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Titel
Die Macht der Dürre. Wasser und Politik in Brasilien in der Zeit von Epitácio Pessoa (1877–1930)


Autor(en)
Neufert, Tim
Reihe
Lateinamerikanische Forschungen 45
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kevin Niebauer, Freie Universität Berlin

Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen, die der anthropogene Klimawandel mit sich bringt, hat das Verhältnis von Klima und Politik in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft an Relevanz gewonnen.1 Manche Weltregionen wurden von diesem Zusammenhang schon seit längerer Zeit geprägt. Hierzu zählt zweifellos der brasilianische Nordosten. Auch deshalb stellt die Region ein etabliertes Forschungsfeld in den brasilianischen Sozial- und Kulturwissenschaften dar. Tim Neufert ist es gelungen, mit seiner historischen Diskursanalyse ein bekanntes Themenfeld so zu beleuchten, dass sich einige maßgebliche und gegenwartsnahe Schlüsse ziehen lassen. Auf ein umfangreiches Quellenkorpus gestützt, befasst sich die Dissertation mit der diskursiven Konstruktion der Dürre und des brasilianischen Nordostens im 19. und 20. Jahrhundert. Neufert berücksichtigt unter anderem parlamentarische Dokumente, Presseberichte, private Korrespondenzen und literarische Werke.

Mit seinem Fokus auf die herausragende Rolle des Oligarchen und Politikers Epitácio Pessoa (1865–1942) bei der Entstehung und Etablierung von Dürrediskurs und Dürrepolitik schließt Neufert eine Forschungslücke. Die argumentative Gliederung folgt dem dreistufigen Schema „Politisierung“ nach 1877/79, „gesellschaftliche Entfaltung des Dürrediskurses“ und „Instrumentalisierung des Naturereignisses“ (S. 38). In Anlehnung an Foucault und Bourdieu möchte Neufert „Diskurse im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen den sozialen Bedingungen ihrer Produktion und den Auswirkungen ihrer Zirkulation bzw. Rezeption“ (S. 25) untersuchen. Die Studie setzt 1877 an, dem Beginn einer dreijährigen Trockenzeit im Nordosten Brasiliens, die zahlreiche Opfer nach sich zog. Diese Episode markierte einen „richtungsweisenden Einschnitt für die Perzeption und Bedeutung der Trockenperioden“ (S. 365). Neben Pessoa rücken auch Akteure wie die Kirche, Ingenieure, Journalisten, Literaten und Volksdichter ins Blickfeld, um die Genese von Dürrediskurs und Dürrepolitik zu rekonstruieren. Für sämtliche Diskursträger stellt Neufert fest, dass sie sich trotz unterschiedlicher Ziele allesamt an den Staat richteten und einem „Trümmerfeld der allgemeinen Krise“ (S. 195f.) entsprangen. Diese fußte jedoch nicht primär auf den Trockenperioden, wie der hegemoniale Dürrediskurs zunächst vermuten ließe. Vielmehr wird in der Studie deutlich, dass die Krise einer ganzen Region auf das Zusammenspiel von Trockenheit, Binnenmigration und Wirtschaftsdepression zurückzuführen war. In makroökonomischer Hinsicht machte sich die Abhängigkeit einer exportorientierten Ressourcenökonomie von instabilen Weltmarktkonjunkturen bemerkbar. Für den Nordosten brachten die sinkenden Zuckerpreise die meisten Probleme. Um eine drohende Abwanderung der Landbevölkerung, auf deren Verfügbarkeit und Ausbeutung die Macht der Oligarchen der Region fußte, abzuwenden, sahen sich die Landbesitzer deshalb zum Handeln gezwungen. Neufert zeigt, dass sich in dieser Situation die politische Instrumentalisierung der ‚Großen Dürre‘ als probates Mittel für diese gesellschaftliche Gruppe erwies, um ihre Interessen zu sichern und auszuweiten. Ausgehend von der staatlichen Dürrebekämpfung ab 1877 unterteilt Neufert die diskursiven Formationen in „Erfindung, Umsetzung und Konservierung der Dürrestrategie“ (S. 39). Seine Arbeit stellt auch eine dezidierte Kritik an einer brasilianischen Historiografie des Nordostens dar, deren Umgang mit den Legitimationsstrategien der dortigen Agrarelite Neufert als zu nachsichtig beurteilt. Es habe sich aufgrund der Antagonismen zwischen Nord-und Südbrasilien ein „Solidarisierungstopos“ um den „seit jeher benachteiligten Nordosten“ herausgebildet, der die kritische Beleuchtung der nordöstlichen Dürrepolitik erschwere (S. 389).

Für den Autor ist dies Anlass genug, um ein Gegennarrativ zu wagen, indem er sich gleich mit zwei Lichtgestalten der brasilianischen Geschichte – Epitácio Pessoa und Euclides da Cunha – kritisch auseinandersetzt. Neufert entlarvt Pessoas paternalistisch-opportunistisches Vorgehen unter Rückgriff auf einen Dürrediskurs, der unter dessen Präsidentschaft zur staatlichen Dürrepolitik weiterentwickelt wurde. Mit Blick auf Da Cunhas Klassiker „Os Sertões“ (1902) stellt er dar, wie dessen ambivalente Beschreibungen des brasilianischen Nordostens mitunter von Pessoa politisch instrumentalisiert wurden. Das Nationalepos sollte das sozialwissenschaftliche Denken Brasiliens im Hinblick auf Dürre und Hinterland wie kaum ein anderes Werk prägen. Dürrepolitik und Modernisierungsdiskurs der nordöstlichen Oligarchen beriefen sich auf Da Cunhas Dürre- und Menschenbilder, um staatliche Investitionen einzufordern. Dadurch konnte die arme Landbevölkerung des Nordostens „je nach argumentativer Notwendigkeit“ im Sinne oligarchischer Interessen „typisiert“ werden, wobei diese Typisierungen durchaus unterschiedlich ausfielen (S. 372).

Epitácio Pessoas politische Karriere hatte 1889 mit der Proklamation der brasilianischen Republik begonnen und endete mit den Umbrüchen um 1930. Anhand einer beeindruckenden Fülle an Dokumenten weist Neufert nach, wie die regionale Oligarchie unter der Federführung Pessoas die „Dürrepolitik als Instrument der politischen Patronage und zur Förderung der oligarchischen Wirtschaftsinteressen“ (S. 37) etablierte. Die wiederkehrenden Reaktionen von staatlicher Seite (Infrastrukturprogramme, Arbeitsdienste, Hilfsgüter) waren in der Regel auf kurzfristige Wirkung ausgerichtet, ohne soziale Reformen in Erwägung zu ziehen. Im Zweifelsfall sollten diese mithilfe der Dürrepolitik sogar gezielt verhindert werden. Die im Nordosten immer wieder auftretende Trockenheit avancierte ab 1877 zum „Streitross der regionalen Agrarelite“ (S. 82), um im interregionalen Verteilungswettkampf um finanzielle Ressourcen bestehen zu können. Die mannigfaltige Krise des Nordostens veranlasste die Landbesitzer dazu, sich gegenüber dem Süden als benachteiligte und vergessene Region zu positionieren. Dies gelang am wirkungsvollsten mithilfe des Dürrediskurses, mit dem der Nordosten überhaupt erst als Region mit einer spezifischen Identität und Geschichte definiert beziehungsweise „erfunden“ (S. 33) werden konnte. Wenn Neufert also von ‚Dürre‘ spricht, meint er dies im Sinne einer konstruierten sozialen Realität, der ein klimatisches Phänomen zugrundelag. Um den Konstruktionscharakter der Dürre als „autoreferentielles System“ (S. 403) hervorzuheben, unterscheidet er ersteren Begriff von jenem der „Trockenperiode“, mit dem das meteorologische Phänomen bezeichnet wird. Statt ‚Erfindung‘ hätte womöglich ein anderer analytischer Begriff bemüht werden können, um die Vielschichtigkeit eines realen Klimaphänomens im Sinne eines ‚gesellschaftlichen Naturverhältnisses‘ präziser erfassen zu können.

Neben der Oligarchie im Nordosten erlebte auch die Kirche in der Ersten Republik einen deutlichen Machtverlust, den es mit Rückgriff auf die Bürde der Dürre zu kompensieren galt. Aus diesem Grund thematisierten Kirchenvertreter die Dürre und ihre verheerenden Auswirkungen nicht im Zusammenhang mit ungerechten Landbesitzstrukturen oder unzureichenden, ineffizienten Vorkehrungen, sondern als ‚natürliche‘ oder ‚göttliche‘ Heimsuchung. Neufert zeigt mit Blick auf die heutige Situation, dass die politische Auseinandersetzung mit der Trockenheit in Brasilien eine erstaunliche Kontinuität aufweist – im Diskursiven wie im Praktischen. Dazu passt, dass Epitácio Pessoa trotz nachgewiesener Veruntreuungen noch heute als der große Wohltäter des Nordostens betrachtet wird. Es gehört zu den vielen Ungerechtigkeiten der brasilianischen Geschichte, dass es vor allem die Oligarchen um Pessoa waren, die von den Hilfsleistungen im Rahmen der staatlichen Dürrebekämpfung profitierten.

Neufert ist es auf instruktive Weise gelungen, zentrale Probleme der brasilianischen Geschichte und Gegenwart am Beispiel des Dürrediskurses zu veranschaulichen. Hierzu gehören inter- und intraregionale Antagonismen, die Wirkmacht exportorientierter Rohstoffzyklen und die alles durchdringende Problematik der sozialen Ungleichheit. Die Studie hätte angesichts ihrer Fragestellungen zu Gesellschaft und Natur durchaus als Umweltgeschichte operieren können, worauf der Autor jedoch verzichtet hat. Dass die ‚Macht der Dürre‘ auf über 400 Seiten nie an Dynamik verliert, ist nicht zuletzt dem kohärenten und flüssigen Schreibstil des Autors geschuldet.

Anmerkung:
1 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2009), S. 197–222.

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