Dieses in Algerien veröffentlichte Buch ist ein bemerkenswertes Zeugnis gemeinsamer Bemühungen algerischer und französischer Autor/innen um die Bewältigung einer konfliktreichen Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht dabei der umstrittene Begriff der „Repentance“ (Reue). Dieses Wort gilt im Französischen einerseits als antiquiert andererseits als Anglizismus, der erst in jüngster Zeit eingeführt wurde. Allgemein üblich ist das Wort „repentir“ (etwas bereuen). Das bezieht sich auf die individuelle Reue für begangene Taten. Es ist daher verständlich, dass Präsident Hollande mit Hinweis auf seine späte Geburt betont hat, dass er nichts getan hat, was er zu bereuen hätte, als er von algerischer Seite auf die „Repentance“ angesprochen wurde. Der Herausgeber des Buchs, der algerische Mathematiker Khaznadar, weist in seinem Beitrag „Élucider, ou se repentir?“ auf die tiefere Bedeutung von „Repentance“ hin und setzt sie mit dem griechischen Begriff „Metanoia“ (Sinneswandel) gleich. Der englische Begriff „change of heart“, den Gandhi oft verwendete, bezieht sich auf einen solchen Sinneswandel. Präsident Chirac hatte 2005 den Mangel an der Bereitschaft zum Sinneswandel auf erstaunliche Weise demonstriert, als er per Gesetz die französischen Historiker dazu anhielt, die französischen Leistungen in den Kolonien insbesondere auch in Nordafrika zu würdigen. Das löste einen Sturm der Entrüstung aus und er musste diese Bestimmungen annullieren. Die Wellen, die dieser Sturm erzeugt hat, haben sich bis heute nicht geglättet. Das vorliegende Buch ist ein Zeichen dafür. Es ist von Autor/innen geschrieben, die zu denen gehören, die die „rechte“ Kritik spöttisch als „Repentants“ bezeichnet.
Die tunesische Philosophin Hélé Béji, die auch das Vorwort zu diesem Buch schrieb, hat in ihrem Buch Nous, décoloniés1, das Khaznadar in seinem Beitrag zitiert, folgende Worte an den Europäer gerichtet: „Ich bin der Mensch der Zukunft. Ich bin besser als Du. Suche den moralischen Schatz, den Du zerstört hast, nicht in Dir, er ist hier, in meinem Herzen. [...] Du bist die Vergangenheit. Ich bin die Zukunft [...] das legitime Kind des Humanismus, den Du zerstört hast. Dein Humanismus ist untergegangen [...] Ich bin die Idee des Menschgeschlechts, die Du verstümmelt hast.“2 (S. 92) Das ist eine deutliche Absage an die mission civilisatrice, die von französischer Seite noch immer hervorgehoben wird. Hier muss der Sinneswandel einsetzen, der von der anderen Seite gefordert wird.
Der algerische Soziologe und Historiker Hassan Remaoun verkündet in seinem Beitrag, dass die Stunde der Historiker gekommen sei, die die Erinnerungen beider Seiten in Betracht ziehen. Er zitiert hierzu die Petition, die er im November 2007 mit vielen französischen und algerischen Kollegen unterschrieben hat und in der die Rede davon war, dass der französische Staat anerkennen müsse, welche Wunden er Algerien durch die Kolonialherrschaft geschlagen habe. Erst auf der Basis dieser Anerkennung könne dann ein Dialog beider Seiten zustande kommen.
Der französische Verleger Francois Maspero setzt in seinem Beitrag „Le Repentir: Un Alibi?“ einen besonderen Akzent. Er hatte als junger Mann in den 1950er Jahren wagemutig mit seinen „Éditions Maspero“ den Protesten gegen den Algerienkrieg eine Stimme gegeben. Heute warnt er vor allzu leichtfertigen Reuebekundungen, die mitunter nur Lippenbekenntnisse seien, die als Alibi dafür dienten, dass man weitermache wie bisher. Diese Bemerkungen Masperos beziehen sich wohl auf die Debatten um die „lois mémorielles“, von denen das Loi Taubira von 2001 das bekannteste ist. Es wurde eingebracht von Christiane Taubira, einer Abgeordneten von Französisch-Guyana und erklärt den Sklavenhandel zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Artikel des Gesetzes besagt, dass dieses Thema in den Lehrplänen der Schulen verankert und zum Gegenstand historischer Forschung gemacht werden solle. Maspero betont, dass Reue keine Kategorie der Historiographie sei und fordert stattdessen die Erkundung der Wahrheit.
Die algerische Schriftstellerin Salima Ghezali nennt ihren Beitrag „L’Improbable Cloture“ (Der unwahrscheinliche Schluss) und schildert die Überlagerung der Erinnerung an den Freiheitskrieg durch die an den algerischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre. Die Gestalten der Henker und ihrer Opfer, der Sieger und Besiegten tauschen ihre Rollen und fügen sich in einen endlosen Reigen ein.
Der französische Historiker und Politologe Olivier Le Cour Grandmaison, der durch seine Bücher Coloniser, Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial3 und La République Imperiale4 bekannt geworden ist, schreibt über „Usages et Mésusages de la Repentance“ (Brauch und Missbrauch der Reue). Er setzt sich insbesondere mit dem Vorwurf des „Communautarisme“ auseinander, der allen jenen gemacht werde, die sich für die Rechte ihrer besonderen Gemeinschaft einsetzten. Der französische Universalismus sei mit solchen Bestrebungen unvereinbar, deshalb würden sie abgelehnt werden. Doch sehen sich ethnische Minderheiten, Flüchtlinge und andere unterprivilegierten Gruppen oft dazu gezwungen, sich zu organisieren, um sich Gehör zu verschaffen. Le Cour Grandmaison bezieht ferner auch Stellung gegen die Polemik, die sich gegen die „Repentants“ richtet. Sie ziele nicht auf eine konstruktive Diskussion ab, sondern richte sich mit großer Feindseligkeit gegen jene, deren Position man angreife. Zu diesen Angreifern zählt Pascal Bruckner, der nicht nur von Le Cour Grandmaison, sondern auch von anderen Autor/innen dieses Buchs zitiert wird. Bruckner hat mit seinem Buch La Tyrannie de la Pénitence. Essai sur le masochisme occidental5 die „Repentants“ grundsätzlich verurteilt.
Die hier vorgestellten Beiträge mögen genügen, um den Wert dieses Buchs zu demonstrieren. Weitere Beiträge stammen von Michèle Bompard-Porte, Francoise Dastur, Seloua Luste-Boulbina und Emmanuel Terray. Das Buch ist zwei Franzosen gewidmet, die als Parteigänger des algerischen Freiheitskampfes eine besondere Bedeutung hatten: Maurice Audin und Francis Jeanson. Audin war ein junger Mathematiker, der in Algerien lehrte und wegen seiner Sympathie für die Freiheitskämpfer verhaftet, gefoltert und ermordet wurde. Seine Tochter wurde später eine geachtete Mathematikerin in Frankreich, die mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet werden sollte. Sie lehnte diese Ehrung ab, weil die französischen Behörden ihrer Familie niemals den Ort der Beisetzung ihrer Vaters mitgeteilt hatten. Francis Jeanson war ein französischer Philosoph, ein Freund Jean-Paul Sartres. Er hatte ein Netzwerk von Unterstützern des algerischen Freiheitskampfes organisiert und war dafür 1960 wegen Hochverrats zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er konnte fliehen und wurde 1966 im Rahmen einer Amnestie begnadigt. Er starb 2009 in Frankreich. Er betonte stets, er habe nur seine Pflicht getan und die Ehre Frankreichs verteidigt.
Anmerkungen:
1 Hélé Béji, Nous, décolonisés, Paris 2008.
2 Ebd., S. 14 [vom Rezensenten ins Deutsche übersetzt].
3 Olivier Le Cour Grandmaison, Coloniser, Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial, Paris 2005.
4 Ders., La République Imperiale. Politique et racisms d‘État, Paris 2009.
5 Pascal Bruckner, La Tyrannie de la Pénitence. Essai sur le masochisme occidental, Paris 2006; engl. Übersetzung: ders., The Tyranny of Guilt, Princeton 2010.