L. C. del Valle: Los hijos del poder

Titel
Los hijos del poder. De la élite capitular a la Revolución de Mayo. Buenos Aires 1776–1810


Autor(en)
Laura Cristina del, Valle
Erschienen
Buenos Aires 2014: Prometeo Libros
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
$ 42.19
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Biersack, Instituto de Altos Estudios Sociales, Universidad Nacional de San Martín

Im kolonialen Spanisch-Amerika waren Stadträte (Cabildos) eine der zentralen Herrschaftsinstitutionen. Sie gelten in der Forschung als die einzige Institution, in der die Bewohner der spanischen Kolonien ihre Interessen gegenüber der Krone artikulieren konnten. Deshalb spielten sie in den Unabhängigkeitsbewegungen Spanischamerikas eine zentrale Rolle. Der Cabildo von Buenos Aires ist von besonderem Interesse, weil die Stadt am Río de la Plata sich im 18. Jahrhundert zur dynamischsten und am schnellsten wachsenden in Spanisch-Amerika entwickelte. Mit der Monographie Laura Cristina del Valles liegt zum ersten Mal eine umfassende Untersuchung des spätkolonialen Cabildo von Buenos Aires vor, die Institutionengeschichte mit Elitenforschung und der Analyse politischer Praxis verknüpft.

Zu Beginn des Untersuchungszeitraums hatte der Cabildo von Buenos Aires eine zentrale Machtposition inne, die durch die Ferne der Audiencia (Oberster Gerichtshof mit weiteren Verwaltungsaufgaben) in Charcas und des Vizekönigs in Lima nur wenig eingeschränkt war. Dies änderte sich, als im Zuge der bourbonischen Reformen das Vizekönigreich Río de la Plata errichtet wurde. Seitdem suchte der Cabildo die Autorität der Vizekönige zu untergraben, um die eigene Entscheidungsgewalt auf Bereiche und Territorien auszuweiten, die seine Kompetenzen überschritten. Letztlich, so del Valle, strebte der Cabildo danach, nicht nur die Stadt, sondern das Vizekönigreich zu regieren.

Im ersten und zweiten Teil der Monographie stellt del Valle überzeugend dar, dass der Cabildo als Institution nicht unabhängig von der in ihm vertretenen lokalen Elite – der „élite capitular“ – untersucht werden kann. Diese setzte sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegend aus Großhandelskaufleuten zusammen, von denen viele aus Spanien nach Buenos Aires eingewandert und dort mit der lokalen Elite verschmolzen waren. Das interessanteste Kapitel ist die Analyse politischer Praxis im dritten Teil des Buches, in dem die Autorin einigen Annahmen der nationalen Geschichtsschreibung Argentiniens vor allem für die letzten Jahre der Kolonialzeit widerspricht. Dies betrifft zum Beispiel den Vizekönig Marqués de Sobremonte, den del Valle als Vertreter der bourbonischen Reformpolitik darstellt, der den Einfluss der Korporationen schwächen und die zentrale Herrschaftsgewalt stärken wollte. Deshalb wandte er sich auch entschieden gegen das Bestreben des Cabildos, die eigenen Kompetenzen auf Kosten anderer Institutionen, vor allem des Vizekönigs, auszuweiten. Der Konflikt gipfelte schließlich in der auf Initiative des Cabildos betriebenen Entmachtung Sobremontes nach der englischen Invasion 1806. Das bis heute von ihm gezeichnete Bild eines unfähigen Vizekönigs wird von del Valle korrigiert und auf die Kritik des Cabildos an seinem Regierungsstil zurückgeführt. An Politik und Scheitern Sobremontes wird nach Ansicht del Valles nicht nur die Scharfsichtigkeit dieses so geschmähten Vizekönigs, sondern auch die (von ihm erkannte) Widersprüchlichkeit der spanischen Reformpolitik deutlich, die zwar das Ziel verfolgte, den königlichen Zentralismus zu stärken, gleichzeitig aber in Konfliktfällen den Cabildo begünstigte und die Träger der eigenen Reformpolitik, die Vizekönige, in die Schranken wies. Hier wäre zu fragen, inwieweit der Thronwechsel von Carlos III. zu Carlos IV. zu einer Änderung in der Reformpolitik mit Auswirkungen auf die Konstellation König – Vizekönig – Cabildo führte. Wie del Valle beschreibt, ging Carlos III. 1778 entschieden gegen den Cabildo vor, als dieser gegen die Ernennung Juan José de Vértiz y Salcedos zum Vizekönig opponierte. Ab diesem Zeitpunkt lehnte sich der Cabildo nicht mehr gegen königliche Entscheidungen auf, erhielt umgekehrt aber die Unterstützung der Krone, sodass del Valle von einem informellen Pakt zwischen Cabildo und König spricht, der sogar bis in die Zeit der Gefangenschaft Fernando VII. fortbestand. Da die teilweise weit über die Kompetenzen des Cabildo hinausgehenden Angriffe auf die Politik der Vizekönige in die Zeit Carlos IV. fallen, könnte der Thronwechsel hier durchaus relevant gewesen sein.

Weiterhin bemerkenswert ist del Valles Interpretation der Mairevolution 1810 als Bruch mit den traditionellen Formen politischer Praxis der kapitularen Elite. Indem sie im ersten Teil der Monographie die jeweiligen Mitglieder des Cabildos den entsprechenden „politischen Familien“ (famílias políticas) zuordnet, kann del Valle hier sehr überzeugend belegen, wie der Cabildo als typische Korporation des Ancien Régime nicht als Vertretung politischer Individuen funktionierte. Die Mitglieder des Cabildo gehorchten Familieninteressen und waren austauschbar, wenn der Einfluss der jeweiligen Familie durch einen anderen Vertreter gewahrt blieb. Diese Praxis funktionierte in den Tagen der Mairevolution nicht mehr, als Mitglieder derselben Familie unterschiedliche Voten abgaben, wem die politische Autorität zu übertragen sei: dem Vizekönig, dem Cabildo oder einer Junta. Hier sieht del Valle zum ersten Mal politische Individuen auftreten, die auch nach persönlichen Überzeugungen und nicht primär nach Familieninteressen (élite capitular) oder korporativen Interessen (Cabildo) entschieden, was die Autorin als Merkmal der politischen Moderne kennzeichnet. Konsequenterweise verlor der Cabildo und die in ihm vertretene Elite genau in diesem Moment an Macht, als die Praxis, mit der sie sich reproduzierte und auch an der Macht perpetuierte, durch ihre eigenen Mitglieder, „die Kinder der Macht“ (los hijos del poder) aufgebrochen wurde. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass genau diese Dissidenten der kapitularen Elite mit der Einrichtung der Regierungsjunta das erreichten, was der Cabildo im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts angestrebt hatte: die Ausweitung seiner Regierungskompetenz auf das gesamte Vizekönigreich.

Del Valle stellt die Entwicklung im Mai 1810 und ihre Vorgeschichte sehr überzeugend aus der Perspektive des Machtkampfes zwischen Vizekönigen und Cabildo dar, wobei sie auch das Auftauchen moderner Formen politischer Praxis berücksichtigt wie die Einbeziehung des Volkes (pueblo) als Druckmittel beziehungweise als Legitimation politischer Entscheidungen im Moment der Krise der Monarchie seit 1808. Allerdings hätten in der Analyse noch weitere Akteure mit divergierenden Interessen Berücksichtigung finden können, die ebenfalls Einfluss auf die Ereignisse im Mai 1810 hatten. So bleiben die Grundbesitzer (Hacendados) unberücksichtigt, deren Interessen denen der im Cabildo vertretenen protektionistischen Kaufleute teilweise widersprachen. Während die Hacendados eine Öffnung des Handels favorisierten, versuchte der Cabildo ebendiese zu verhindern. Die Niederlage des Cabildos im Machtkampf mit den Milizen der Patricios – bei denen die Hacendados großes Gewicht hatten – könnte die Bedeutung der agrarischen Elite weit über 1810 hinaus gesichert haben.1 Berücksichtigung hätte auch die Rolle der „Plebeyer“ (Lyman L. Johnson) finden können, der kleinen Handwerker und Händler, die aufgrund der tiefgreifenden Transformation von Buenos Aires während der späten Kolonialzeit zu einem neuen Machtfaktor der politischen Praxis wurden. Im frühen 19. Jahrhundert ließen sie sich als Masse (pueblo) mobilisieren und stellten auch die Rekrutierungsbasis der Milizen dar.2

Insgesamt werden in del Valles Untersuchung des Cabildos und der in ihm ausgehandelten Konflikte Strukturen deutlich, die über die eigentliche Institution und auch über die späte Kolonialzeit hinausweisen, wie zum Beispiel der Gegensatz zwischen der Metropole Buenos Aires und den Provinzen, der zu einem Gegensatz zwischen Föderalisten und Unitariern wurde, oder wie das Auftreten von Caudillos, die die mobilisierten Massen lenken konnten. Damit ist del Valles Monographie für die Geschichte der Unabhängigkeit allgemein und auch für die Geschichte Argentiniens im 19. Jahrhundert von besonderem Interesse.

Anmerkungen:
1 Mariano Schlez, El bando de los opresores. La derrota política y social de los contrarevolucionarios en Buenos Aires (1810–1816), in: Historia Caribe 16 (2010), S. 105–126.
2 Siehe: Lyman L. Johnson, Workshop of Revolution. Plebeian Buenos Aires and the Atlantic World, 1776–1810, Durham 2011.

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