Dass "Buergerlichkeit" als Leitbild und Lebensform historisch seinen Kern im topos der `Innenleitung' - des autonom denkenden und handelnden Subjekts - besass, ist in der Buergertumsforschung jedweder Provenienz bislang mit weitgehender Selbstverstaendlichkeit in vielfacher Weise variiert worden. Als innovationsbereite Wirtschaftsbuerger, als gemaessigt Liberale im beharrungskraeftigen stadtbuergerlichen Kontext oder als Politiker-Intellektuelle in den Parlamenten erschienen die neuen "Buergerlichen" vorab als die durch Bildungswissen ausgezeichnete Avantgarde einer im emphatischen Sinne `freieren' Gesellschaft selbstbestimmter Individuen. Nach der Lektuere von Manuel Freys Untersuchung haben die ohnehin zuletzt anwachsenden Zweifel an diesem - zugegeben idealtypisch-verkuerzten - Deutungsmuster weitere, betraechtliche Nahrung erhalten. Die vom nachstaendischen Buergertum massgeblich gestaltete und erlittene Modernisierung aller Lebensverhaeltnisse war zuallererst (auch) ein beklemmend wirkender Prozess umfassender Selbst- und Fremddisziplinierung.
Zu diesen markanten Akzentverschiebungen hat der "kulturalistische" Perspektivenwechsel wesentlich beigetragen. Was das Buergertum im Innersten ueber die Heterogenitaet seiner sozialen Gruppen zusammenhielt, war der von diesen geteilte gemeinsame Wertehimmel und die damit verbundene kulturelle Praxis, ablesbar an einem Lebensstil mit spezifischen Verhaltensstandards. Der inneren, in diesem Sinne "kulturellen" Vergesellschaftung des Buergertums nachzuspueren, ist auch der erkenntnisleitende Impuls der vorliegenden Dissertation, die im Rahmen des Bielefelder Graduiertenkollegs "Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten" von Juergen Kocka und Hans-Ulrich Wehler betreut wurde. Freys Arbeit ueber die Funktion und Bedeutung, die der Grundnorm Reinlichkeit fuer die Konstituierung der buergerlichen Gesellschaft zukam, kann als Paradebeispiel dafuer dienen, welch innovative Eigen-Dynamik auch eine `kulturgeschichtlich erweiterte Sozialgeschichte' entfalten kann.
In der Tat ist der in der Einleitung schluessig entwickelte Ansatz so umfassend wie der Untertitel der Untersuchung: "Entstehung und Entfaltung buergerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860". Anhand des historischen Begriffs "Reinlichkeit" laesst sich gewissermassen die vollstaendige innere und aeussere Textur des gesellschaftlichen Wandels in der "Sattelzeit" offenlegen - meint doch dieser Begriff "ein taetiges Verhalten von Einzelnen und sozialen Gruppen, das auf das Erreichen bestimmter Ziele - Orientierung, Homogenitaet der Gruppe nach innen, Abgrenzung nach aussen - gerichtet ist. Dieses Verhalten schliesst normative Tugenden wie Ordnungsliebe und Fleiss ebenso ein wie Vorstellungen von Schoenheit und Gesundheit. Als normatives Deutungsmuster und lebenspraktische Verhaltensweise markiert der Begriff soziale Unterschiede und Geschlechterdifferenzen, entfaltet sich im zentralen Spannungsfeld Oeffentlichkeit - Privatsphaere und eignet sich dazu, die Entwicklung von Individuen und Gesellschaften in ihrer Gesamtheit zu umschreiben." (12) Dass die Buergertumsforschung es bisher versaeumt hat, den historischen Wandel des Reinlichkeitsbegriffes fuer ihre Fragestellungen fruchtbar zu machen, lag, wie Frey herausstreicht, an der "forschungsstrategischen Querlage des Themas" (17), das von der Religion, ueber die Paedagogik, die Medizin, Technik und Aesthetik eine Vielzahl von Bedeutungsfeldern - und Quellengattungen - miteinbeziehen muss. Weshalb aber gerade der in vieler Hinsicht aehnlich konzipierte Zugriff von Ulrike Doecker ignoriert wird, ist unverstaendlich.1
In den den beiden Teilen seiner Untersuchung rekonstruiert Frey jedenfalls anhand populaerer Gesundheitsschriften jene programmatischen Spezialdiskurse von Aerzten, Paedagogen und Theologen, die "Reinlichkeit" - nicht zuletzt aus berufsstaendischen Interessen - bis um 1800 zum zentralen aeusserlichen Erkennungszeichen von Buergerlichkeit avancieren liessen. Der praktischen Umsetzung dieses Ideals - in Form von neuen Reinigungsinstrumenten, oeffentlichen Badeanstalten, Reformkrankenhaeusern und beginnender Staedteassanierung (z.B. Wasserleitungen und Schwemmkanalisation) - wird sodann an archivalisch belegbaen Beispielen vorwiegend aus dem sueddeutschen Raum nachgegangen. Gleichsam als `Kontrollfuehler' und Indikator fuer die regionale bzw. schichtenspezifische Diffusion des Reinlichkeits-Ideals werden abschliessend die bayerischen Physikatsberichte herangezogen, die als umfangreicher Quellenbestand in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in Muenchen einen einzigartigen Blick auf die Hygienemassstaebe traditionaler laendlicher Lebenswelten (und nicht zuletzt ihrer buergerlichen Kritiker!) nach der Jahrhundertmitte erlauben.
Den roten Faden der konzeptionell geschlossenen, umsichtig argumentierenden und praegnant formulierten Studie Freys bildet das Konzept der 'kulturellen Modernisierung' qua Verhaltensdisziplinierung (vgl. bes. 19-29), das einer einfachen Dialektik gehorcht: "Dieser Modernisierungsprozess setzt Individualitaet frei, gleichzeitig findet eine staerkere Einbindung des Einzelnen in die soziale Gruppe statt, nach dem sozialen Grundprinzip der Funktionalisierung, der `Kraftersparnis'". Nicht nur der fruehneuzeitliche Staat und die traditionelle Lokalobrigkeit der Staedte, sondern auch die buergerlichen Expertengruppen waren in der Inkubationsphase des neuen Reinlichkeitsideals am Kampf um die kulturelle Hegemonie ueber den menschlichen Koerper beteiligt. Dabei gelingt es Frey immer wieder - und hier loest er sich wohl aus seiner vergleichsweise vorsichtigen Vorgabe, "Diskurs und soziale Praxis miteinander zu verknuepfen" (28) - jene Metaphern aufzuspueren, die die Bedeutungsfelder Medizin und Moral, koerperliche und psychisch-intellektuelle Reinlichkeit miteinander verbinden und nicht zuletzt auch die religioesen Wurzeln des Begriffs offenlegen (vgl. allein 33ff.: "Der gefaehrdete Koerper und die Reinheit der Seele", oder, 159: "Der Schmutz und die Unordnung waren den Reformpaedagogen Metaphern der Vermischung [...]"). Zwei Grundkategorien bildeten von Beginn an Konstituanten der buergerlichen Ordnung - Angst und Arbeit: Angst vor der Bedrohung der sozialen Ordnung und vor der Ansteckung durch uebertragbare Krankheiten waren beispielsweise bei der Bekaempfung der Cholera (261ff.) zwei Seiten des jetzt in massiver Form auch die unterbuergerlichen Schichten miteinbeziehenden Medikalisierungs- und Hygienierungsprozesses. ("Die Epidemie entspricht in der Medizin der Rolle der Revolution in der Politik: sie bedroht den sozialen Besitzstand. [...] Mit der Reinlichkeit glaubten die Medizinalpolizisten ein Universalmittel zur Heilung der medizinischen und sozialen Gebrechen der gesamten Gesellschaft gefunden zu haben." [145]). Die "Demokratisierung" des Wassers, das nach den aristokratischen Reinlichkeitsbegriffen noch als Gefahrenquelle gemieden wurde (demnach reinigte man `von innen nach aussen', so durch Spucken und Klistieren), zeigt exemplarisch die erfolgreiche Strategie zur Desodorierung des als Leitungsmaschine gedachten "buergerlichen" Koerpers, der zugleich eine neue Intimitaet zugewiesen bekommt.
"Reinlichkeit = Gesundheit = Arbeitsfaehigkeit" (122) - das war die Formel des tugendhaften Lebenswandels, die praktisch als "Medizinische Polizey" den sozialen Raum nach oben und unten strukturierte: Weder der muessiggaengerisch-lasterhafte Aristokrat noch der mangelnder Affektkontrolle geziehene Unterschichtenangehoerige waren deshalb vorab Teil der zukuenftigen buergerlichen Gesellschaft; die darauf abzielende Erziehungsaufgabe oblag fortan der modernen oeffentlichen Gesundheitspflege. Fuer jedes Lebensalter und fuer immer mehr Wechselfaelle des Lebens entwarfen die Konstrukteure "imaginaerer Raeume" (Foucault) Zurichtungsorte, die unter umfassender sozialer Kontrolle zu stehen hatten: "Kleinkinderbewahranstalten, Armen-, Arbeits- und Waisenhaeuser sollten die Unterschichtenangehoerigen von der Wiege bis zur Bahre in Zwangsgemeinschaften unter der Aufsicht buergerlicher Experten einbinden." (149)
Zentrale innerbuergerliche Vermittlungsagentur koerperlicher Reinlichkeit wie seelischer Reinheit war die entstehende, auf emotionaler Zuwendung beruhende Kleinfamilie. Affektmodulation im familiaeren Binnenraum (`Privates'), Leistungssteigerung im Berufsleben und angepasstes Verhalten im geselligen Umgang (`Oeffentliches'; hier waere der Bezug auf Doeckers Arbeiten und ihre Analyse buergerlicher Anstandsbuecher unumgaenglich gewesen) formierten einen spezifisch buergerlichen Habitus. Die "Onaniedebatte" bildete dabei nur den auffaelligsten Anlass fuer die beflissenen maennlichen Erziehungsreformer, die hier einen Zusammenhang von Schmutz, Wildheit, Krankheit und sozialer Isolation konstruierten, unter dessen Signum buergerliche Kindheiten fortan in geregelte Kanaele eingeleitet werden konnten. In der aesthetischen Erziehung des Buergers gehoerten deshalb auch Schoenheit und Moral zusammen, denn eine derartige Geschmackserziehung verhalf Verhaltensmuster zu verinnerlichen. Und fuer die Frau wurde die Tugend der Reinlichkeit (nicht zuletzt als Voraussetzung koerperlicher Attraktivitaet) zum dreifachen Kennzeichen ihrer Bestimmung als Gattin, Hausfrau und Mutter.
Die von Frey in der Folge dargestellten Wege zu einer vereinheitlichten Hygienepraxis nach 1800 (195ff.) lesen sich wie ein spannendes und heute vielfach kurios anmutendes alltagsgeschichtliches Panorama - wobei freilich nie der Zwangscharakter bei der Durchsetzung buergerlicher Reinlichkeitsnormen in den Unterschichten aus dem Blick geraet, am augenfaelligsten bemerkbar bei der Einrichtung von Militaerschwimmanstalten als fruehe "Volks"-Baeder. Der solcherart eingeleitete Verbuergerlichungsprozess erscheint in diesem Kontext auch als eine kulturelle Enteignung der Unterschichten, die allerdings, wie die Physikatsberichte zeigen, noch zu Beginn der zweiten Jahrhunderthaelfte ein betraechtliches Mass an Distanz bzw. `vormodernem' (nicht zuletzt religioes motiviertem) Resistenzpotential vorzuweisen hatten.
In Freys knapper und zugleich praegnanter Bilanz treten die Kosten einer derartigen kulturellen Modernisierung weniger scharf hervor als im fortlaufenden Text. Die "planmaessige Entwicklung eines neuen sozialen Typus, des selbstbewussten, taetigen Individuums" (327) - des Buergers im modernem Sinne -, hat, bei fraglos gestiegenen Lebenschancen und neuen Formen persoenlicher Freiheit, eine Kehrseite, deren dunkle Stellen noch weiter ausgeleuchtet werden muessen. Frey hat seinen Anspruch, mit seinem Ansatz "Veraenderungen in den Koepfen wie im praktischen Verhalten der Menschen vergangener Zeiten sichtbar zu machen" (28), jedenfalls eingeloest. Ihm ist damit ein wichtiger Beitrag fuer die hoffentlich weiter fortschreitende Anthropologisierung der Buergertumsforschung gelungen.
Anmerkung:
1 Ulrike Doecker, Die Ordnung der buergerlichen Welt. Verhaltenideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt u.a. 1994. Zentrale Thesen Doeckers, die sich z.B. hinsichtlich des Zusammenhangs von Koerperpflege, weiblichem Schoenheitsideal und Geschlechterdifferenz mit Freys Ergebnissen ueberschneiden, finden sich schon bei ders., Zur Konstruktion des `buergerlichen Menschen', in: Oesterreichische Zeitschrift fuer Geschichtswissenschaften 1, Heft 3, 1990, 7-47.
Vgl. jetzt natuerlich auch die das `Innere' des Buergers suchende, monumental angelegte Habilitationsschrift von Michael Maurer, Die Biographie des Buergers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Buergertums [1660-1815], Goettingen 1996 [Veroeffentlichungen des Max-Planck-Instituts fuer Geschichte 127], deren Drucklegung sich mit der Freys offenbar ueberschnitten hat.