in vielen Fällen zunächst unfreiwillig länger blieben, sich dann in ihrer neuen Umgebung einrichteten und ein dichtes Netz aus Hilfsgesellschaften, Vereinen, Betstuben, Verlagen, jiddischen Publikationsorten und jiddischen Presseinstitutionen aufbauten. Dass sich dies auch kartographisch abbilden lässt, zeigt Ann-Christin Saß in einem nur auf den ersten Blick hin minimalistischen Anhang, in dem sich bei näherer Betrachtung ein vorzügliches Kondensat der Arbeit verbirgt.
Es folgen vier inhaltlich etwa gleichgewichtige Kapitel, in denen die Autorin verschiedene Perspektiven auf die „Umwelt“ der osteuropäisch-jüdischen Migranten eröffnet: Als erstes rückt dabei die Entstehung einer vielschichtigen jiddischen Gemeinschaft in den Blick, die sie auch topographisch analysiert. Hier beschreibt sie, wie sich die Vernetzung der MigrantInnen räumlich niederschlug. Ihre These ist dabei, dass die so beschriebenen „ostjüdischen Orte“ eigentlich als „Orte der Moderne“ (S. 130) anzusehen sind. An diesen Orten manifestierte sich die Veränderung der jüdischen Berliner Gesellschaft räumlich – so beispielsweise, indem eine Vielzahl verschiedenartiger neu entstehender „Kommunikationsräume“ entstand, von Kaffeehäusern über Leihbibliotheken bis hin zu Pensionen. In einem zweiten Schritt folgt die Verortung in der „jüdischen Welt“; Berlin erscheint hier als Ort des Dazwischen, von dem aus sich die MigrantInnen sowohl zurück in ihre Herkunftsorte orientierten als auch nach vorn in die Richtung weiterer Emigrationsziele wie den USA oder Palästina blickten. Im dritten „Umwelt“-Kapitel geht es um die zuweilen schwierigen Beziehungen der Neuankömmlinge mit der einheimischen deutsch-jüdischen Gemeinschaft. Ein angesichts der Originalität der Fragestellung fast zu kurz geratenes Unterkapitel ist dabei der Frage des „Westjudenbildes“ der NeuzuwandererInnen gewidmet. Während die Kategorie der „Ostjuden“ zeitgenössisch wie auch in der Historiographie längst breite Behandlung erfahren hat, lässt sich gleiches mit Blick auf das „Westjudenbild“ ostjüdischer Akteure nicht sagen. Hier zeigt sich ein weiteres Mal das Bemühen der Autorin, differenziert und möglichst vielschichtig zu denken und zu schreiben. Im letzten Kapitel zur Verortung innerhalb der „Umwelt“ geht es um die Positionierungen der ostjüdischen Akteure innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, die doch zumeist distanziert wenn nicht ablehnend den Migranten aus dem Osten Europas gegenüberstand und in den zugewanderten Juden gewissermaßen stellvertretend alle Zuwanderer auszugrenzen bemüht war.
Bei der Lektüre entsteht so ein facettenreiches Panorama einer Diasporakultur, deren Sehnsuchtsort weniger das von den Zionisten propagierte Erez Israel war, als vielmehr die zurückgelassene und verlorengegangene jüdische, oder besser: jiddische Kultur im Osten Europas.
Hier zeigt sich einer der großen Vorzüge der Arbeit, die auf einer multilingualen Quellenauswahl fußt: Die Tatsache, dass die Autorin nicht nur deutschsprachige, sondern obendrein jiddisch- und russischsprachige Quellen ausgewertet hat, eröffnet neue Perspektiven und erweitert unweigerlich den Erkenntnisgewinn.
Die Autorin bewegt sich mit ihrer Studie ganz auf der Höhe der Zeit, wenn sie nicht nur die Situation der jüdischen Migranten in der nicht-jüdischen Umgebung betrachtet, sondern sich auch darein vertieft, die innerjüdische Vielschichtigkeit des Migrationsprozesses und der Migrationserfahrungen zu analysieren. In dieser Hinsicht ist die Konzentration auf einen städtischen Großraum, ähnlich wie es Nicola Wenge für ihre Arbeit über Köln gemacht hat3, ein Vorzug der Arbeit. Gerade diese Fokussierung ermöglicht es, sich intensiver mit dem nahräumlichen Sozialgefüge auseinanderzusetzen und Tiefenbohrungen jenseits des Inklusion/Exklusionsparadigmas zu machen, das in der Vergangenheit häufig Studien zur deutsch-jüdischen und zur Migrationsgeschichte bestimmt hat.
Das in Berlin entstehende Miteinander, in dem sich die Lebenswelt der jüdischen „Luftmenschen“ entfaltete, nimmt sie mit nahezu akribischer ethnographischer Sorgfalt unter die Lupe. Das Bemühen um eine möglichst differenzierte Rekonstruktion der Lebenswelt durch die Zusammenstellung zahlreicher biographischer Beispiele der nach Berlin migrierten Juden aus Ostmittel - und Osteuropa ist damit aber Segen und Fluch zugleich. Denn zuweilen verliert die Leserin den Überblick bzw. den konzentrierten Blick auf das eine, aussagekräftige Einzelbeispiel, das stellvertretend für das Gesamtphänomen stehen könnte.
Möglicherweise ist die Verwirrung der LeserInnenschaft in diesem Punkt aber auch gewollt. Ganz nüchtern und unaufgeregt räumt die Autorin nämlich mittels dieser Methode mit der häufig anzutreffenden allzu homogenisierenden Sicht auf die Situation der jüdischen Zuwanderer auf der einen, der deutschen, bereits assimilierten jüdischen Einheimischen auf der anderen Seite sowie der feindseligen nicht-jüdischen deutschen Gesellschaft auf. In gewisser Weise schreibt sie eine Geschichte der Ursprünge des häufig beschworenen multikulturellen Berlins, dies aber ohne das Pathos der „Goldenen Zwanziger“ zu bemühen oder sich in mystifizierender Sicht vom zeitgenössischen wie zuweilen auch heute anzutreffenden Ostjudenkult gefangen nehmen zu lassen.
Anmerkungen:
1 Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005.
2 Tobias Brinkmann, Migration und Transnationalität. Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte, Paderborn 2012.
3 Nicola Wenge, Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns 1918–1933, Mainz 2005.