S. Rinke: Im Sog der Katastrophe

Cover
Titel
Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg


Autor(en)
Rinke, Stefan
Reihe
Globalgeschichte 19
Erschienen
Frankfurt Main 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Riekenberg, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Der Erste Weltkrieg ist ein Thema, das gegenwärtig viel Aufmerksamkeit in der historisch interessierten Öffentlichkeit findet, und auch der Büchermarkt zum Thema profitiert davon. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg ist dabei allerdings kein Themenbereich, der einen oberen Platz auf der Interessenskala belegen dürfte. Dies gilt auch für die Wissenschaft: Vor wenigen Jahren bezeichnete Lawrence Sondhaus den Ersten Weltkrieg als „globale Revolution“, von der er allerdings Lateinamerika weitgehend, eigentlich fast völlig, ausnahm.1 In seiner Betrachtung des Ersten Weltkriegs kam Lateinamerika nur am Rand vor, weil, so seine Ansicht, der Erste Weltkrieg in und für Lateinamerika keine nennenswerte Bedeutung besaß und Lateinamerika an diesem Krieg nur geringen, manche Länder dort gar keinen Anteil nahm(en).

In dem Buch, das hier besprochen wird, verfolgt der Berliner Lateinamerikahistoriker Stefan Rinke den umgekehrten Weg. Für Rinke war der Erste Weltkrieg ein „globaler Moment“, an dem Lateinamerika „intensiv teilhatte“ (S. 11) und in dem konkret auch die Lebenswelt der Menschen in Lateinamerika einen „wichtigen Einschnitt“ erfuhr (S. 19). Dabei ist Rinkes Ansatz kulturwissenschaftlich geprägt: Rinke interessiert sich in seinem Buch in erster Linie für Perzeptionen, er fragt, wie der Krieg in der politischen Öffentlichkeit in Lateinamerika wahrgenommen wurde, welche Auswirkungen dies dort auf die eigene Identität, auf Kultur und Gesellschaft tätigte und wie all dies schließlich dazu führte, das Gefühl, Teil einer „globalen“ Welt zu sein, in Lateinamerika zu stärken. Diesen Fragen geht Rinke in einer gründlichen, kenntnisreichen und souverän ausgearbeiteten und gut zu lesenden Betrachtung nach, wobei neben politischen Verlautbarungen zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften eine wichtige Quelle seiner Untersuchung bilden. Anschaulich kann Rinke an vielen Beispielen belegen, wie Menschen in Lateinamerika den Krieg in Europa verfolgten, wie sie ihn werteten und welche Schlüsse sie daraus für sich und ihre sich vorgestellte Zukunft zogen. Mancherorts kam es dabei zu emotional geführten Kontroversen, mitunter auch schon einmal zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, zwischen Anhängern der Mittelmächte und denen der Entente. Unterschiedliche Akteure versuchten, propagandistische Werkzeuge einzusetzen und Stimmungen zu erzeugen. Deutlich wird auch, welche Art Schlüsselmomente es dabei gab – wie etwa den deutschen U-Boot-Krieg, als er Schiffe lateinamerikanischer Länder traf. Somit betreibt Rinke in seinem Buch anhand des Weltkriegs eine Integration Lateinamerikas in eine „globale“ Perspektive oder Welt, und insoweit ist seine Arbeit eine wichtige Ergänzung zu den Büchern, die nur von Europa (und seinen Kolonien) handeln, wenn sie den Ersten Weltkrieg betrachten.

Die Quellenlage bringt es dabei mit sich, dass Rinkes Buch in erster Linie von intellektuellen Akteuren handelt wie beispielsweise der Redaktion bzw. den Autoren der auflagestarken Bonarenser Satirezeitschrift Caras y Caretas. Solche intellektuellen Gemeinschaften widmeten dem Krieg in Europa große Aufmerksamkeit, was auch daran lag, dass ihre Mitglieder und Wortführer (in den Ländern des Cono Sur wie in Argentinien war dies besonders stark der Fall) sich im Regelfall zuvörderst als von Herkunft her Europäer fühlten bzw. weil sie sich Europa schon aufgrund ihrer familiären Migrationsgeschichte eng verbunden empfanden. Blieb die Anteilnahme am Krieg in Europa also auf die intellektuellen (und politischen) Eliten Lateinamerikas beschränkt? Rinke hebt hier die Bedeutung der Propaganda wie auch der neuen Kommunikationsmittel hervor und weist darauf hin, dass der Krieg ein „globales Medienereignis“ darstellte, das über die dem Schreiben und Lesen zugewandten Zirkel hinaus in Lateinamerika einen „überraschenden Grad an Breitenwirkung“ (S. 232) erzielte. Dies galt zumindest für urbane Räume und dort insbesondere für die Arbeiterbewegungen. Freilich stellt sich die Frage, ob es dort, wo in Lateinamerika die Menschen andere Sprachen sprachen und/oder Analphabeten waren wie in den Hochländern Mexikos, Zentralamerikas oder des Andenraums, wo also in breiten Bevölkerungsgruppen die sogenannte Ethnizität ins Spiel kam, ob es dort diesen Blick auf den Krieg in Europa und die Anteilnahme daran ebenfalls gab. Oder war der Krieg in Europa diesen Menschen, wenn sie denn überhaupt davon Kenntnis besaßen, egal?

Zusammengefasst führt der kulturwissenschaftliche Zugang in Rinkes Buch zu neuen und aufschlussreichen Ergebnissen, was die Rolle Lateinamerikas im Ersten Weltkrieg und vor allem auch die Frage nach der Bedeutung des Krieges für Lateinamerika angeht. Rinke zeigt, wie aus der Beschäftigung mit dem Krieg in Europa auch in Lateinamerika neue Ideologien und neue soziale oder politische Bewegungen erwuchsen, die in der Folgezeit, in den zwanziger und dreißiger Jahren, einen starken Einfluss auf die Innenpolitik in Lateinamerika ausüben sollten. Insofern veränderte sich auch Lateinamerika als Folge des Krieges. Diesem Urteil wird man zustimmen können. Darüber bleiben freilich auch die Unterschiede zu bedenken, die weiterhin zwischen Europa und Lateinamerika bestanden. Ich habe an anderer Stelle mit Blick auf das Ausbleiben großer Vernichtungsgewalt in Lateinamerika ja auszuführen versucht, dass die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika gerade in seiner Abwesenheit lag.2 Auch dies lässt sich als Folge des Krieges deuten.

Anmerkungen:
1 Lawrence Sondhaus, World War One. The Global Revolution, Cambridge 2011.
2 Vgl. Michael Riekenberg, Staatsferne Gewalt. Eine Geschichte Lateinamerikas, 1500–1930, Frankfurt am Main 2014, S. 150f.

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