Mit Gugerlis Zuericher Habilitationsschrift ist auch in der Elektrizitaetsgeschichte die "linguistische Wende" vollzogen. Das Urteil ueber die Arbeit wird deshalb, so laesst sich vermuten, nicht nur von ihrem Ertrag hinsichtlich der eigentlichen Fragestellung bestimmt, sondern auch und womoeglich noch viel staerker von der Haltung des Lesers gegenueber der poststrukturalistischen Sichtweise ueberhaupt. Dies gilt um so mehr, als auf einem vergleichsweise konkreten und von "harten" Fakten - in Form einer ausgepraegten Eigenrationalitaet des Systems und seiner immanenten technisch-wirtschaftlichen Gesetzmaessigkeiten sowie rationaler oekonomischer und politischer Interessen der Beteiligten usw. - gepraegten Gebiet wie der Elektrizitaetswirtschaft die gegensaetzlichen Positionen naturgemaess besonders heftig aufeinanderprallen. Pseudo-Objektivitaet waere eine bequeme, letztlich aber unglaubwuerdige Position bei der Beurteilung dieser Arbeit; der Rezensent waehlt deshalb eine andere und bekennt sich selbst von vornherein als Gegner einer radikalen Substitution bisheriger strukturgeschichtlicher Arbeitsweisen durch diskursanalytische Verfahren, wohl aber als Befuerworter einer massvollen Erweiterung durch Einbeziehen der kulturellen Dimension bei der Konstruktion grosser technischer Systeme und durch verstaerktes Beruecksichtigen ihrer - wenn man so will: diskursiv vermittelten - sozialen Bedingtheit. Zumindest aus einer solchen Perspektive ergibt sich ein kritisches Urteil ueber Gugerlis Arbeit.
Ziel der Studie ist eine Re-Interpretation der eidgenoessischen Elektrifizierung anhand einer Analyse ihrer wesentlichen Entwicklungsphasen und Entscheidungssituationen; den Ausgangspunkt bildet eine radikale Kritik der gaengigen Erklaerungsmuster fuer die Erfolgsgeschichte der Elektrizitaet in der Schweiz, wie sie in konventionellen Darstellungen geboten wurden und werden: Den spezifischen Nationalcharakter und den Wasserkraftreichtum bzw. das Fehlen von Kohlevorraeten, den entwickelten Kapitalmarkt, die Faehigkeiten Schweizer Techniker und Ingenieure sowie schliesslich den Wagemut der Unternehmer - solche Erklaerungen verwirft Gugerli en bloc auf etwa einer Buchseite (S. 9f.) und setzt ihnen seine Generalthese entgegen, dass Elektrifizierung in allererster Linie Ergebnis eines gesellschaftlichen Verstaendigungsprozesses ueber die Potentiale, Erfordernisse und Folgen der Elektrizitaetstechnik gewesen sei. Hauptanliegen des Autor ist es, die historische Entwicklung dieser "Redeweise ueber Elektrifizierung nachzuzeichnen, ihre perzeptionsvereinheitlichende Rolle im Elektrifizierungsprozess zu verstehen und schliesslich auch ihre Handlungsrelevanz aufzuzeigen" (S. 10) und damit eine alternative Erklaerung der eidgenoessischen Elektrifizierung zu liefern.
Gegenstand der Untersuchung ist also das oeffentliche und auf oeffentliche Wirksamkeit angelegte "Reden" bzw. Schreiben ueber Elektrifizierung, wie es in der publizistischen, der populaer- und fachwissenschaftlichen sowie der politisch-administrativen Elektrizitaetsdebatte greifbar wird. Dementsprechend dienen Zeitungen, Fachzeitschriften sowie die Verhandlungen kommunaler, kantonaler und bundesstaatlicher Entscheidungsgremien als Quellengrundlage. In sechs Kapiteln mit jeweils unterschiedlicher thematischer Fokussierung und teilweise auch exemplarisch lokalem Zugriff untersucht Gugerli Formierung, Verlauf und Folgewirkungen der "Redestroeme" ueber Elektrifizierung in Anlehnung an die Etappen der Systementwicklung von den spektakulaeren oeffentlichen Demonstrationen der elektrischen Beleuchtung und fruehen Elektrizitaets-Utopien seit Ende der 1870er Jahre sowie ihrer Generalisierung anhand der ersten Modelle flaechendeckender Stromversorgung ueber die Konsensbildung im Systemstreit Wechselstrom-Gleichstrom und die Implementierung der Elektrizitaet im praktischen Kontext existierender vernetzter Systeme bis hin zur Institutionalisierung der Elektrifizierung in Gesetzgebung, Verwaltung, Ausbildung und Finanzierung sowie schliesslich ihrer Politisierung im Spannungsfeld von Kommunen, Kantonen und Zentralstaat. Das Ergebnis: Die jeweiligen "Redestroeme" richteten die Moeglichkeiten der Technik auf die Beduerfnisse der Gesellschaft aus und passten selbstverstaendlich auch umgekehrt die Gesellschaft den Erfordernissen der Technik an. Sie lieferten Assoziationsangebote, stellten die "Kompatibilitaet" zwischen Elektrotechnik und Gesellschaft her und erneuerten sie in Krisen und angesichts wechselnder Problemlagen schliesslich immer wieder - mit anderen Worten: Erst diese Diskurse ermoeglichten Elektrifizierung oder, noch schaerfer in Gugerlis Terminologie formuliert: Elektrifizierung bestand wesentlich im Diskurs.
Inwieweit dieses Ergebnis zu ueberzeugen vermag, haengt - wie eingangs bemerkt - von der Position des Lesers und von seiner Akzeptanzfaehigkeit gegenueber der Diskursanalyse ab. Eingefleischte "Schraeubchenzaehler" wird Gugerli wohl ebenso wenig ueberzeugen wie die prinzipienfesten Gegner postmoderner Experimente. Aber auch den aufgeschlossensten Rezipienten unter den "konventionell" arbeitenden Historikern, welche die soziale Konstruktion von Technik nicht bezweifeln - und von diesen gibt es entgegen Gugerlis leichtfertiger Behauptung (S. 11) doch eine ganze Menge -, macht es der Autor nicht gerade leicht: Bereits die Schnell-Demontage vorhandener Erklaerungsmuster, die das diskursanalytische Argument des Autors begruenden soll, erscheint angesichts des hohen Anspruchs, eine gaenzlich neue, bisherige Sichtweisen nicht nur ergaenzende oder modifizierende, sondern regelrecht ausschliessende Erklaerung zu liefern, nicht sonderlich ueberzeugend. Sodann laesst sich einwenden, dass die Vorgehensweise, das Verhaeltnis "von Gesellschaft und Elektrotechnik" ausschliesslich "im Medium ihrer [= der Elektrotechnik - d. V.] diskursiven Vermittlung" (S. 20 und nochmals S. 301) zu untersuchen, sich also auf die "Redestroeme" zu Elektrifizierung zu konzentrieren und die Quellen entsprechend auszuwaehlen, zu gar keinem anderen Ergebnis fuehren kann, als die determinierende Wirkung des Diskurses auf den Elektrifizierungsprozess nachzuweisen.
In der Wolle gefaerbte Poststrukturalisten werden diese Kritik freilich damit kontern, dass eben alles, also auch die vermeintlich harten Fakten und die Eigenrationalitaet des Systems, immer diskursiv vermittelt wuerden und eben nichts weiter als "Text" seien. Weitaus schwerer wiegt jedoch der Einwand, dass der Autor im analytischen Teil der Arbeit nicht ohne die im einleitenden konzeptionellen Aufriss gruendlich vom Tisch gefegten "konventionellen" Erklaerungsmuster auskommt und sie wie beispielsweise das Wasserkraft-Argument durch die Hintertuer wieder einfuehren muss - nun jedoch nicht mehr als Tatsachen, sondern theorieadaequat als verbale und soziale "Anschlussofferten" auf Diskursebene. Es ueberrascht jedoch, welch ueberzeugende kulturalistische Interpretation aus einer solchen Kombination entsteht, beispielsweise wenn Gugerli die Auslastungsproblematik der fruehen Elektrizitaetswerke und ihre Kostenstruktur zuhilfe nimmt, um die soziale Funktion des elektrischen Lichts als Demonstration von Modernitaet und als Instrument gesellschaftlicher Distinktion vor den spezifisch schweizerischen Bedingungen der Staedte-Konkurrenz um den Nobel-Tourismus zu erklaeren (S. 43ff.). Auf aehnlich instruktive Weise gelingen ihm neue Einsichten beispielsweise ueber die Entwicklung der Finanzierungsmodelle fuer Elektrifizierungsprojekte, indem er sie - ausgehend vom Fall des Hochrheinkraftwerks Rheinfelden - auf der Diskursebene als "branchenspezifischen Lernprozess" analysiert (S. 225ff., 243).
Gerade diese Synthesen von Diskursanalyse und linguistisch "nicht gewendeter" strukturgeschichtlicher Argumentation gehoeren zu den staerksten Abschnitten der Studie. Vor allem die pragmatische Verknuepfung von "realer Realitaet" und wahrgenommener, gesellschaftlich gedeuteter und produzierter Realitaet hat den Rezensenten ueberzeugt. Paradoxerweise lag das, nimmt man den Autor beim Wort, gar nicht in seiner Absicht - die (augenzwinkernde) Frage sei deshalb erlaubt, ob hier moeglicherweise ein voellig andersgearteter Diskurs sich Gugerlis Text bemaechtigt und darin zum Ausdruck gebracht hat, ohne dass es dem Autor bewusst war. Eine Hauptursache fuer solche Widersprueche scheint in der Inkonsistenz von Gugerlis Diskursbegriff zu liegen, der sich ausdruecklich auf Redeweisen beschraenkt (S. 13) und zugleich mit dem Anspruch auftritt, die Praxis vollstaendig zu dominieren. Dieser Anspruch wird dann aber im Lauf der Arbeit zugunsten einer Aufwertung dieser Praxis kraeftig reduziert (bes. deutlich auf S. 133f.). Ein erweitertes Verstaendnis von Diskurs als Redeweise plus Praxis und eine Untersuchung der Redeweisen als integraler Teil des konkreten Elektrifizierungsprozesses koennte hier wohl einen Ausweg bieten, wie die erwaehnten Beispiele einer ueberzeugenden Kombination von linguistischer und strukturgeschichtlicher Argumentation belegen. Der umfassende revisionistische Anspruch des Autors liesse sich dann freilich ebensowenig aufrechterhalten wie der stets hervorgekehrte Pionier-Charakter der Untersuchung. Sie wuerde dann etwa auf einer Stufe mit der wegweisenden, von Gugerli leider nicht zitierten Aachener Dissertation Gilsons aus dem Jahr 1993 (1) anzusiedeln sein. Anhand des Diskurses ueber Grosskrafterzeugung und Verbundwirtschaft in der Elektrizitaetswirtschaftslehre ist hier exemplarisch der Prozess der gesellschaftlichen Verstaendigung ueber grundlegende Systemregeln der Elektrifizierung herausgearbeitet und jene fundamentale Entscheidung zwischen real vorhandenen Alternativen rekonstruiert worden, durch die das betriebswirtschaftliche Rentabilitaetskalkuel der Stromerzeugung gegenueber der gesamtvolkswirtschaftlichen Wirtschaftlichkeitsrechnung einer integrierten Kraft-Waermenutzung auf Jahrzehnte hinaus durchgesetzt wurde.
Gugerlis Arbeit selbst verliert durch solche Einschraenkungen keineswegs an Wert, sondern demonstriert ueberzeugend und umfassender als das skizzierte Beispiel der Elektrizitaetswirtschaftslehre, wie bisherige Sichtweisen durch Einbeziehen der linguistischen Perspektive gewinnbringend zu erweitern sind. Tatsaechlich naehert Gugerli seine Argumentation einer solchen mittleren Linie zwischen dem "autodynamischen Technikmodell" und seiner "soziologischen Reduktion" Schritt fuer Schritt an. Er bringt sie schliesslich auf die durchaus konsensfaehige Formel, dass Elektrotechnik und Elektrizitaetswirtschaft von "zunehmend kohaerenteren politischen und ideologischen Bedeutungen b-e-l-e-g-t wurden" und dass durch die diskursive Leistung der Redestroeme eine "wechselseitige Kompatibilisierung" von Elektrotechnik und Gesellschaft, von politischem und technischem System erreicht worden sei (S. 247f., Hervorhebung des Autors).
Durch den erklaerten Ausschliesslichkeitsanspruch, der nicht eingeloest wird und de facto einer vermittelnden Position Platz machen muss, setzt sich der Autor voellig unnoetig der Kritik aus. Nicht allein dieser konzeptionelle und verbale Radikalismus, sondern auch die poststrukturalistische Manieriertheit von Gugerlis eigenem Diskurs und die ueppige Verwendung eines elektrotechnisch und rhetorisch gleichermassen aufladbaren Verbalinstrumentariums treibt selbst den wohlwollendsten Leser stellenweise regelrecht zur Verzweiflung. An erster Stelle steht hier neben den ueberall fliessenden "Redestroemen" der zentrale Begriff der "Anschlussfaehigkeit" (der Technik und des Diskurses) und seiner Derivate wie "Assoziationsangebote und Anschluesse" (der Bogenlampe bzw. der Gluehlampe), "Schaltstellen" und Anschluss- bzw. "Referenzpunkt", "kommunikative Anschlusshandlungen" etc., daneben auch die "Uebertragbarkeit" sowie als eindeutiger Hoehepunkt die "Uebertragbarkeit der Uebertragbarkeit", also der diskursiven Uebertragbarkeit der technischen Uebertragungsfaehigkeit der Elektrizitaet (S. 28, 38 - 41, 63f., 72, 83f., 87, 108f., 119, 125, 150 u. oe.). Uebelwollende Rezipienten werden damit nicht nur die Ergebnisse der Untersuchung als im wesentlichen sprachlich konstruiert disqualifizieren, sondern - so sie auf der Hoehe der gegenwaertigen Theoriedebatte stehen - dadurch moeglicherweise auch angeregt, die Arbeit selbst durch die diskursanalytische Brille zu betrachten, d. h. sie nicht als Untersuchung ueber die Geschichte der Schweizer Elektrifizierung, sondern als "Text" ueber die Verirrungen postmoderner Wissenschaft im allgemeinen und ueber die Profilierungszwaenge der juengeren Historikergeneration im besonderen zu lesen.
Es waere jedoch bedauerlich, wenn diffamierende Kritik die konstruktive Rezeption dieser Arbeit behindern wuerde, die zweifellos zu den wichtigsten technikhistorischen Neuerscheinungen der letzten Jahre zaehlt. Denn wenn sich der Rezensent abschliessend fragt, wie es um die "Anschlussfaehigkeit" von Gugerlis Arbeit fuer die Geschichtswissenschaft und um ihre "Assoziationsofferten" bestellt ist, was das Verstaendnis der eidgenoessischen Elektrifizierung im besonderen und die Genese grosstechnischer Systeme im allgemeinen angeht, so gelangt er vorbehaltlich der aufgefuehrten Kritikpunkte und entgegen seiner anfaenglichen Skepsis zu einem positiven Ergebnis. Mit seinen "Redestroemen" hat Gugerli nicht nur eine hoechst lesenswerte Studie ueber die Elektrifizierung der Schweiz vorgelegt, die ueber bisherige Untersuchungen zu diesem Thema weit hinausgeht und der kuenftigen Forschung wichtige Impulse gibt, er hat vor allem einen wichtigen Beitrag zur Theoriedebatte geleistet und demonstriert, welches Potential eine kulturhistorische Erweiterung - auch wenn der Autor dies selbst etwas anders sehen mag - gerade fuer die Technikgeschichte besitzt. Nicht in der Betonung der mittlerweile sattsam bekannten und weithin akzeptierten sozialen Bedingtheit von Technik liegt die besondere Bedeutung der Studie, sondern darin, dass sie konkret vorfuehrt, wie die gesellschaftliche Konstruktion von Technik - oder in Gugerlis Terminologie ausgedrueckt: das "Belegen" konkreter technisch-wirtschaftlicher Ordnungen mit kulturellen Bedeutungsinhalten - bewerkstelligt wurde. Gerade weil die "Redestroeme" diesen Prozess derart zugespitzt - und damit notwendigerweise einseitig - schildern, werden sie ebenso provozierend wie anregend wirken und die Forschung nicht nur polarisieren, sondern ein gutes Stueck weit auch mobilisieren.
Anmerkung:
(1) Norbert Gilson: Konzepte von Elektrizitaetsversorgung und Elektrizitaetswirtschaft. Die Entstehung eines neuen Fachgebietes der Technikwissenschaften zwischen 1880 und 1945, Stuttgart 1994.