Das Bild des am 6. August 1806 staatsrechtlich aufgeloesten Heiligen Roemischen Reiches Deutscher Nation wird seit rund vierzig Jahren einer grundlegenden Revision unterzogen. Die seither zum "Alten Reich", wie es nunmehr bezeichnet wird, erschienenen Arbeiten sind so zahlreich, dass man regelrecht von einer neuen Schule der Reichshistoriographie sprechen kann. Wolfgang Burgdorf, Verfasser der hier anzuzeigenden Bochumer Dissertation, kann als Vertreter bereits der dritten Generation dieser Schule betrachtet werden. Ebenso wie die Schueler von Franz Schnabel und Max Braubach, zu denen etwa Karl Otmar von Aretin und Volker Press sowie Konrad Repgen und Friedrich Hermann Schubert als Vertreter der ersten Generation gehoerten, wendet er sich gegen die bis heute nachwirkende kleindeutsch-borussische historiographische Tradition, in der das Reich keine gute Presse hatte. Als Modernisierungshindernis, zu schwach, um den aufkommenden habsburgisch-preussischen Dualismus zu baendigen, galt Historikern wie Treitschke, Sybel und Droysen nicht die Geschichte des Reiches, sondern die Brandenburg-Preussens als eigentliche Vorgeschichte der Nationalstaatsbildung von 1871. Dagegen wird heute die friedenswahrende Funktion der Reichsverfassung betont sowie die Faehigkeit, ueber drei Jahrhunderte politische und soziale Konflikte zu verrechtlichen und einer hoechst unterschiedlichen Vielfalt von Einzelstaaten das Ueberleben zu ermoeglichen. Deshalb gilt das "Alte Reich" heute manchem auch als historisches Vorbild fuer die zukuenftige Ordnung Europas.
Wurde bisher vor allem die verfassungs-, sozial- und institutionen-geschichtliche Reichsforschung vorangetrieben, so baut Wolfgang Burgdorf zwar auf deren Ergebnissen auf, erschliesst aber ein bisher nicht gesehenes Forschungsfeld. Noch 1994 betonte Karl Otmar von Aretin, dass die Reichspublizistik auch unter dem Eindruck der Aufklaerung und der franzoesischen Revolution nicht einmal ansatzweise den Versuch unternahm, die Reichsverfassung zu veraendern, sondern rein beschreibend blieb. Burgdorf hingegen entdeckt im politischen Schrifttum seit dem Westfaelischen Frieden bis zum Ende des "Alten Reiches" eine kontinuierliche Diskussion ueber die Reichsreform, die lebendig und zukunftweisend zugleich "wesentliche Teile der Verfassungswirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts" vorwegnahm. Zehn ausfuehrliche Kapitel handeln von dieser Diskussion. Quellengrundlage ist eine beeindruckende Fuelle politischer Schriften - das Quellenverzeichnis umfasst ca. 550 Schriften -, deren Verfasser mit Hilfe zeitgenoessischer Nachschlagewerke auch biographisch verortet werden.
Wer oeffentlich ueber die Reichsreform nachdachte, gehoerte meist der buerokratisch und juristisch geschulten Fuehrungselite an und diente in der Administration des Reiches oder der Territorialstaaten. Typisch war die Ausbildung der Reformdenker, sie waren meist reichsrechtlich geschulte Juristen. Zu Beginn des 18. Jahrhundert studierten sie ueberwiegend in Halle, spaeter in Goettingen oder einer anderen Reformuniversitaet. Anschliessend absolvierten sie eine spezifisch reichische "Peregrinatio academica", die nach Wien, den Sitz des Reichshofrates, nach Wetzlar, wo sich das Reichskammergericht befand, und an den Reichstag nach Regensburg fuehrte.
Die biographische Kontextualisierung der Autoren und die Einbeziehung auch unbekannter Autoren in den Untersuchungsbereich bilden nicht die einzigen Kriterien, die Burgdorfs Werk von klassischen Arbeiten zur Ideen- oder Geistesgeschichte, etwa in Friedrich Meineckescher Praegung, unterscheiden. Ihm geht es auch um die enge Anbindung der Projekte an das historische Umfeld, was dazu dient, um den Entstehungs- und Geltungsbereich der Reformprojekte herauszuarbeiten. Obschon keine Regierungs- und Verwaltungsakten zu diesem Zweck herangezogen werden, was wohl arbeitsoekonomische Gruende hat, muss die Studie als gelungen gelten. Wenn etwa die 1648 erschienene antikaiserliche "Dissertatio de ratione status in Imperio nostro" von Bogislav Philipp Chemnitz im Jahr 1761 uebersetzt und ergaenzt durch einen umfangreichen Kommentar des preussischen Policeywissenschaftlers Johann Heinrich von Justi erneut herausgegeben wurde, werden nicht nur Interdependenzen innerhalb des Reformschriftums sichtbar, sondern auch ihre Abhaengigkeit von politischen Entwicklungen und Auftraggebern. Iniziiert vom preussischen Departement des Aeusseren, diente der Chemnitz-Kommentar im ausgebrochenen Dualismus als ideologisches Kampfinstrument Preussens gegen den kaiserlichen Einfluss im Reich. Die beruehmte Schrift Friedrich Karl von Mosers "Von dem deutschen Nationalgeist", in oesterreichischem Auftrag erstmals 1765 anonym veroeffentlicht, reagierte auf diese Chemnitz-Edition. Moser forderte eine Staerkung des Kaisers als einzig verlaesslichen Wahrer des inneren Friedens und rief die ganze Nation zur Mitarbeit an der Reichsreform auf, indem er die Verbesserung der Reichsverfassung zur patriotischen Pflicht aller erklaerte. Die hier sichtbare Konfliktlinie zwischen kaiserlichen und reichsfuerstlichen Positionen bestimmte die Diskussion um die Reichsreform in den vom Verfasser untersuchten Traktaten seit 1640.
Burgdorf stellt sich die Geschichte des Reiches als fortlaufende Diskussion mehr oder weniger intensiver und stetiger Reformversuche vor, die bestaendig von publizistischen Reflexion begleitet wurden. Diese Auffassung bildet die Basis fuer sein ideengeschichtliches Diktum, dass die vielen Reformprojekte, die niemals in die Tat umgesetzt wurden, ebenso wichtig fuer den Zeitgeist einer Epoche waren wie die Realpolitik. Die Reichsreformdiskussion, die selbst unter dem Eindruck der franzoesischen Revolution auf das deutsche Verfassungsproblem bezogen blieb, habe deshalb nicht nur zur Stabilisierung des Reiches beigetragen. Vieles, was auf der politischen Tagesordnung des 19. Jahrhunderts stand, war bereits vorgedacht, als das "Alte Reich" noch existierte. Die Saekularisation beispielsweise, die in der preussischen Publizistik bereits waehrend des Siebenjaehrigen Krieges in den Vordergrund gestellt wurde, aber auch das Reich als konstitutionelle Monarchie, als Republik, als Foederation und als unitarischer Zentralstaat. Die liberaldemokratische Verfassungstradition in Deutschland begann nicht 1849, sondern im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In der "Nationalsgeistdebatte" begann darueber hinaus das nationale Thema eine breite Oeffentlichkeit zu erreichen. Im Gegensatz zur These Habermas’, geht Burgdorf davon aus, dass sich politische Oeffentlichkeit nicht ueber den Emanzipationswillen des besitzenden Buergertums und im Gegensatz zum Arkanbereich Politik herstellte. Vielmehr sei die Herstellung von Oeffentlichkeit Folge der Ausweitung eines zunaechst "intergouvernementalen Diskurses", der zuerst von politischen Funktionseliten getragen, seit der "Nationalsgeistdebatte" einen zunehmend breiteren Kreis des Publikums erreichte.
Die Leistung dieses Vertreters der dritten Generation von Reichshistorikern besteht also nicht so sehr darin, das Reich in eine europaeische Perspektive zu stellen, sondern eine nationale Tradition sichtbar zu machen. Auch geht es ihm weniger um die Entwicklung der Reichsverfassung an sich, sondern um die Entwicklung des Denkens ueber diese Verfassung. Wie diese Denktraditionen ins 19. Jahrhundert vermittelt wurden, kann er jedoch nur andeuten. In jedem Fall ist Burgdorfs Buch geeignet, die Diskussion ueber das Fortwirken von Denktraditionen anzuregen, die im politischen Kontext der Reichsverfassung entstanden sind. So verweist etwa das Beispiel Johann Ludwig Kluebers, der nicht ueber das Staatsrecht des Reiches und des Rheinischen Bundes handelte, sondern auch ueber das des Deutschen Bundes, auf personelle Kontinuititaeten. Auch der Kurfuerst - Erzkanzler und spaetere Fuerst - Primas Karl Theodor von Dalberg, der waehrend des Fuerstenbundes 1785 und in den fruehen 1790er Jahren mit Konzepten die Hoffnung auf eine Reform des Reiches schuerte, hatte nach der Aufloesung des Reiches die Verfassung des Rheinischen Bundes unter seiner Feder. Welche Rolle spielten personelle Kontinuitaeten, die sich unter Praktikern und Theoretikern des Reichstaatsrechtes vielfaeltig ausmachen lassen, fuer die Vermittlung dieser Tradition, vom Reich ueber den Rheinbund zum Deutschen Bund?
Die papierenen Reichsreformprojekte konnten zwar zur Zeit ihrer Entstehung die Realpolitik kaum beeinflussen und auch die Aufloesung des Reiches nicht aufhalten. Die Tradition des Nachdenkens ueber die deutsche Verfassung und ueber den Zustand der Nation steht jedoch auch - und nicht nur Napoleon - am Anfang der Neuordnung der politischen Verhaeltnisse im Deutschland des 19. Jahrhunderts.