Dass „Aufmerksamkeit“ Vorbedingung für Bildung und Lernen ist, gilt als gewiss. Weniger präsent ist, dass mit der Konzeptualisierung von „Aufmerksamkeit“ wichtige Weichenstellungen pädagogischer Theorie und Praxis impliziert sind: Über sie sind pädagogische Institutionalisierungsformen bestimmt und überhaupt verleiht sie pädagogischen Kategorien begrifflich Kontur, zum Beispiel wenn im selbständigen Lernen eine Haltung der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für die eigenen Fähigkeiten oder Probleme mitgedacht wird. Damit gewinnt implizit auch erwünschtes Verhalten von pädagogischen Adressatinnen und Adressaten wie übrigens auch von pädagogisch Handelnden Gestalt. Wenn im schulischen Unterricht bei den Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit für die Erfüllung von Aufgaben hervorgebracht werden soll, dann geht dies nicht zuletzt mit Anforderungen an Lehrende einher, eine Aufmerksamkeit für die Erfüllung und Erfüllbarkeit von Aufgaben durch die Lernenden zu entwickeln.
Die Aufmerksamkeit als Brennglas zu sehen, in dem sich praktikenbezogene und institutionelle ebenso wie kategoriale und theoretische Dimensionen von Pädagogik überlagern, ist der Einsatzpunkt des von Sabine Reh, Kathrin Berdelmann und Jörg Dinkelaker herausgegebenen Sammelbandes zur Geschichte, Theorie und Empirie der Aufmerksamkeit. In 19 Beiträgen (mit einem Gesamtumfang von gut 430 Seiten) wird die Problemstellung der Aufmerksamkeit sowohl in ihrer (kultur-)geschichtlichen Entwicklung als auch in ihrer theoretischen und empirischen „Dichte“ für die Erziehungswissenschaft bearbeitet. Der Band geht über Verkürzungen im pädagogischen Diskurs hinaus. Da ist zum einen die einseitige und affirmative Besetzung von Aufmerksamkeit, die für eine ‚gelingende‘ Praxis nur erzeugt werden müsste. Zum anderen setzt der Band mit einer Kritik an der Engführung von Aufmerksamkeit als pädagogischer Technologie ein, die abblendet, dass und wie „Aufmerksamkeit“ als zentrale kulturelle Praxis der bürgerlichen Moderne überhaupt zu verstehen und zu rekonstruieren ist.
Der erste Teil des Bandes zur Geschichte der Aufmerksamkeit zeigt sehr eindrucksvoll, dass „Aufmerksamkeit“ als zentrales Medium pädagogischer Institutionalisierung zu verstehen ist, in dem sich zugleich Rationalisierung und Normalisierung verschränken. Joachim Scholz beschreibt die pädagogischen Konzeptualisierungen der Aufmerksamkeit von Friedrich Eberhard von Rochow über die Pädagogik der Schulmänner bis zu Johann Friedrich Herbart – unter der Perspektive, dass und wie die Perfektibilität des Subjekts eine Übersetzung und Methodisierung für den schulischen Unterricht erfahren musste. Es ist der Fokus der Aufmerksamkeit, über den es nach und nach gelingt, „Unterricht als eine bedingungsreiche soziale Form zu etablieren, die selbst in der Lage ist, ihre Voraussetzungen (nämlich aneignungsbedeutsame Aufmerksamkeit) herzustellen“ (S. 51). Auch Yvonne Ehrenspeck-Kolasa belegt in ihrem Beitrag zur pädagogischen Beschäftigung mit Aufmerksamkeit in der Aufklärung, dass und wie sich mit „Aufmerksamkeit“ (schon zu dieser Zeit) ein pädagogisches Selbstverständnis und ein systematischer Ansatzpunkt pädagogischen Handelns herausbildet. Bezugnehmend auf das Werk Johann Heinrich Campes wird verdeutlicht, auf welche Art und Weise die Pädagogik der Aufklärung auch die pädagogisch Handelnden in die Pflicht nimmt: Campe entwirft „eine Art Lektüreaufmerksamkeitsrhetorik, die die Leserinnen [seines Ratgebers für Mütter] zu selbstreflexivem Lesen anhält und den aktiven Nachvollzug der vorgeschlagenen Erziehungsregeln zu ermöglichen sucht“ (S. 30).
Deuten sich hier bereits die Konturen einer bürgerlichen Lebensform an, so arbeitet dann Sabine Reh in ihrem Beitrag die normierende und disziplinierende Qualität heraus, welche im Horizont einer sich ausdifferenzierenden Zeit- und Kulturkritik der Moderne um 1900 die Bezugnahme auf (Un-)Aufmerksamkeit kennzeichnet: An Dokumenten zu Handlungsproblemen von Lehrenden in Volksschulen des deutschen Kaiserreichs wird gezeigt, wie „Unaufmerksamkeit“ zunehmend den Kindern als „Fehler“ zugerechnet wird. Rehs These, dass das unaufmerksame Kind kulturell-evolutionär in pädagogischen Praktiken produziert worden sei, wird auch von Julia Labede in ihrem Beitrag zu Montessori zum Thema. Deren pädagogische Entwürfe seien im Spiegel zeitgenössischer Debatten um das Problem einer ‚schweifenden Aufmerksamkeit‘ zu sehen. Sie verdichten sich zu einer Reformpädagogik, in die gleichermaßen Sakralisierung und Normalisierung des Kindes eingehen.
Überzeugen die Beiträge zur „Geschichte“ vor allem dadurch, wie sie die Herausbildung neuzeitlicher Pädagogik im Lichte des Umgangs mit „Aufmerksamkeit“ aufschlüsseln, so bestechen die beiden folgenden Teile „Theoretische Perspektiven“ und „Empirie des Umgangs mit Aufmerksamkeit“ durch die Eröffnung der Frage, wie „Aufmerksamkeit“ systematisch-pädagogisch oder praktisch-reflexiv zum Thema gemacht werden kann und sollte. In kritischer Wendung gegen die Vorstellung eines allmächtigen neuzeitlichen Subjekts arbeitet Roswitha Lehmann-Rommel mit Dewey die Bedeutung (transaktionaler) Prozesse der Erfahrung heraus, in der Aufmerksamkeit Bildung und Forschung ermöglicht. Als Wendung gegen die Vorstellung eines selbstsicheren und autonomen Subjekts lässt sich auch der Beitrag Käte Meyer-Drawes lesen. Ihre phänomenologische Untersuchung der Aufmerksamkeit kehrt ein „Ethos der Sinne“ hervor, das Aufmerksamkeit als ein Wechselspiel von Aktivität und Passivität, von Subjektivität und Objektivität verständlich macht.
Die von Meyer-Drawe angesprochene kritische Wendung gegen die Vorstellung, dass „Aufmerksamkeit“ pädagogisch kontrolliert und erzeugt werden könne, findet ihren Niederschlag in den empirischen Beiträgen des Bandes, die in Bezug auf die von ihnen untersuchen Handlungsfelder fragen, wie sich praktisch Aufmerksamkeitsbildungen vollziehen (mit dem Klassenmanagement befassen sich Diemut Ophardt und Felicitas Thiel; mit dem Verhältnis von Lernen und Aufmerksamkeit im „wayfinding“ Judit Bartel). Dabei ist zu fragen, ob durch diese Ansätze nicht doch wieder implizit die subjektive Verfügung über Aufmerksamkeit reklamiert wird. Überzeugender, weil vorsichtiger erscheinen jene Beiträge, die lokal auf der Ebene einzelner Praktiken des Zeigens ansetzen, um „Aufmerksamkeit“ als Gegenstand von Verhandlungen bzw. Interaktionen zu analysieren (Jörg Dinkelaker, Matthias Herrle).
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Beiträge des Bandes hinsichtlich ihrer Zugänge und ihres erziehungswissenschaftlichen Selbstverständnisses sehr unterschiedlich sind, was nicht als Kritik gemeint ist. Was bedeutet dies für die Arbeit pädagogischer Theorie? Malte Brinkmann versucht in seinem Beitrag, eine Theorie und Empirie der Aufmerksamkeit durch eine sozialphilosophisch angeleitete Praktikenanalyse auszubuchstabieren, die den Anspruch einer „Allgemeinen Pädagogik“ enthält. Ganz anders liest sich der Beitrag von Jochen Kade, dessen kulturgeschichtlich gesättigte Beschreibung von Aufmerksamkeitskommunikation zu Theoretisierungen führt, welche die Reflexivität der an der Aufmerksamkeitskonstruktion Beteiligten zu einem wesentlichen pädagogischen Gesichtspunkt machen: „Um pädagogische Aufmerksamkeitskommunikation […] handelt es sich dann, wenn eine Aufmerksamkeitserwartung im Zusammenhang der Wissensvermittlung an eine Person nicht nur wahrnehmbar wird, sondern auch mit mehr oder weniger großer Intensität kommuniziert wird […].“ (S. 142) Mit der Lektüre des Bandes ist nicht absehbar, ob Aufmerksamkeit zukünftig eher ihren systematischen Platz in einer operativen Pädagogik des Zeigens und Lernens oder in einer Analyse von (pädagogischen) Kommunikationsereignissen erhält, in denen eine Reflexivität auf die Kommunikation eingebettet ist.
Der Teil des Buches zu „Unaufmerksamkeit“ dürfte für die gegenwärtigen Debatten von besonderem Interesse sein und dies vor allem mit Blick auf den (auch wissenschaftlichen) pädagogischen Umgang mit diesem Phänomen. Nicole Becker zeigt, dass Elternäußerungen von potenziellen ADHS-Kindern und die Operationalisierungen von Unaufmerksamkeit in den diagnostischen Manualen für ADHS in einem Missverhältnis stehen: „Für Laien ist es schlichtweg unmöglich, zwischen einer gestörten Aufmerksamkeit als Manifestation eines Aufmerksamkeitsdefizits im Sinne der HKS/ADHS, einer gestörten Aufmerksamkeit als Begleitsymptom einer anderen Störung und Unaufmerksamkeit als temporärem, möglicherweise durch äußere Faktoren bedingtem Phänomen zu unterscheiden.“ (S. 323) Die praktischen Herausforderungen an eine gute Diagnostik steigern sich allerdings, wenn man Nellele Bakkers Beitrag zur Geschichte des Krankheitslabels „Minimal Brain Damage“ (MBD) im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs der 1960er- und 1970er-Jahre hinzuzieht: Wie ist ein Diskurs einzuordnen, der zwischen der Psychologisierung von Aufmerksamkeitsstörungen in psychoanalytischer Tradition und deren Cerebralisierung durch neuere neurologische Perspektiven pendelt? Es ist also höchst relevant, mit welchen begrifflichen Maßstäben und Kategorien die „Unaufmerksamkeit“ (auch wissenschaftlich-disziplinär) vermessen wird. Dabei taucht nicht nur im Verhältnis zur Medizin die „Grenze pädagogischen Handelns“ auf, sondern auch innerhalb pädagogischer Praxis selbst. Das zeigt Kathrin Berdelmann in ihrem Beitrag: In einem individualisierten Unterricht ist es einer Lehrkraft kaum möglich, ein von gegebenen Arbeitsaufträgen abweichendes Aufmerken von Schülerinnen und Schülern nicht als Unaufmerksamkeit zu sehen.
Der hier zur Verfügung stehende Raum reicht nicht aus, um alle Beiträge des Bandes angemessen zu würdigen oder überhaupt vorzustellen; darunter ist auch der letzte Teil des Bandes, der „Interdisziplinäre Anschlüsse“ thematisiert. Dass eben diese Anschlüsse aber sehr wichtig sind, ist unmittelbar einleuchtend: „Aufmerksamkeit“ bringt die Pädagogik in Verbindung mit den Disziplinen der Psychologie, der Medizin, aber auch der Kulturgeschichte im weitesten Sinne einer Geschichte der Moderne (vgl. dazu Crarys Buch zur Aufmerksamkeit1, auf das rege Bezug genommen wird).
Es ist die (kultur-)historisch und systematisch dichte Verhandlung von Aufmerksamkeit, die den vorliegenden Band so lesenswert macht. Pädagogische Praxen und Institutionalisierungsformen erscheinen durch die breite Verortung in einem neuen Licht. Es eröffnen sich Problematisierungsperspektiven, zum Beispiel hinsichtlich der Definitheit einer ‚Krankheit‘ der ‚Unaufmerksamkeit‘, der Modi ihrer Zurechnung oder auch zur kritischen Diskussion der gegenwärtigen Individualisierung des Lernens. Auch die Vorstellung einer pädagogischen Verfügung über Aufmerksamkeit wird mit einem Fragezeichen versehen, wenngleich sich unmittelbar Versuche der Relativierung und Bewältigung dieser Provokation der Pädagogik abzeichnen. Dessen ungeachtet zeigt der Band, dass pädagogische Konzeptualisierungen von Aufmerksamkeit immer auch auf Regime pädagogischen Blickens und Beobachtens verweisen.2 Dass der Band zu keiner einheitlichen pädagogischen Theorie kommt, lässt sich durchaus als Stärke – nämlich als Aufmerksamkeit für die Gefahr von Engführungen – lesen.
Anmerkungen:
1 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.
2 Friederike Schmidt / Marc Schulz / Gunther Graßhoff (Hrsg.), Pädagogische Blicke, Weinheim 2016.