Die Technik - ein Daemon, ein Heilsbringer? Oder etwas grundsaetzlich Wertneutrales? Ein "Kulturfaktor"? Oder Objekt blosser "materieller Zivilisation"? Wer stellt sich ueberhaupt solche Fragen? Wer streitet warum und zu welcher Zeit ueber derartige Deutungen? Und welches Selbstbild kultiviert hierbei die Technische Intelligenz, die, je nach Sichtweise, als autonome Urheber oder Medium oekonomischer und politischer Interessen durch ihre Arbeit zum technologischen "Fortschritt" bzw. der technologischen "Drift" ja nicht unerheblich beitraegt? Aendert sich dieses Selbstbild in Umbruchsphasen oder bleibt es konstant? Was bedeutet dies, und was laesst sich hieraus schliessen?
Die Autoren des Sammelbandes "Technische Intelligenz und Kulturfaktor Technik" befassen sich mit den Entstehungsbedingungen, Hintergruenden und Wandlungen in der Selbstbeschreibung einer sozialen Formation, die durch ihre gemeinsame Herkunft, ihre Herausbildung im Verlauf der industriellen Revolution bestimmt ist: der "Technischen Intelligenz", insbesondere den Ingenieuren in Deutschland.
Die einzelnen Beitraege schlagen dabei einen zeitlichen Bogen vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Entwicklung und Wandel des Selbstbildes der Ingenieure werden dabei in Bezug gesetzt zu gesellschaftlichen und mentalitaetsgeschichtlichen Entwicklungsprozessen und Umbruchsphasen zwischen Kaiserreich und frueher Bundesrepublik.
Dementsprechend ist der Sammelband konzipiert als eine Studie zur Mentalitaetsgeschichte der Technischen Intelligenz sowie zur Technikrezeption und politischen Kultur in Deutschland zwischen Kaiserreich und frueher Bundesrepublik. Als Ausgangspunkt des Sammelbandes und verbindendes Element zwischen den einzelnen Beitraege fungiert dabei die Frage nach der Bedeutung der nahezu ein Jahrhundert alten Debatte um die Einschaetzung der Technik als "Kulturfaktor". Entstehung und Dauer dieser Debatte werden dabei als charakteristisch fuer die deutschen Bildungseliten und ihre Sozialisierung durch eine humanistische und idealistische Philosophie gedeutet.
Ziel des Buches ist dabei nach Willen der Herausgeber, zu analysieren, wie die Kulturfunktion der Technik als zentrales Theorem der Ingenieure fuer gesellschaftliche Anerkennung und sozialen Aufstieg nutzbar gemacht wurde: Um gesellschaftliche Anerkennung bemueht, haben die Ingenieure schon im 19. Jahrhundert, waehrend des Entstehungsprozesses ihrer Disziplin die Definition der Technik als Kulturfaktor aus standespolitischen Gruenden betont, um sich innerhalb der idealistisch geschulten Elite des Kaiserreiches verorten zu koennen - unter Abgrenzung von der als minderwertig erachteten Welt der materiellen Zivilisation. Darueber hinaus wurde die Argumentation von der Technik als "Kulturfaktor" auch in spaeterer Zeit beibehalten: Gegenueber der Kultur- und Gesellschaftskritik der 20er Jahre ebenso wie angesichts der Funktionalisierung der Technik im Nationalsozialismus, aber auch bei der Legitimation der Einfuehrung neuer Leittechnologien. Nach 1945 eignete sich das Motiv der "Kulturfunktion" der Technik, unter Verweis auf eine vermeintliche, insbesondere politische Wertneutralitaet der Technik, nicht zuletzt als eine Selbstrechtfertigung fuer die allzu reibungslose Einordnung der Technischen Intelligenz in den NS-Staat.
In vier, inhaltlich wie chronologisch voneinander abgegrenzten Abschnitten setzen sich die Autoren des Sammelbandes mit dem Thema auseinander. Nach einem Einleitungskapitel, das die Thematik erlaeutert, untersuchen die Beitraege des ersten Teils, "Kulturfortschritt oder Kulturdeformation" die Genese der Auseinandersetzung um die Technik als Kulturfaktor seit dem 19. Jahrhundert.
Fuer die Bemuehungen der Technischen Intelligenz hat sich der Rueckbezug auf die Geschichte, die Konstruktion ehrwuerdiger Traditionen bis in die aelteste Vergangenheit ebenso wie eine museale Praesentation neuester technischer "Errungenschaften" als bedeutsames Affirmationsmedium herausgestellt. Dementsprechend setzt sich der zweite Abschnitt mit dem Anspruch vieler Ingenieure auseinander, die die Technikhistoriographie als Teil einer umfassenden Kulturgeschichtsschreibung verstanden wissen wollten. Diese Art der "Kulturgeschichte" sollte nach dem Willen geschichtsinteressierter Ingenieure freilich weniger der kritischen Analyse der Folgen und insbesondere der oekonomischen, politischen und sozialen Voraussetzungen technologischer Prozesse, sondern vorwiegend dem Nachweis der eigenen Kulturleistungen dienen.
Fuer die Zwischenkriegszeit wird im dritten Abschnitt, am Beispiel der Technokratiebewegung und zweier Biographien das Spannungsfeld zwischen einer politisch oftmals antimodernen und nationalkonservativen Grundhaltung und der Durchsetzung fortschrittlicher, technisch-wissenschaftlicher Konzepte analysiert, die das Verhalten und die Selbstbeschreibung der Technischen Intelligenz bestimmt haben.
Im vierten Teil, "Vom Zentrum der Macht zur Atomeuphorie", wird ein Zwiespalt zwischen Politik und Technik ausgemacht, der weder durch die Versuche einer Politisierung der Ingenieure durch den Nationalsozialismus, und erst recht nicht bei der anschliessenden Vergangenheitsbewaeltigung geschlossen werden konnte - wie auch in den 50er Jahren gerade bei der januskoepfigen Kernenergie noch einmal das Konzept von der Technik als Kulturfaktor legitimierend verwendet wurde.
An dieser Stelle schliesst der Sammelband seine Betrachtungen. Der Zeitpunkt erscheint insbesondere aus allgemeingeschichtlicher Perspektive heraus plausibel, stellten doch die sechziger Jahre in vieler Hinsicht einen Wendepunkt in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte dar. Allerdings wird hierdurch die Frage nach Kontinuitaeten bzw. Umbruechen im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels der Nach-68er Zeit geradezu provoziert. Hier bleibt Raum fuer anschliessende, weiterfuehrende Untersuchungen
Das Buch ist durch das Bestreben der Autoren gekennzeichnet, den von der Ingenieurhistorie her bekannten kultur- und mentalitaetshistorischen Ansatz gleichsam umzukehren und auf die Technische Intelligenz selbst anzuwenden: Das Interesse gilt weniger dem Nachweis oder der Widerlegung einer "kulturpraegenden Kraft" der Technik, sondern der Frage, wie sich technisches Handeln und dessen Bewertung in unterschiedlichen kulturellen und mentalitaetsgeschichtlichen Kontexten vollzieht und wandelt. Diese Position ist dem Anspruch nach bereits von Wissenschaftshistorikern wie Fr. Klemm formuliert worden, ohne dass dieser Anspruch letztlich eingeloest wurde. Liegt doch die - offenbar noch immer brisante - Konsequenz nahe, dass Entstehung und Wandel der Technik doch nicht in ausschliesslich idealistisch bestimmten Kategorien fassbar ist.
Den Autoren des Sammelbandes gelingt es ueberzeugend, das durch die politischen, oekonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen seit dem 19. Jahrhunderts erzeugte Spannungsfeld kenntlich zu machen, von dem die Technische Intelligenz in ihrem Handeln ebenso beeinflusst wurde, wie sie es durch ihr Handeln verstaerkte. Gerade dies scheint das Bemerkenswerte an einer solchen Innenansicht zu sein. Die Konflikte, die gerade Ingenieure als Kinder der Industriellen Revolution bei ihrer Selbstverortung ausgetragen haben, moegen exemplarisch sein fuer die mentalitaetsgeschichtlichen Brueche und Verwerfungen, die das Heraufziehen des Industriezeitalters begleitet haben. Die Ergebnisse des Sammelbandes bieten hierbei einen substanzreichen Einblick in das Thema und eroeffnen zugleich eine Perspektive fuer weitere Studien.
Angesichts des Verlaufs der technikhistorischen Theoriedebatte der letzten Jahre draengt sich nach der Lektuere des Sammelbandes die Frage nach den Moeglichkeiten einer Kulturgeschichte der Technik auf. Die Ergebnisse der einzelnen Beitraege scheinen darauf hinzudeuten, dass trotz der bislang ueblichen, affirmativen Verwendung dieses Ansatzes das ihm innewohnenden Potential nicht vollstaendig ausgeschoepft ist. Vielleicht koennte eine differenziert ausgearbeitete und nicht auf Affirmation und Rechtfertigung abzielende Kulturgeschichte der Technik der ebenso lustvoll wie fruchtlos gefuehrten Debatte zwischen Ingenieuren und Historikern um das technikhistorische Deutungsmonopol neue Impulse verleihen? Die Bedeutung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und mentalitaetshistorischer Einflussgroessen auf den Verlauf technischer Entwicklungsprozesse ist unter dem Konzept einer Kulturgeschichte der Technik von Ingenieurhistorikern von Matschoss bis Klemm selbst formuliert worden, wiewohl sich die Praxis dann oft in der Betrachtung ihrer "geistigen" Voraussetzungen (worunter im Zweifel der Stand von Mathematik und Naturwissenschaften verstanden wurde) erschoepft hat. Doch scheint hierin keine Zwangslaeufigkeit zu liegen.
Vielleicht koennte der vorliegende Sammelband ja, neben seinem Ziel, Erkenntnisse ueber das Verhaeltnis von Technischer Intelligenz und Kulturfaktor Technik zu vermitteln, auch dazu anregen, sich mit einer modifizierten Kulturgeschichte der Technik einmal auseinanderzusetzen - nicht zuletzt, nachdem auch auf Seiten der allgemeinen Geschichtswissenschaft differenzierte kultur- und mentalitaetsgeschichtliche Konzeptionen in den letzten Jahren neue Perspektiven vermitteln konnten.