Kalkutta, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen, fristet nicht nur ein Dasein am geografischen Rande Indiens, sondern auch in der deutschen Wahrnehmung. Zwar kennen die meisten den Schlager „Kalkutta liegt am Ganges“, aber das ist dann auch wohl die einzige positive Assoziation, die viele Deutsche mit diesem Namen verbinden. Unter anderem aufgrund der Arbeit Mutter Teresas und der literarischen und grafischen Darstellungen von Günter Grass1 verbindet man mit dieser Stadt wohl eher Armut, Lärm und Menschenmassen. Umso erfreulicher ist es, dass der vorliegende Bildband einem breiten Publikum ein anderes, ein vielfältigeres Kalkutta vorstellt. Und auch wenn die Fotos überwiegen, ist dieses Buch doch mehr als eine herkömmliche Fotosammlung. So werden die sieben Kapitel in sechs Fällen durch eigenständige Aufsätze eingeleitet, die die langjährige wissenschaftliche Beschäftigung der Autorin, Melitta Waligora, mit der Geschichte und Kultur dieser Stadt widerspiegeln.
In den sechs Aufsätzen, die man problemlos getrennt voneinander lesen kann, werden dem Leser verschiedene Facetten der ehemaligen Hauptstadt Britisch-Indiens nähergebracht: „Ein Blick in die Geschichte Kalkuttas“, „Der Sitz der Göttin des Reichtums“, „Die zweite Stadt im britischen Imperium“, „Aufstieg und Fall – und wieder Aufstieg?“, „Die Stadt der Hoffnung“ und „Kalkutta wächst zu einer Megastadt“. Wie der Untertitel des Buches Eine moderne Stadt am Ganges, so täuschen allerdings auch die Überschriften der einzelnen Kapitel ein wenig den Leser. Schwerpunkt ist nämlich nicht das moderne Kalkutta, sondern seine Geschichte beziehungsweise deren Überreste in der modernen Stadt. Dies tut dem Band jedoch keinen Abbruch, da genau dieser Aspekt den Hauptreiz Kalkuttas ausmacht.
Es ist enorm spannend, sich mit der Autorin, die sich 2012 und 2013 für jeweils drei Monate dort aufhielt, durch die heutige Megastadt auf der Suche nach Zeugnissen der Vergangenheit zu bewegen. Detaillierte Bildbeschreibungen und die jeweils einführenden Aufsätze zu den unterschiedlichen Themenkomplexen nehmen den Leser mit auf eine im wahrsten Sinne des Wortes bildhafte Reise durch die faszinierende Geschichte Kalkuttas, von den ersten Siedlungen, über den Aufstieg zu einer Handelsmetropole unter britischer Herrschaft, dem Bedeutungsverlust nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947, bis zur geplanten und ungeplanten Ausdehnung der heutigen Metropole. Dabei ist es den studentischen Assistenten der Autorin, Rita Orschiedt und Tilo Thangarajah, von denen die meisten Fotos stammen, gelungen, visuelle Eindrücke einzufangen, die sich so nur selten dem normalen Touristen — wenn es ihn denn überhaupt bis nach Kalkutta verschlägt — offenbaren. Sie vermitteln das Gefühl, dass sich die Autorin und ihre Fotografen bis in die letzte Gasse, den letzten Winkel und den verborgensten Innenhof begeben hätten, um auch den letzten Stein auf der Suche nach der bedeutenden Geschichte dieser Stadt umzudrehen.
Einige inhaltliche Aspekte des Buches sind besonders hervorzuheben: Auch wenn deutlich wird, dass die Autorin eine innige Beziehung zu dieser Stadt hat, so bewahrt sie dennoch die nötige Distanz und verfällt in keinerlei romantisierende Beschreibungen, wie man diese leider oftmals bei anderen Indien-Bildbänden beobachten muss. Zwar richtet sich das Buch, auch dank des eingängigen Schreibstils, an ein breites Publikum, jedoch zeugen die Aufsätze von intensiver Recherche, wie man sie sonst eher von wissenschaftlichen Publikationen erwartet. Die Detailfülle der Aufsätze wirkt jedoch nicht erschlagend, sondern vielmehr wie ein großer bunter Blumenstrauß, dessen Knospen sich beim Betrachten der dazugehörigen Fotos öffnen. Besonders spannend ist die Darstellung des wirtschaftlichen Aufstiegs, bei welcher deutlich wird, dass nicht nur die Briten, sondern auch lokale Akteure, das heißt vor allem Bengalen, enorm von den Veränderungen profitierten, auch wenn sich mit Ausbau der britischen Macht die Situation der einheimischen Geschäftsmänner verschlechterte. Dies wird für den Leser besonders durch das Nachzeichnen der Entwicklung einflussreicher Familien, z.B. der Familie des Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore, im Laufe der Zeit sichtbar. Diese einflussreichen Bengalen waren oftmals nicht nur wichtige Geschäftsleute, sondern trugen auch zu intellektuellen Neuerungen, z.B. im Bereich der Literatur, als auch religiösen und sozialen Reformbewegungen bei, die schon bald ganz Britisch-Indien verändern sollten.
Erfrischend ist auch, dass konsequent von „Kalkutta“ und nicht „Kolkata“ die Rede ist, obwohl seit 2001 die letztgenannte Variante, die sich an der bengalischen Aussprache orientiert, die offizielle ist. Der Umstand, dass andere Autoren diese Variante auch in deutschen und englischen Publikationen übernehmen, spiegelt leider eher naives vermeintliches Ethnoverständnis wider und zeugt vom Mangel tieferer Kenntnisse der gegebenen Verhältnisse. Die Tatsache, dass es unterschiedliche Varianten in verschiedenen Sprachen gibt — und sogar eine, die Deutsch für sie kreiert hat — verdeutlicht nicht nur die internationale Bedeutung einer Stadt, sondern im Falle von Kalkutta auch deren multikulturelle Vergangenheit und Gegenwart. Die konsequente Bengalisierung des Namens verschleiert so, dass die Stadt auch mit Hilfe von Armeniern, Chinesen, Juden, Oriyas, Südindern und anderen Gruppen, vor allem Hindi- und Urdu-Sprechern aus den benachbarten Regionen, zu dem werden konnte, was sie heute ist: eine faszinierende, multikulturelle Megastadt mit einer bedeutenden Geschichte und hoffentlich bedeutenden Zukunft.
Besonders empfehlenswert ist das Buch für Indieninteressierte, in deren Fokus Kalkutta bis jetzt noch nicht war, für Historiker, die anhand einer Stadtgeschichte die Kolonisierung Britisch-Indiens näher kennenlernen möchten, für Geisteshistoriker, für die der intellektuelle Austausch zwischen Briten und Einheimischen und die daraus entstandene bengalische Elite besonders spannend sein sollten, und für Stadtplaner, für die nicht nur die Entstehungsgeschichte, sondern auch die Bestrebungen, Kalkutta in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart durch Satellitenstädte zu ergänzen, sicherlich interessant wären.
Anmerkung:
1 Vgl. Günther Grass, Der Butt, Darmstadt 1977; ders., Zunge Zeigen, Darmstadt 1988.