Ch. Sachse: Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945–1989 in Sachsen

Cover
Titel
Ziel Umerziehung. Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945–1989 in Sachsen


Autor(en)
Sachse, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anne Kirchberg, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Heimerziehung in beiden deutschen Staaten ist in den vergangenen Jahren Gegenstand erheblicher Kritik geworden. Für die Betroffenen aus Ost und West wurde mittlerweile jeweils ein Fonds eingerichtet, aus dem Gelder für den Ausgleich von durch die Heimerziehung entstandenen Folgeschäden gezahlt werden. Im Bereich der DDR-Heimerziehung sind bisher vor allem die so genannten Spezialheime erforscht worden.1 Dabei handelte es sich um Einrichtungen, in die Kinder und Jugendliche eingewiesen wurden, die als „schwererziehbar“ galten. Christian Sachse legt mit seiner Publikation nun eine sächsische Regionalstudie zu diesem Einrichtungstypus vor. Ausgangspunkt für eine regionale Erforschung des DDR-Spezialheimsystems ist für Sachse die Tatsache, dass diese die – auch von ehemaligen Betroffenen berichteten – Unterschiede in den Lebensbedingungen in den verschiedenen Heimen erhellen helfen könnten (S. 9). Besonders berücksichtigt werden im vorliegenden Band die Themenbereiche Arbeit der Jugendlichen, schulische und berufliche Bildung sowie die Kosten der Heimunterbringung.

Die Darstellung gliedert sich in fünf Teile. Zunächst beschreibt Sachse die historische Entwicklung des Systems der Spezialheime auf dem Gebiet des heutigen Sachsen von der Nachkriegszeit bis 1989/90. Den Hintergrund seiner Ausführungen, die sich vor allem auf Verwaltungsakten zur DDR-Jugendhilfe des Ministeriums für Volksbildung stützen, bilden die bereits veröffentlichen Erkenntnisse zur Gesamtentwicklung des Spezialheimsystems der DDR (S. 23–80). Der zweite Teil enthält Ausschnitte bzw. Paraphrasen aus Interviews mit ZeitzeugInnen, die vor allem in den 1980er-Jahren in sächsischen Spezialheimen untergebracht waren (S. 81–94). Es folgt ein Exkurs zu bisher im Band nicht betrachteten Heimformen und zu den Kosten der Heimunterbringung (S. 95–110). Den weitaus umfangreichsten Teil des Bandes stellt ein Verzeichnis der Spezialheime auf dem Gebiet des heutigen Sachsen dar (S. 111–244). Den Abschluss bildet ein Überblick über Daten und Entwicklungen der DDR-Jugendhilfe sowie die Darstellung statistischen Materials zur Entwicklung der Spezialheime in Sachsen auch im Verhältnis zur DDR-weiten Entwicklung (S. 245–268).

Sachse beschreibt, dass zunächst auch in Sachsen auf die Jugendwohlfahrtsstrukturen der Weimarer Republik zurückgegriffen wurde. Zugleich seien Anknüpfungsversuche an Reformideen der Weimarer Republik unternommen worden. Dabei sei letztlich ein System entstanden, in dem die Spezialheime eine „Zwitterstellung […] zwischen Straf- und Erziehungsanstalten“ (S. 25) innehatten, da Zuweisungen aus dem Bereich der Jugendstrafrechtspflege und der Jugendhilfe stattfanden. Bedenken gegen eine Vermischung von strafenden und erziehenden Einrichtungen seien zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Damit entwickelten sich die Jugendwerkhöfe zu Einrichtungen, in denen sich Jugendliche mit stark heterogenem Problemhintergrund befanden und in denen zeitlich unbegrenzte Erziehungsmaßnahmen an die Stelle von zeitlich begrenzten Rechtsfolgen für Straftaten traten. Unberücksichtigt bleibt hier, dass bereits während der Weimarer Republik auch im Jugendstrafvollzug so genannte erzieherische Elemente vorgesehen waren und bereits die seit den 1940er-Jahren eingeführte unbestimmte Verurteilung eine solche Vermischung gebracht hatte. Insofern reicht die Diskussion über die Grenzen von strafenden und erziehenden Einrichtungen sowohl zeitlich als auch geografisch weit über die DDR hinaus.

Für die Entwicklung in Sachsen konstatiert Sachse eine vergleichsweise frühe repressive Tendenz. So sei hier mit dem Jugendwerkhof in Königstein beizeiten eine geschlossene Einrichtung der Jugendhilfe etabliert worden (S. 24). Ab Mitte der 1960er-Jahre diente dann der geschlossene Jugendwerkhof im sächsischen Torgau als „Endstation“ für renitente Jugendliche (S. 56). Auch habe sich schon bald eine Konzentration von Jugendwerkhöfen und später auch allgemein von Spezialheimplätzen auf sächsischem Gebiet gezeigt. Diesen Umstand erklärt Sachse mit der Tatsache, dass (das ehemalige) Sachsen das bevölkerungsreichste Gebiet der DDR und eines der industriellen Zentren „mit allen sozialen Folgeerscheinungen“ (S. 25) gewesen sei.

Die erste strukturelle Festigung der DDR-Heimerziehung, die Sachse Anfang der 1950er-Jahre verortet, zeigte sich in der bis zum Ende der DDR gültigen Einteilung der Heimtypen und der Zurückdrängung der privaten, vielfach konfessionellen Einrichtungen. Nun wurde in „Normalheime“ und „Spezialheime“ untergliedert (S. 39). Die Verstärkung der ideologischen Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen und die Einführung einer Heimpädagogik nach den Ideen Makarenkos seien ebenso erfolgt wie die Umdeutung des Erziehungsrechts der Eltern in eine staatlicherseits definierte Erziehungspflicht (S. 39ff.). Die Einweisung in die Heimerziehung sei nicht mehr durch unabhängige Gerichte, sondern durch die Entscheidung untergeordneter Behörden erfolgt (S. 43). Hier resümiert Sachse, dass auf diese Weise für die Betroffenen und ihre Familien „undurchschaubare Verfahrenswege“ (S. 43) entstanden seien.

Als eine zentrale Methode der „Umerziehung“ auch in sächsischen Spezialheimen beschreibt Sachse die so genannte Arbeitserziehung. Damit greift Sachse zugleich wichtige Aspekte des Alltags in den Spezialheimen auf. Die Nutzung der Arbeitskraft der Jugendlichen sei, auch wegen des chronischen Arbeitskräftemangels der Betriebe, von Anfang an zentral gewesen. So wurde schon Ende der 1950er-Jahre unter anderem im Jugendwerkhof Crimmitschau ein heimeigener Industriebetrieb aufgebaut und es wurden Außenstellen von Jugendwerkhöfen zum Beispiel in Freital oder im Braunkohlegebiet um Hoyerswerda gar eigens gleichsam „produktionsnah“ errichtet (S. 50ff.). Damit seien die Jugendwerkhöfe ein „billiges Arbeitskräftereservoir für die Industrie“ (S. 53) gewesen. Schul- und berufliche Bildung wurden oftmals auf deutlich geringerem Niveau angeboten als es außerhalb der Heime üblich war (S. 45f.). Trotz zeitweiser interner kritischer Diskussion beschreibt Sachse das Beschränken einer beruflichen Ausbildung auf Teilfacharbeiterabschlüsse und das oftmalige Verrichten von Hilfsarbeiten durch Jugendwerkhof-Insassen als bis zum Ende der DDR übliche Praxis (S. 65ff.). Die Kosten ihrer Heimunterbringung mussten die Betroffenen selbst aus ihrem Lohn für die geleistete Arbeit bzw. deren Eltern bestreiten (S. 104ff.).

Interessanterweise kann Sachse ab Mitte der 1980er-Jahre Ansätze eines „gewissen Wandel[s]“ (S. 73) bezüglich des Selbstverständnisses der Spezialheime belegen. Zunehmend seien – zumindest auf der Diskussionsebene – die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten bei schulischen und psychischen Problemen der Kinder und Jugendlichen und weniger bei deren mangelhafter familialer Erziehung verortet worden. In praxi führte das laut Sachse allerdings nicht zu einer Umorientierung der Heimerziehung (ebd.). Die Anzahl der Erziehenden der bis dahin personell schlecht ausgestatteten Heime sei zwar mancherorts erhöht worden, jedoch habe eine erhebliche Fluktuation auf Grund der schlechten Arbeitsbedingungen bestanden. Von einer Verstärkung der Förderung der Kinder und Jugendlichen könne demnach nicht ausgegangen werden (S. 74f.). Ein Wandel der Heimerziehungskonzepte und -praxis war damit in der DDR offenbar, anders als es in der Bundesrepublik seit Ende der 1960er- und im Verlaufe der 1970er-Jahre zunehmend der Fall war, nicht zu verzeichnen.

Wenngleich die Untersuchung vor allem auf Verwaltungsakten zurückgreift, werden besonders die Erkenntnisse zum Heimalltag durch die von Sachse geführten Interviews mit Betroffenen der damaligen Spezialheimerziehung gewinnbringend ergänzt. Sie schildern überwiegend eine bedrückende Lebenssituation in den Einrichtungen, die von Tagesabläufen mit militärischen Elementen, dem Vorrang des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen ebenso geprägt war wie von demütigenden Aufnahmeritualen und der Androhung einer Überführung nach Torgau (S. 81ff.).

Im nach Orten gegliederten Verzeichnis der Heime in Sachsen legt Sachse wichtige Erkenntnisse zur Struktur der regionalen Spezialheimlandschaft vor. Hier wurden mitunter auch so genannte Normalheime, wie Kinderheime und Jugendwohnheime aufgenommen. Es finden sich zum Teil ausführliche Beschreibungen der jeweiligen Heimgeschichte, Berichte über „besondere Vorkommnisse“ und Hinweise zu Lebensbedingungen in den jeweiligen Heimen.

Der Band vermisst somit die DDR-Spezialheimlandschaft auf dem Gebiet des heutigen Sachsen und ordnet ihre Entwicklung in den Kontext der Entwicklung der DDR-Jugendhilfe ein. Damit bietet er Betroffenen der damaligen Jugendhilfe und mit der Materie befassten beratenden oder prüfenden Behörden ebenso wie weiteren historischen Forschungsvorhaben eine profunde Grundlage. Was die Beschreibung der Entwicklung der DDR-Jugendhilfe und der Lebensbedingungen in den DDR-Spezialheimen betrifft, ergänzt der Band die bereits bestehenden Erkenntnisse um sächsisch-regionale Aspekte und geht bezüglich seiner thematischen Schwerpunkte über den bisherigen Wissensbestand zum Themenkomplex der Spezialheime der DDR hinaus.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Gerhard Jörns, Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR, Göttingen 1995; Verena Zimmermann, „Den neuen Menschen schaffen“. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990), Köln 2004; Christian Sachse, Spezialheime der DDR-Jugendhilfe im Land Brandenburg. Orte und Einrichtungen. Im Auftrag der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg, Potsdam 2011.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension