St. Moebius: René König und die "Kölner Schule"

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Titel
René König und die "Kölner Schule". Eine soziologiegeschichtliche Annäherung


Autor(en)
Moebius, Stephan
Erschienen
Wiesbaden 2015: Springer VS
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 16,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Fabian Link, Historisches Seminar, Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der an der Universität Graz lehrende Soziologiehistoriker und Kultursoziologe Stephan Moebius hat ein kurzes Buch über René König geschrieben. Nebst Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Helmut Schelsky steht König für eine der drei Akteursgruppen, die die Soziologie der jungen Bundesrepublik maßgeblich bestimmten.1 Deshalb steht im Titel nicht der Name des großen Mannes allein, sondern auch die Zuschreibung „Kölner Schule“. Wie Oliver Römer in seiner Rezension von Moebius' Buch hervorhebt, war eine solche Abhandlung längst überfällig. Es entbehre nicht einer gewissen Ironie, so Römer, dass ausgerechnet jene Schule, die vermutlich den größten Beitrag zur Institutionalisierung des Faches Soziologie an den deutschsprachigen Universitäten nach 1945 geleistet hatte, im Vergleich mit den anderen beiden Akteursgruppen, der „Frankfurter Schule“ (Horkheimer/Adorno) und der „Münsteraner Schule“ (Schelsky), bisher kaum historisch gewürdigt worden sei.2 Dem ist zuzustimmen, insbesondere deshalb, weil mittlerweile die gesammelten Schriften samt Korrespondenzen Königs vollständig vorliegen.3 Insofern ist Moebius' Buch zu König und der „Kölner Schule“ als erster Beitrag zu einer umfassenderen Historisierung dieser entscheidenden Richtung der bundesrepublikanischen Soziologie zu werten.4

Moebius sieht das Verhältnis Königs zu Horkheimer/Adorno und Schelsky als Konkurrenzverhältnis, aus dem die spezifische Position Königs und seiner Kölner Gefolgsleute im Feld der westdeutschen Soziologie hervorgegangen war. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Konkurrenzverhältnis allerdings durch strategische Bündnisse in fachlicher und politischer Hinsicht überdeckt; bis Mitte der 1950er-Jahre herrschte bei allen drei Schulen der Grundkonsens, dass die deutsche Soziologie sich Methoden der US-amerikanischen Sozialforschung aneignen, sich dem internationalen sozialwissenschaftlichen Diskurs anschließen und zum gesellschaftlichen Demokratisierungsprozess beitragen sollte. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die empirische Sozialforschung quantitativer Ausrichtung, die König explizit förderte. Empirische Sozialforschung wurde sowohl von den US-amerikanischen Besatzern als auch von den Soziologen als eine Methode der Reeducation der Westdeutschen angesehen. Erst mit der zunehmenden akademischen Etablierung des Fachs Soziologie und dem außerakademischen Ausbau sozialwissenschaftlicher Forschung ab Mitte der 1950er-Jahre zeigten sich die epistemischen, aber auch politisch-weltanschaulichen und philosophischen Differenzen zwischen den Schulen, insbesondere zwischen remigrierten Sozialwissenschaftlern wie König, Horkheimer/Adorno oder Helmuth Plessner und „Dabeigewesenen“ wie Schelsky oder Arnold Gehlen. Diese Konflikte traten im Rahmen des Soziologentages 1959 erstmals öffentlich zutage und fanden ihren Niederschlag im sogenannten „Positivismusstreit“, der sich 1961 abspielte. König positionierte sich dabei sowohl gegen die kritisch-theoretische Sozialforschung Frankfurter Provenienz als auch gegen Schelskys und Gehlens Umgang mit der Empirie.

Dass wissenschaftliche „Schulen“ oft das Ergebnis von Zuschreibungen sind und nur bedingt der Eigenwahrnehmung einer Akteursgruppe entsprechen, sieht Moebius klar. Deshalb geht er im Hauptteil des Buchs der Formierung der „Kölner Schule“ wissenschaftssoziologisch auf den Grund. Eine Schule braucht „ein Schuloberhaupt, eine spezifische ‚paradigmatische‘ Lehre bzw. ein Programm, eine Zeitschrift und eine sich mit der Lehre identifizierende Schülerschaft mit diffundierender Wirkung.“ (S. 33) Moebius sieht in Königs Habitus – fachlich anregend, eine humanistische Moral vertretend, die „die Integrität des Menschen als sozialkulturelle Persönlichkeit“ schützte (Zitat König, S. 50), kosmopolitisch gesinnt und begnadet vortragend – die zentrifugale Kraft für die Herausbildung der „Kölner Schule“. Für diesen Habitus waren Königs Sozialisationsphasen ausschlaggebend. König war Sohn einer bürgerlichen Industriellenfamilie, hatte eine französische Mutter und einen deutschen Vater, engagierte sich im linken Flügel der Wanderbewegung, eignete sich früh ein intellektuelles Selbstverständnis an und war von Anfang an antirassistisch eingestellt. Diese habituelle Disposition wird sich auch später nicht verändern, insbesondere wird König die intellektuelle humanistische Haltung eng mit seiner Soziologie verschnüren.

Die Habilitation an der Universität zu Berlin wurde König verwehrt, stattdessen emigrierte er 1937 in die Schweiz und habilitierte sich 1938 an der Universität Zürich mit einer Schrift über Émile Durkheim. König kam 1946 mit der US-amerikanischen Militärregierung in Kontakt; mit Edward Y. Hartshorne, dem wichtigsten Universitätskontrolloffizier beim High Commissioner of Germany (HICOG), besprach König eine realistische Konzeption der Reeducation und wurde von den Amerikanern eingeladen, an den Universitäten München, Köln und Marburg Vorlesungen zu halten. 1949 erfolgte ein Ruf an die Universität Köln als Nachfolger Leopold von Wieses, dem König nach Verhandlungen mit Zürich und Frankfurt am Main 1953 schließlich Folge leistete. Trotz Anfeindungen in Deutschland wollte er „die neue Generation im demokratischen Sinne“ (Zitat König, S. 48) erziehen. Wie auch im Falle Horkheimers und Adornos halfen die internationalen Kontakte, insbesondere zu US-amerikanischen Kollegen, und die Bemühungen, die Forschungstechniken der US-amerikanischen empirischen Sozialforschung in Deutschland stark zu machen, seine wissenschaftliche Position zu festigen. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren entwickelte König eine ungeheure Produktivität, deckte fast alle soziologischen Bereiche ab und publizierte Werke wie das Soziologie-Lexikon im Fischer-Verlag, das mit 400 000 verkauften Exemplaren eines der meistverkauften wissenschaftlichen Fachbücher wurde.

In den nachfolgenden drei Kapiteln geht Moebius auf Königs Lehre, seine Schüler und die „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ ein. Vier Eckpunkte lagen Königs Soziologie zugrunde, die sich insbesondere in der Lehre zeigten: 1. strukturfunktionalistische Ethnologie, 2. französische Theorie, 3. US-amerikanische Sozialforschung, 4. Soziologie als moralistische Gegenwartswissenschaft. Im Gegensatz zu Schelskys und Gehlens Rezeption Malinowskis und Radcliffe-Browns, die mehr die Funktion der Institution in den Blick nahmen, verwendete König die Kulturanthropologie zur „interkulturellen Kommunikation“, um die Entwicklungsproblematik der Dritten Welt anzugehen. Ab 1953 reiste er mehrere Male zu den Navajo-Indianern, um Feldforschungen zu betreiben. Kultur als „inhärenter Bestandteil des sozialen Geschehens“ (Zitat König, S. 60) und die Integration von durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft neu entstandenen sozialen Gruppen als Ziel einer analytischen Soziologie waren Königs zentrale intellektuelle Orientierungen. Besonders die Durkheim-Schule war sowohl für Königs Kultur- und Gesellschaftsbegriff ausschlaggebend als auch für seine aufklärerisch-soziologische Haltung. Soziologie hatte für König immer auch die Aufgabe, die Menschen zu emanzipieren und die Menschenwürde zu sichern, sie war für ihn „Werkzeug der Kritik und Opposition“ (Zitat König, S. 70).

Am Ende des Buchs werden die wichtigsten Schüler Königs vorgestellt, so Erwin K. Scheuch, Peter Heintz, Dietrich Rüschemeyer und Peter Atteslander. An der Schülergeneration stellt Moebius auch die Brüche zwischen den Schülern und König dar, so etwa zwischen Scheuch und König aufgrund der Studentenproteste 1968, denn Scheuch setzte sich gegen die Neue Linke ein, indem er mit Wilhelm Hennis, Hermann Lübbe und Ernst Nolte den „Bund Freiheit der Wissenschaft“ gründete. Auch Peter Heintz zerwarf sich mit König um 1960. Gemeinsam war allen Schülern der starke Bezug zur Soziologie und empirischen Sozialforschung der Vereinigten Staaten. Sie stimmten auch darin überein, dass sie sich zwar nicht zu einer Schule im engeren Sinne zugehörig fühlten, dass im Kreis um König jedoch durchaus ein von allen Beteiligten geteiltes Vorverständnis über Gesellschaft und Methoden herrschte, für das, wie Moebius überzeugend darlegt, Königs Habitus ausschlaggebend war.

Moebius' Buch ist keine kritische Auseinandersetzung mit René König, sondern will eine Einführung in Königs Soziologie mit wissenschaftshistorischem Anspruch sein. Darin liegt auch die spezifische Problematik des Werks: Moebius bleibt in der Darstellung sehr eng an der Selbstsicht Königs und seiner Schüler haften. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand Königs Selbstverständnis als Soziologe, der „angewandte Aufklärung“ betrieb und sich „gegen jede Machtausübung von welcher Seite auch immer“ (S. 70) wandte. Ratio und Vernunft standen für König gegen Macht und Herrschaft, ohne dass er, wie etwa Horkheimer und Adorno, seinen Vernunftbegriff kritisch reflektiert hätte. Eine tiefer greifende Analyse von Königs Erkenntnisgrundsätzen, insbesondere der Spannung zwischen seinem sozialphilosophischen Aufklärungsanspruch und einer Soziologie, die „nichts als Soziologie“ sein sollte, hätte die allzu reibungslose Herleitung von Königs Habitus womöglich etwas facettenreicher gestalten können. Hier ist insbesondere daran zu denken, dass König in den mittleren 1930er-Jahren eine Annäherung an die nationalsozialistischen Machthaber gesucht hatte, die allerdings auf keine Gegenliebe stieß. War dies wirklich reiner Opportunismus? Moebius zitiert zustimmend eine Aussage Hans Peter Thurns, die bezeugt, dass Königs zeitweises Schwanken zwischen Demokratie und Diktatur für ihn ein Trauma dargestellt habe, dessen Bewältigung ausgesprochen schwierig gewesen sei. Hier hätte der Leser gerne erfahren, in welcher Weise sich dieses habituelle Trauma auf Königs Haltung und Handeln als Soziologe in der Bundesrepublik ausgewirkt hat.

Die angeführten Kritikpunkte trüben den Lesegewinn dieses Buchs kaum. Auf so wenigen Seiten eine konzise und ausgesprochen gut lesbare Intellektuellenbiographie zu schreiben, ist eine Kunst, die Moebius meisterhaft beherrscht. Der Leser hofft gespannt auf weitere Arbeiten dieses Autors zu Leben, Werk und Wirken René Königs.

Anmerkungen:
1 Aus der Beschäftigung Moebius' mit König ist ein weiteres Buch hervorgegangen: Stephan Moebius, René König. Wegbereiter der bundesrepublikanischen Soziologie, Wiesbaden 2016.
2 Oliver Römer, Rezension „René König und die ‚Kölner Schule‘“, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten, 21.09.2015, <http://www.soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/rene-koenig-und-die-koelner-schule/> (13.05.2016).
3 René König, Schriften. Ausgabe letzter Hand, hrsg. von Heine von Alemann / Hans-Joachim Hummel / Oliver König / Hans Peter Thurn, Bd. 1–20, Opladen 1998–2014.
4 Vgl. die bisher erschienen Abhandlungen zu König: Heine von Alemann / Hans Peter Thurn (Hrsg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum 75. Geburtstag, Opladen 1981; René König. Soziologe und Humanist. Texte aus vier Jahrzehnten, Hrsg. von Oliver König und Michael Klein, Opladen 1998; Volker Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“ oder „Wirklichkeitswissenschaft“? Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Königs und Max Webers, Frankfurt am Main 1999; Klaus Veddeler, Rechtsnorm und Rechtssystem in René Königs Normen- und Kulturtheorie, Berlin 1999.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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