Titel
Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815–1914


Autor(en)
Rodogno, Davide
Reihe
Human Rights and Crimes Against Humanity
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 33,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Peisker, IGK Formwandel der Bürgergesellschaft, Universität Halle-Wittenberg

Das Thema militärischer humanitärer Interventionen ist hochaktuell. Die Arbeit des Genfer Historikers Davide Rodogno bietet gerade vor diesem Hintergrund eine willkommene historische Ausweitung des analytischen Blickwinkels auf entsprechende Unternehmungen europäischer Großmächte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich. Dabei liegt Rodognos Fluchtpunkt, explizit im Schlusskapitel, in der Gegenwart und der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen zur gegenwärtigen Praxis der Interventionen. Dies zeugt von Rodognos über das rein Historiographische hinausgehender Expertise, was auch seine Dokumentation über Kofi Annans Rolle als Sondervermittler in Syrien 2012 verdeutlicht.1

Die Arbeit behandelt die Interventionen des 19. Jahrhunderts in chronologischer Reihenfolge. Nach einer prägnanten Einführung folgen zwei Kapitel, in denen der internationale Kontext sowie der Status des Osmanischen Reiches in der Völkergemeinschaft erörtert werden. Danach folgen acht Kapitel, welche die Auseinandersetzungen um die jeweiligen (Nicht-)Interventionen ausführlich darlegen: von der Unabhängigkeit Griechenlands (1821–33) über die Eingriffe im Libanon, Syrien (1860–61) und Kreta (1866–69), die Passivität in der Balkankrise 1875–78, der anschließenden Phase relativer Zurückhaltung (inklusive eines Blicks auf den Spanisch-Amerikanischen Krieg) bis hin zur Nicht-Intervention in Armenien 1909, der zweiten Intervention auf Kreta 1896–1900 und schließlich der gewaltlosen Einmischung in Mazedonien 1903–08. Im Epilog streift Rodogno kurz die Entwicklung seit 1918 und vergleicht seine Befunde abschließend mit aktuellen Interventionen.

Mit dem Gegenwartsbezug ist freilich weder eine normative Positionierung Rodognos verbunden, noch der wissenschaftliche Charakter der Arbeit in Frage gestellt. Vielmehr ist Rodognos Erkenntnisinteresse offen und sein Anspruch eingestandenermaßen selektiv. Die in der Einleitung gestellten epistemologischen Grundfragen lauten, in welchen Zeiträumen an welchen Orten welche Akteure auf welche Art und Weise mit welchen Begründungen zwischen 1815 und 1914 humanitäre Interventionen durchgeführt haben. Rodogno schreibt: „[...] I examine the claims of the intervening states to be aiding humanity, the complexity of state action, the reasons for intervention as well as for nonintervention, and the relationship between public outcry and state action“. (S. 1f.) Er will keine histoire totale oder Ereignisgeschichte der jeweiligen Massaker schreiben. Stattdessen konzentriert er sich auf die „[...] accounts of massacres as European observers and diplomats reported them. It was on the basis of those accounts [...] that European governments decided whether or not to undertake an intervention to save strangers“ (S. 3). Mit Fokus auf Frankreich und das britische Empire erschließt Rodogno diverse Quellensorten: internationale Verträge und diplomatische Dokumente, Parlamentsschriften und politische Reden, Medienberichte, humanitäre Lobbyarbeit, daneben völkerrechtliche Auseinandersetzungen und Doktrinen (S. 2).

Dabei kommen auch Nichtinterventionen in den Blick. Wie Fabian Klose in seiner Rezension zu Rodogno bereits bemerkte, setzt dieser sich von Gary Bass’ Freedom’s Battle2 ab, der sich auf das Verhältnis von Medienöffentlichkeit und tatsächlichen Interventionen im 19. Jahrhundert konzentriert und dabei idealistische humanitäre Motive normativ gegen realpolitische Positionen in Stellung bringt.3 Dagegen ist Rodogno skeptischer. Er möchte zeigen, dass die damaligen Interventionen nicht Ergebnisse von Demokratisierungsprozessen, Pressefreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker waren, sondern zuvorderst mit Blick auf die „conservative venues of the old Concert of Europe’s diplomacy“ (S. 16f.) interpretiert werden müssen.

Der Rückgang der Interventionen Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt Rodogno in seiner Annahme. Weder ein professionalisierter Journalismus (als notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung), noch die ebenfalls beginnenden völkerrechtlichen Kodifizierungsprozesse der Haager Konferenzen waren für eine Intervention ausschlaggebend. Vielmehr war es die spezifische Stellung des Osmanischen Reichs gegenüber dem Konzert der europäischen Mächte bzw. die vielzitierte Orientalische Frage, die sich in diesem Spannungsfeld immer wieder von Neuem stellte. Das europäische Konzert in der klassischen Epoche des Völkerrechts, von Rodogno weniger als Gleichgewicht denn als Direktorium eingestuft (S. 18f.), sicherte zwar weitgehend den Frieden zwischen den Mächten, jedoch auf Kosten anderer Weltregionen, eben auch des Osmanischen Reiches.

Die zivilisatorische Legitimierung spielte dabei eine herausragende Rolle, wobei Rodogno stets auf die Doppelmoral des europäischen Imperialismus hinweist: Auf der einen Seite stand die Unterstützung christlicher Minderheiten gegen die Unterdrückung durch die Osmanen, auf der anderen freilich eine nicht weniger blutige Politik gegenüber den eigenen Kolonien. Die damalige Herabstufung durch die sogenannten Kapitulationen und den Ausschluss der Hohen Pforte aus dem Kreis zivilisierter Nationen aufgrund der muslimischen, angeblich barbarischen Kultur legitimierte die Interventionen zusätzlich und wurde prominent etwa von Benjamin Constant, Richard Cobden, François Guizot, Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill vertreten.

Folglich nahm der humanitäre Topos an völkerrechtlicher Legitimität gegen Ende des Jahrhunderts zu. Schon Wilhelm Grewe hielt fest, „daß das Prinzip der Humanitätsintervention alle anderen Interventionsgründe [...] in wachsendem Maße absorbierte“ und „als Kollektivintervention der Mächte realisiert“ wurde, wobei „es die britische Diplomatie war, die das Instrument der Humanitätsintervention im 19. Jahrhundert in besonders ausgiebigem Maße gehandhabt hat.“4 Rodogno orientiert sich an dieser weiten, heuristischen Interventionsdefinition, in die geopolitische und militärstrategische Überlegungen ebenso einfließen wie öffentliche Debatten und juristische Aspekte der internationalen Beziehungen (S. 20).

In terminologischer Hinsicht vermeidet Rodogno eine ahistorische Verwendung des Begriffs „humanitäre Intervention“. Die damals negativ-sentimental konnotierte Bezeichnung „humanitarian“ wurde unterschieden von Bezeichnungen wie „human“ bzw. „humanity/Menschheit, Menschlichkeit“. Die Begriffe „atrocity“, „massacre“, „extermination“ wurden vor einem anderen rechtstheoretischen Hintergrund verwendet. Die „Rights of Man“ des 19. Jahrhunderts waren stärker kulturell, territorial und national rückgebunden als der universale Menschenrechtsbegriff und hatten wenig mit seiner heutigen strafrechtlichen Normierung gemein (S. 6).

Entsprechend lauten auch Rodognos Schlussfolgerungen im Epilog, in dem er seine Befunde mit Interventionsrecht und –praxis der Gegenwart vergleicht. Er erkennt dabei, vor allem unter dem Stichwort „Responsibility to Protect“, eine stärker universalistisch argumentierende sowie auf Unparteilichkeit bedachte Strategie, wenn es um die Rechtfertigung interventionistischer Politik geht. Zur selben Zeit drohe jedoch eine neozivilisatorische Begründung von Interventionen im Gewand der Bretton-Woods-Institutionen und elitär-paternalistischer Entwicklungs-NGOs (S. 253f., 268ff.). Auch die tatsächlichen Interessen, die eine Intervention letztlich ermöglichten, welche ja noch immer nur von souveränen Staaten durchgeführt werden können, sind nach Rodognos Ansicht weiterhin von sicherheitspolitischen Prämissen geprägt.

Abschließend zunächst ein kurzer formaler Hinweis auf die Fußnote 19 (S. 41) im zweiten Kapitel, die eigentlich zur Anmerkung 28 gehört mit dann entsprechend veränderter Zählweise. Insgesamt handelt es sich jedoch um ein lesenswertes Buch. Die Mischung neuer Erkenntnisse mit diplomatie- und kulturgeschichtlich teilweise Bekanntem unter dem Schlagwort der humanitären Intervention ergibt eine durchaus stimmige Synthese. Besonders der Vergleich mit heutigen Interventionen verdeutlicht den zum Teil nur minimalen Wandel grundlegender Faktoren internationaler Politik. Dieser Befund Rodognos ist zwar konsistent mit seinem deskriptiv-analytischen Ansatz, eine kurze Diskussion normativer (Nicht-)Interventionskonzepte, etwa die pragmatischen Erwägungen des amerikanischen Philosophen Michael Walzer oder pazifistischer Ideen, hätten der abschließenden Diskussion jedoch mehr Tiefe verleihen können. So bleibt Rodognos Fazit realistischen Prämissen verhaftet, obwohl er die Bedingungen weiterer Rechtsentwicklung als gegeben ansieht (S. 275). Wie viele Publikationen zum Thema verwendet Rodogno den Begriff humanitäre Intervention recht undifferenziert, obwohl in Abgrenzung zu zivilgesellschaftlichem oder diplomatischem Handeln, das er ja ebenfalls behandelt, spezifischer von militärischen humanitären Interventionen die Rede sein sollte. Trotz dieser Einwände ist Rodogno ein empfehlenswertes Buch gelungen, das angesichts aktueller internationaler Politik umso bedeutsamer ist.

Anmerkungen:

1 <http://graduateinstitute.ch/home/study/academicdepartments/international-history/all-news/documenting_the_work_of_the_jse_for_syria.html> (24.07.2013).
2 Gary J. Bass, Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008.
3 Fabian Klose, Rezension zu: Davide Rodogno, Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815–1914, Princeton 2012, in: sehepunkte 12 (2012), <http://www.sehepunkte.de/2012/04/20427.html> (24.07.2013).
4 Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl., Baden-Baden 1988 (1. Aufl. 1984), S. 580.

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