Titel
Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie


Autor(en)
Lorenz, Chris
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur 13
Erschienen
Koeln 1997: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schmitz, Thomas Schmitz

Die Theorie der Geschichtsschreibung war schon immer abhaengig von der allgemeinen Entwicklung der internationalen Geistes- und Sozialwissenschaften, welche gerade in den letzten Jahren einem gewaltigen methodologischen Wandel unterworfen wurden (1).

Wer sich die Zitierhaeufigkeitsdaten einiger ausgewaehlter 'Standard Authorities' des Arts-and-Humanities- sowie des Social-Science-Citation Indexes vor Augen haelt, duerfte die hierzulande im 'Merkur', dem 'Spiegel' und anderen altvaeterlichen Magazinen geaeusserten Untergangsphantasien bezueglich der Postmoderne gelassener hinnehmen. Der Marxismus hat viele Anhaenger verloren, der kritische Konstruktivismus hat seinen Hoehepunkt ueberschritten und stagniert bestenfalls, andere methodische Schulen haben sich erfolgreich etabliert und Foucault hat sowohl in den Geistes- als auch den Sozialwissenschaften die Fuehrung uebernommen. Und wer sich weder fuehren lassen will noch die Weltgeschichte fuer ein Windhundrennen haelt, der erfreut sich zumindest der vielfaeltigeren Moeglichkeiten des multi(forschungs)kulturellen Umfelds.

Der hollaendische Geschichtstheoretiker Chris Lorenz moechte nun "den historischen Prozess" (237) gerne umdrehen und "kehrt ... von der postmodernen Fassung der Geschichtstheorie zu ihrer modernen zurueck" (Joern Ruesen, VII), zumal auch andere Historiker "(i)nzwischen ... den Postmodernismus bereits hinter sich gelassen" (158) haetten. Wohl in der Absicht, der kritischen Geschichtsschreibung das letzte Wort zu lassen, klassifiziert er in der Folge alle juengeren Forschungsmethoden durchweg als "hermeneutisch", wodurch die Struktur seiner Darstellung der Geschichtstheorie freilich erst recht Zuege einer 'Neuen Unuebersichtlichkeit' annimmt: Nach einer kontroversen Diskussion erkenntnistheoretischer Grundbegriffe (Fakten, Interpretation, Wahrheit) werden zuerst die methodologischen Hauptrichtungen des Positivismus und dann die der Hermeneutik (Ranke, Droysen, Gadamer, White, Foucault, Derrida) kurz erlaeutert; die restlichen Kapitel dienen der Fundierung der klassischen Sozialgeschichtsschreibung: zuerst ein fast hundertseitiger Exkurs ueber das Spezialproblem kausaler Erklaerungen in der Geschichtswissenschaft (189-284), dann die Rolle von Personen und Strukturen, das Verhaeltnis von Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaft, schliesslich die Objektivitaets- und Wertfreiheitsproblematik. Alltagsgeschichte, Microstoria und gender history werden praktisch nicht gewuerdigt, waehrend die postmodernen Ansaetze immerhin in drei (gelungenen) Unterkapiteln abgehandelt werden, freilich auch sonst im gesamten Buch stets als Feindbild im Hintergrund draeuen. Im Register wie in der Bibliographie vermisst man/frau Namen wie U.Daniel und N.Z. Davis, aber auch Theodor Lessing.

Der/dem Anfaenger(in) mag das Buch fuer eine Einfuehrung in die Geschichtstheorie etwas zu lang geraten scheinen, sollte sich allerdings weder hierdurch noch durch die scholastischen Disputationen in zahlreichen Fussnoten abschrecken lassen: Denn im Gegensatz zu manchen im szientistischen Duktus abgefassten oder mit postmodernem Wortgewuerge drapierten Geschichtstexten wartet Lorenz mit einer unpraetentioesen und eingaengigen Prosa auf, wodurch es ihm gelingt, auch schwierigere Sachverhalte Anfaengern nahezubringen. Ein m.E. gelungenes Beispiel zur Erklaerung der Dekonstruktion: "Wo Gadamer Texte wie Waggons an andere Texte koppelt, um so einen Bedeutungszug auf die Schienen zu stellen, geht es Derrida nun gerade um die 'Entgleisung' dieses Zuges." (166) Ausserdem werden alle diskutierten theoretischen Probleme anschliessend mit bekannten - wenn auch nicht immer aktuellen - Beispielen aus der (zumeist) deutschen historiographischen Praxis (Lorenz gastierte als Humboldt-Stipendiat in Bielefeld und Berlin) illustriert. Gelegentlich kommen auch didaktische Schaubilder zum Einsatz. Weniger erfreulich ist es, dass die deutsche Buchfassung offenbar aus diversen hollaendischen Manuskriptvorlagen der Jahre 1987 bis 1994 zusammengestueckelt wurde. Spaetestens dann, wenn Lorenz gegen (laengst verstorbene) Historiker eifrig Front macht, die sich prinzipiell gegen die Verwendung von Theorien, Vergleichen und die Bildung von Allgemeinbegriffen in der Geschichtswissenschaft sperren, "wie z.B. Golo Mann, Th. Nipperdey, K. Faber und Th. Schieder" (300), merkt man den betreffenden Kapiteln ihr Alter an.

Am Anfang seiner theoretischen Betrachtungen untersucht Lorenz das Verhaeltnis zwischen Fakten und Interpretation als das "Kernproblem der Geschichtstheorie" (17). Zwar gebe es keine objektive, sprich interpretationsfreie Fakten- wie Wirklichkeitsfeststellung, doch seien Historiker sehr wohl in der Lage, die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion zu treffen, "eine( ) der konstitutiven Voraussetzungen der historischen Forschung" (184). Eine Tendenz zur Relativierung dieses Verhaeltnisses traefe man angeblich bei Historikern an, "die sich soeben vom naiven Realismus abgewandt haben und Opfer der allgemeinen Bekehrungslogik werden, nach der alte Ansichten einfach umgekehrt werden." (15) Allerdings steht gerade Lorenz' Konzept des 'internal realism' (vgl. History and Theory 33 (1994), 297-327) allzu universalistischen Tatsachenfeststellungen im Wege: Fakten, raeumt er ein, "sind also immer Fakten in bestimmten begrifflichen Rahmen, ... in der Gruppen von Sprechenden Worte und Dinge verbinden." (45) Ungeachtet dessen sei aber "eine normalerweise adaequate interkulturelle Kommunikation" (113) sichergestellt, "da Sprechende und Zuhoerer Worten (global) die gleichen Bedeutungen beimessen und sie (global) in gleicher Weise verwenden." (45) Privatsprachen wuerden allgemein nicht verstanden, "und ihre Benutzer trifft man auch hauptsaechlich in der Psychiatrie" (63) [allerdings! Vgl. das Galilei-Van Gogh-Syndrom].

Infolgedessen wendet sich Lorenz gegen eine allgemeine "Textualisierung des Weltbilds" (178); dies sei nur in historischen Spezialfaechern, wie z.B. der Ideengeschichte, "in der Texte die primaeren Quellen sind" (149), von Bedeutung. - Ein Blick in die Quellenverzeichnisse der meisten historischen Forschungsarbeiten duerfte Lorenz freilich daran erinnern, dass HistorikerInnen fast ausschliesslich Texte (nebst Bildern, Statistiken u.a. symbolischen Repraesentationsformen) als Primaerquellen heranziehen; die Textualisierung der Vergangenheit(en) ist bereits (durch den Chronisten) laengst vollzogen, wenn sich die Geschichtsforscher an die Arbeit begeben.

HistorikerInnen, die nicht der Bielefelder Schule angehoeren, duerfte es nerven, dass im Textfluss oft recht einseitig von "gesellschaftliche(n) Fakten" (301), der "sozialen Wirklichkeit" (289f.), der "sozial-historischen Wirklichkeit" (237) oder gar den "Ordnungen der soziohistorischen Wirklichkeit" (44) die Rede ist - es soll ja auch andere 'Ordnungen der Dinge' geben, wie auch andere Wirklichkeitsebenen. Dass es sich hier um nachtraegliche und einseitige Konstruktionen der historischen Wirklichkeit(en) handelt, um Wirklichkeitseffekte und Wahrheiteffekte [Barthes; bei Lorenz (178)], welche die historischen Texte generieren, wird (un)bewusst verschwiegen. Das klaerende Woertchen "Modell" taucht bei Lorenz viel zu selten auf, der Terminus "wirklichkeitsadaequat" dafuer um so oefter: Denn im Gegensatz zu den fiktionalen Texten der Literatur sei "das Abfassen einer HISTORISCHEN Abhandlung ... (ein) RATIONALE(S) Unternehmen" (185); schliesslich verwiesen geschichtswissenschaftliche Werke "ja auf die (vergangene) Wirklichkeit, die nicht auf die Sprache reduziert werden kann, und entlehn(t)en ihre Wahrheit der Adaequatheit ihrer Referenzen." (153) Repraesentiert, so mag man fragen, Lorenz adaequat die diversen historiographischen Schulen in seiner Geschichtstheorie?

Aber wie kann man Wirklichkeitsadaequatheit messen, wenn - wie Lorenz selbst einraeumt - die historische Wirklichkeit nun einmal vergangen ist und daher nicht mehr als gegenwaertiger Vergleichsmassstab dienen kann?

Gemaess Lorenz stehe "jede historische Erzaehlung in einem ARGUMENTATIVEN KONTEXT ..., der es dem Historiker unmoeglich macht, einfach seine EIGENE Erzaehlung beispielsweise ueber die Renaissance vorzubringen, als waere er allein auf der Welt." (185) So sei es "naemlich nicht Sache des einzelnen Autors zu bestimmen, welches Material fuer sein Thema relevant ist, sondern das bestimmt eine offene Debatte der Forschergemeinschaft." (185) Und auch hinsichtlich der Gueltigkeit historischer Forschungsergebnisse gehe es letztlich darum, dass andere "Mitglieder der intellektuellen GEMEINSCHAFT" [statt Gesellschaft?, T.S.] "diese 'Vorschlaege' als WIRKLICHKEITSADAEQUATE Repraesentationen anerkennen und sie also als (wahre) Erkenntnisse GERECHTFERTIGT werden koennen." (185-6) So offen und ehrlich ist der zuenftige Konformitaetsdruck noch nie beschrieben worden. Wieviel Aerger haetten sich die Kehrs, Lamprechts, A.J.P. Taylors u.a. ersparen koennen, haetten sie sich nur einfach angepasst!

Fazit: Ein gut lesbares Lehrbuch fuer jede(n), die/der sich fuer die theoretischen Grundlagen der klassischen Sozialgeschichtsschreibung interessiert. Wem mehr an einer Dekonstruktion oder Rekonstruktion statt an der 'Konstruktion der Vergangenheit' gelegen ist, kann das Buch mit Gewinn als 'Steinbruch' und Nachschlagewerk verwenden.

Anmerkungen:
(1) In Zahlen ausgedrueckt:

Jahr/ 1980-89 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1997
Zit. Autor [(durchschn.)--------------------------AHCI---] (SSCI)

Gadamer-H* 162 177 220 228 165 160 168 179 185 (115)

Marx-K* 634 369 370 384 347 280 260 249 219 (325)

Weber-M* 203 181 251 303 278 254 214 217 205 (617)

Habermas-J* 230 278 368 439 374 373 342 333 303 (519)

Bourdieu-P* (-------------fehlende Daten---) 302 332 358 (617)

Geertz-C* 137 178 215 272 236 223 190 224 200 (411)

Foucault-M* 391 490 671 816 785 758 798 785 800 (807)

Derrida-J* 352 495 599 616 523 529 581 575 577 (216)

Die Citation-Indices dienen in erster Linie nicht der Ermittlung der Zitierhaeufigkeit einzelner Wissenschaftler, sondern dem Auffinden einschlaegiger Zeitschriftenaufsaetze, wobei nicht nur Schlagworte, sondern auch die Autorennamen von den in neueren Aufsaetzen zitierten Buechern und Zeitschriften als Suchbegriffe verwendet werden koennen. Allerdings scheint die Nobelpreiskommission die Zitierhaeufigkeit von Naturwissenschaftlern im 'Science Citation Index' als Anhaltspunkt fuer die Preisvergabe zu beruecksichtigen. Der im 'Arts-and Humanities-Citation-Index' heute mit Abstand am haeufigsten zitierte deutsche Historiker (84x), Theodor Mommsen, erhielt uebrigens in der Tat 1901 den Nobelpreis fuer Literatur.

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