Cover
Titel
The Pursuit of the Nazi Mind. Hitler, Hess and the analysts


Autor(en)
Pick, Daniel
Erschienen
Anzahl Seiten
368 p.
Preis
£ 18,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Osten, Universität Heidelberg

Am 30. Juni 1933 wurde in Heidelberg der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik, Karl Wilmanns (1873–1945), fristlos entlassen. Der Ordinarius hatte in der Straßenbahn ein Gespräch geführt, in dem er die Psychopathologie der Mitglieder des Kabinetts Hitler ironisch aufs Korn genommen hatte, und er war dabei belauscht worden. Wilmanns Verhaftung und seine unmittelbar darauf folgende Kündigung hatten fatale Konsequenzen. Statt seiner wurde ein überzeugter Nationalsozialist zum neuen Leiter der Klinik berufen, der sich an den NS-Krankenmorden beteiligte und die von Wilmanns initiierte Prinzhorn-Sammlung zur „Bildnerei von Geisteskranken“ zur Ausstattung der Propagandaausstellungen zur „Entarteten Kunst“ plünderte.

Die wohl früheste psychoanalytische Beurteilung von NS-Verbrechern stammt von Magnus Hirschfeld. Der Sexualwissenschaftler war 1920 von "Hakenkreuzlern" zusammengeschlagen worden und deutete die Affinität seiner Attentäter zu paramilitärischen Männerbünden als Abwehr und Verdrängung. Die ersten Freud-Schüler, die wissenschaftliche und zugleich dezidiert politische Erklärungsmodelle faschistischer Ideologien formulierten, waren Ernst Simmel (1882–1947) und Wilhelm Reich (1897–1957).Reichs Massenpsychologie des Faschismus thematisierte vor allem die psychosexuelle Entwicklung der NS-Anhänger. In der Nachkriegszeit wurde die populärpsychologische Beurteilung der NS-Elite Gegenstand unzähliger Kabarettnummern, Filme und Glossen. Zugleich wuchs auch in Deutschland das Interesse an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem potentiell krankhaften Geisteszustand der Parteiführung. Zu Bestsellern wurden die Berichte von medizinischen und geistlichen Seelsorgern aus den Zellen des Nürnberger Prozesses. 1947 erschienen Douglas Kelleys (1912–1958) 22 Männer um Hitler (die Originalausgabe trug den schlichten Titel 22 Cells in Nurenberg), The Case of Rudolf Hess von John R. Rees (1890–1969) und Henry Dicks (1900–1977), sowie Gustave Gilberts (1911–1977) Nurenberg Diary; alle vier Autoren waren Psychiater. Ein weiterer publizistischer Boom erfolgte in den Siebzigerjahren mit der Veröffentlichung von Walter Langers (1899–1981), 1943 als Geheimbericht erstellten psychoanalytisches Gutachten The Mind of Adolf Hitler und der zeitgleich erschienenen Zusammenfassung der Thesen der Nürnberger Psychiater: The Nuremberg Mind – The Psychology of the Nazi Leaders von Florence Miale und Michael Selzer. Auch diese englischsprachigen Publikationen wurden in Deutschland von großem Medienecho begleitet.1

Ein oft reproduziertes Faksimile versinnbildlicht die Ambivalenz, die viele der Bücher über die psychologische Konstitution der Haupt-Kriegsverbrecher begleitet: Es handelt sich um den Abdruck eines Briefes von Rudolf Hess, in dem der Hitler-Stellvertreter seinen Psychiatern gestattet, seine Krankengeschichte und die in England und Nürnberg an ihm erhobenen Befunde zu wissenschaftlichen Zwecken zu veröffentlichen. Das Dokument verlieh den Publikationen die Aura einer unmittelbaren Nähe zum Täter. Auch das hier besprochene Buch enthält einen Abdruck der Hess-Erklärung und sein reißerischer Titel hebt sich kaum von denen der Nachkriegspublikationen ab. Doch hier enden die Parallelen. Der Autor, Daniel Pick, ist Historiker und Psychiater. Er teilt das Unbehagen über eine Überhöhung der NS-Täter, die unweigerlich aus der intensiven Beschreibung ihrer persönlichen Entwicklung und ihrer psychischen Befindlichkeit entsteht. Ausgangspunkt seiner Studie ist die These, dass die alliierte Sicht auf den Feind maßgeblich auf psychoanalytischen Ideen basierte. Diese hohe Anerkennung einer ebenso jungen wie umstrittenen Disziplin ist in der Tat erklärungsbedürftig.

Zur Einführung schildert Pick den Niedergang der Psychoanalyse in Deutschland – wo die herrschende Lehre ab 1933 durch das Institut für Psychotherapie bestimmt wurde, das nach seinem Leiter, einem Cousin Herman Görings, Göring-Institut genannt wurde – und ihre wachsende Bedeutung in den USA und Großbritannien, dem Zufluchtsland von Anna und Sigmund Freud. Pick schreibt verständlich, und er kennt sich in der deutsch-österreichischen Psychiatriegeschichte ebenso gut aus, wie in der des angloamerikanischen Raums. Divergierende psychoanalytische Konzepte, Schulenbildung und Konflikte werden knapp und treffend erläutert. Mit seiner wissenschaftshistorischen Einteilung wie auch mit der Einbettung in den breiteren kulturhistorischen Kontext setzt Pick Maßstäbe. Nach 1918, schreibt er zu Beginn des Kapitels Madness and Politics, sei eine neue Wissenschaft gefordert worden, mit Hilfe derer sich der Lauf der jüngsten Geschichte erklären und einordnen ließe. Genau das habe die Psychoanalyse für sich in Anspruch genommen.

Der Untertitel des Buches antizipiert zwei Themenbereiche: Hitler und Hess – und die Analytiker. Das führt zunächst zu eigentümlichen Schnitten. Auf die biographischen Skizzen der Psychiater Dicks und Langer folgt fast nahtlos eine ebenso plastische Schilderung der Kindheit und Jugend von Rudolf Hess. Die eigentümliche biographische Gegenüberstellung wiederholt sich am Ende des Buches, wo Pick das Leben von Langner, Dicks und Hess nach dem Ende der Nürnberger Prozesse skizziert. Doch spätestens im vierten Kapitel wird deutlich, dass es dem Verfasser nicht primär um das Denken der Nazis geht, sondern vor allem um die Strategien, mit denen es ergründet werden sollte. Wohlgemerkt – an einer retrospektiven Diagnostik, wie sie jüngst ein emeritierter Psychiater am Beispiel des Bayernkönigs Ludwig II. exerziert hat, ist Pick nicht gelegen. Pick schreibt Psychiatriegeschichte, die bekannten NS-Fälle nutzt er als Anschauungsmaterial.

Exemplarisch stellt Pick die Methoden vor, mit Hilfe derer Psychiater Zugang zu dem 1941 über Schottland abgesprungenen Hess zu gewinnen suchten. In Protokollen die sich in privaten und staatlichen Archiven erhalten haben, fand er nicht nur Hinweise auf eine moderne psychoanalytische Sicht auf den Patienten Hess, sondern auch Einordnungen, die sich an den Konzepten Cesare Lombrosos (1835–1909) und an der viktorianischen Kriminalanthropologie orientierten. Während seine Psychiater die Diagnosen Schizophrenie und reaktive Depression diskutierten, sah Hess sich als Opfer einer Art von Mesmerismus. Jüdische Hypnotiseure würden ihn in den Selbstmord treiben. Nur kurz geht Pick auf die Begeisterung des Hitler-Stellvertreters für Naturheilkunde und Esoterik ein. Das Rudolf-Hess-Krankenhaus in Dresden, die damals größte klinische Forschungsstätte für medizinische Grenzgebiete erwähnt er nicht.

Als weiteres Beispiel dient dem Autor Walter Langers Dossier The Mind of Adolf Hitler. 1943 hatte der Psychoanalytiker aus Cambridge, Massachusetts nahezu alle greifbaren Informationen über die familiären Bindungen des Diktators zusammengetragen. Neben Interviews mit emigrierten ehemaligen Weggefährten fand auch Gossip Eingang in die Studie, die mit der Spekulation beginnt, Hitlers Großvater könne ein illegitimer Spross der Familie Rothschild sein. Das dritte Exempel, anhand dessen Pick die psychoanalytische Sicht auf die NS-Führung untersucht, sind die Akten der Nürnberger Prozesse.

In einem weiteren Kapitel wertet Pick die Beurteilungen faschistischer Führer durch britische und US-amerikanische Politiker aus. Anhand von zeitgenössischen Äußerungen weist er nach, dass die Verhaltensweisen von Mussolini und Hitler zunächst als irrational und anti-wissenschaftlich, und bald nach Kriegsbeginn in psychopathologischen Kategorien aufgefasst wurden. Das geschah im Sinn einer Diagnosefindung, und war Ausdruck des Bemühens, sich die deutsche Entwicklung zu erklären. In propagandistische Aktivitäten flossen die von den Geheimdiensten zusammengetragenen Befunde nur selten ein, wie auch die Flucht von Rudolf Hess zur Verwunderung des Berliner Propagandaministeriums durch die Alliierten nur halbherzig zum Thema gemacht wurde. Zur Anwendung kam das gesammelte Wissen, so scheint es, erst nach Kriegsende, mit Beginn der Reeducation. Die Rolle der Psychoanalyse bei diesem Vorhaben ist Gegenstand eines weiteren Kapitels.

Den Nachweis, dass die Psychoanalyse den Blick auf den Geisteszustand der Nationalsozialsten maßgeblich geformt habe, kann Pick nicht erbringen. Eine Wertschätzung der Geheimdossiers über den engeren Zirkel der Geheimdienste hinaus hält er selbst für unwahrscheinlich. Und dennoch, wer heute die Artikel liest, die Sebastian Haffner in den Dreißigerjahren für den Observer verfasste, oder die Nürnberger Prozessberichte Rebeccas Wests für den Daily Telegraph und schließlich die berühmten Arbeiten Hannah Arendts über den Eichmannprozess, kann die stetig wachsende Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Theorien nachverfolgen. Sie erreichte nicht nur ein intellektuelles Publikum. 1975 erläuterte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel seinen Lesern die seelischen Abgründe Hermann Görings anhand eines Rorschachtests (der Reichsmarschall erkannte aufgerissene Menschenleiber in den Tintenklecksen), ohne eine nähere Erläuterung des Persönlichkeitstests für nötig zu erachten. Im Zusammenhang mit zeitgeschichtlichen Themen konnte die Kenntnis von Methoden aus dem Umfeld der Psychoanalyse vorausgesetzt werden.

Picks Pursuit of the Nazi Mind ist kein weiteres Hitlerbuch, auch wenn der Titel das suggeriert. Vor allem das letzte Kapitel versöhnt mit den (wenigen) lästigen Passagen, in denen sich Picks Interesse an dem untersuchten Hess vor seinen wissenschafts- und kulturhistorischen Untersuchungsgegenstand drängen. Insgesamt weist der Autor nach, wie viele Reminiszenzen der Psychoanalyse in der kritischen Theorie und ihrer Bewertung der NS-Zeit stecken, wie sehr sie Literatur und Filme über diese Zeit prägten, und wie sehr sie bis heute historische Arbeiten beeinflussen.

Anmerkung:
1 Douglas M. Kelley, 22 Männer um Hitler. Erinnerungen des amerikanischen Armeearzetes und Psychiaters am Nürnberger Gefängnis, Bern 1947; John R. Rees (Ed.), The Case of Rudolf Hess. A problem in diagnosis and forensic psychiatry, London 1947; Gustave Mark Gilbert, Nürnberger Tagebuch. Gespräche mit den Angeklagten, Frankfurt am Main 1962; Walter Charles Langer, Das Adolf-Hitler-Psychogramm. Eine Analyse seiner Person und seines Verhaltens, verfasst 1943 für die psychologische Kriegsführung der USA, Wien 1973; Florence Miale / Michael Selzer, The Nuremberg Mind – The Psychology of the Nazi Leaders, New York 1977.

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