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Titel
Chesucristo. Die Fusion von Che Guevara und Jesus Christus in Bildern und Schriften


Autor(en)
Kunzle, David
Reihe
Zurich Studies in the History of Art 20/21
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lukas Böckmann, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

Anfang der 1980er-Jahre führte der brasilianische Theologe Frei Betto mehrere Interviews mit Fidel Castro. Während eines dieser Gespräche sagte der Máximo Líder der Kubanischen Revolution über seinen verstorbenen Gefährten Ernesto „Che“ Guevara, „[w]enn Che ein Katholik und ein Mitglied der Kirche gewesen wäre, würde man anerkennen, dass er alle notwendigen Tugenden hatte, um zum Heiligen erklärt zu werden“.1 Die bereits zu Lebzeiten Guevaras einsetzende Wandlung der historischen Person in eine multivalente Ikone nahm nach dessen Tod im bolivianischen La Higuera, und darauf deutet Castros Zitat hin, zunehmend religiöse Züge an. Mit seiner zu Beginn dieses Jahres erschienenen Studie hat der am Art History Department der University of Los Angeles lehrende Kunsthistoriker David Kunzle diese Stilisierung Guevaras zu einer, wie Wolfgang Kersten im Vorwort des Bandes schreibt, „christomorphen Figur“ nun auf einen international verständlichen, titelgebenden Begriff gebracht: Chesucristo.

Die in der Reihe Zurich Studies in the History of Art publizierte Studie sucht, wie im Untertitel ausgewiesen, die „Fusion von Che Guevara und Jesus Christus in Bild und Text“ zu ergründen. Dabei nähert sich Kunzle, der neben Otto Karl Werckmeister als maßgeblicher Vertreter einer marxistisch-sozialgeschichtlichen Kunstgeschichte gilt, seinem Gegenstand weniger aus einer geistesgeschichtlichen, über die Biographie Guevaras vermittelten Perspektive, als vielmehr über unzählige, zumeist posthum entstandene, künstlerische Annäherungen an sein politisches Wirken. Der so präsentierte Querschnitt von selbst zu ikonographischen Emblemen aufgestiegenen Werken ist in seiner Umfänglichkeit sicher eines der großen Verdienste des Buchs. Das untersuchte Material umfasst etwa die wohl bekannteste Fotographie des 20. Jahrhunderts, das Porträt „Guerrillero Heroico“ von Alberto Korda, oder auch die Dichtung Eduardo Galeanos, sowie internationale Werbekampagnen und im europäischen Kontext weniger bekannte Arbeiten lateinamerikanischer Künstlerinnen und Künstler bis hin zu abseitigen, kaum reproduzierten und oftmals im Privaten entstandenen Drucken, Gemälden oder Skulpturen.

Untergliedert in 13 Kapitel entfaltet Kunzle dieses Material, um den Vergleich von Jesus und Guevara „ernst zu nehmen und nicht nur oberflächlichen oder frivolen Ausführungen zu überlassen“ (S. 13). Er zielt darauf, jenseits jeder Idealisierung, die beide Figuren erfahren haben, die „These einer realen oder symbolischen Ähnlichkeit zwischen Che und Jesus“ (S. 19) zu überprüfen. Möglich geworden sei diese Konvergenz zweier zunächst antagonistischer Ikonen durch ineinander fallende Entwicklungen: Einerseits die unter dem Einfluss der Befreiungstheologie (2. Kapitel, S. 67–87) entstandene Neuinterpretation des Lebens und Werk Jesu ab den 1960er-Jahren. In deren Verlauf sei, wie Joel Carmichael2 für Kunzle treffend zusammenfasst, das Bild eines sozialrevolutionären Jesus entworfen worden, „der in die bewaffneten Aufstände gegen die Römer unmittelbar involviert war“ (S. 40). Komplementär zu dieser Verschiebung vollzog sich eine zweite Entwicklung, die Kunzle als „stille und schrittweise Entwaffnung Che Guevaras“ (S. 19) beschreibt. Im Fokus des hierzu entwickelten Arguments stehen Guevaras kanonisierter Ausspruch, „dass der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der Liebe geleitet wird“3 (4. Kapitel, S. 106–132) sowie die bereits erwähnte Fotographie Kordas (5. Kapitel, S. 135–170). „Dieses Bild eines von kalter Wut ergriffenen Mannes“, aufgenommen im März 1960, wird, wie der von Kunzle zitierte Pierre Kalfon schreibt, „zur Ikone des Revolutionärs mit dem Gesicht eines Erzengels, zart, fast mystisch“.4 Als Hochkontrastbild findet sich die Fotographie in unzähligen Varianten als universelles, gleichsam entleertes Symbol politischen Unbehagens und des Strebens nach sozialer Veränderung. Insofern es eines der wenigen Bilder Guevaras ist, auf dem er entgegen seiner Gewohnheit keine Uniform trägt, hat es für Kunzle maßgeblich an der Erhöhung des Guerilleros zu „einer Ikone der Liebe“ (S. 149), die seine Verchristlichung erst ermöglichte, mitgewirkt.

Nach diesen, das eigentliche Feld erst eröffnenden Kapiteln, verbleiben die restlichen Abschnitte des Buches etwas unentschieden. So stehen die Beispiele gemeinsamer Symbolsprache von Christentum und Guevara (7. Kapitel), Reliquienverehrung und Wundermythen (8. Kapitel), Guevaras Verchristlichung in Lyrik und Drama (9. Kapitel) oder Film, Videos und Multimedia (11. Kapitel), seine Rezeption durch die anglikanische Kirche (10. Kapitel) sowie seines Todes in der Kunst (12. Kapitel) und der „Passion Ches“ (13. Kapitel) wenig vermittelt nebeneinander. Als verbindendes Element sowohl der Kapitel als auch der dort vorgestellten Arbeiten dient lediglich die mehr oder minder ausgeformte Analogie zwischen Jesus Christus und dem argentinischen Revolutionär. Dabei wirft Kunzle durchaus erkenntnisleitende Fragen auf: So beispielsweise wie sich die Verchristlichung Guevaras in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas oder der Welt unterscheidet oder weshalb er gerade im vergleichsweise unchristlichen Kuba in besonderem Maße auf eine religiöse, Transzendenz, Unsterblichkeit und Erleuchtung betonende Weise verehrt wird. Gerade eine systematische Auseinandersetzung mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung jener Christusvergleiche in der Rezeption des Guerilla-Kämpfers und die Kontextualisierung ihrer gesellschaftspolitischen Funktion, hätten – gespeist aus dem immensen empirischen Material Kunzles – Erkenntnisse zu den Wahlverwandtschaften zwischen christlicher Eschatologie und revolutionärer Hoffnung befördern können, die über bereits bestehenden Arbeiten hinausweisen.5 Kunzle hingegen bedient sich seines Quellenmaterials weil, wie er schreibt, die Bilder auch „ohne einen biografischen Kontext [...] Einblicke in das Wesen dieses Mannes [Guevara]“ (S. 354–255) geben würden. So sucht der Autor die historische Figur Che Guevaras über dessen Rezeption in der Kunst zu erschließen. Dabei setzt er seinen im Vorwort formulierten Anspruch, nicht aus einem „latenten Verlangen nach ‚akademischer Ausgewogenheit‘ heraus, den zahlreichen positiven Schilderungen lediglich eine Reihe von Beispielen für die böse, mörderische Seite Ches“ (S. 12) entgegenzuhalten, zielstrebig um. Wohl aus dieser Motivation heraus verzichtet er auch in Fällen wie der Einweisung Homosexueller in Arbeitslager6 oder den durch Guevara angeordneten Hinrichtungen, darauf, die Beteiligung seines Protagonisten herauszustellen. Hier wäre die Wahrung historischer Genauigkeit wünschenswert gewesen anstatt Guevara vollständig zu exkulpieren.

Wenn Kunzle ihn fast zu einer Ikone der Schwulenbewegung stilisiert (S. 166–167), erscheint es geradezu so, als sei der Autor, ebenso wie seinerzeit Fidel Castro, dem verlockenden Sog der Heiligsprechung Guevaras erlegen. Damit gerät sein Buch, wenn er schreibt „[Ches] moralische und politische Bedeutung wird alles überleben, was seinem Bild an Demütigungen und Trivialisierungen zugemutet wird; hinter dem T-Shirt – manchmal auch sehr weit dahinter – verbirgt sich ein beständiges Vorbild“ (S. 31) im eigentlichen Sinne zur Hagiographie Sankt Ernestos.

Anmerkungen:
1 Frei Betto, Fidel Castro y la Religión. Conversaciones con Frei Betto, México 1988 (1. Aufl. 1986), S. 376.
2 Joel Carmichael, The Birth of Christianity. Reality and Myth, New York 1989.
3 Ernesto Guevara, Socialismo y el hombre en Cuba, in: Marcha, 12.03.1965, zit. n. Kunzle S. 106.
4 Pierre Kalfon, Che Ernesto Guevara. Une légende du siècle, Montrouge 1997, S. 286f.
5 Siehe hierzu bspw. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Berlin 1997; Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004.
6 Jorge Castañeda, Compañero. The Life and Death of Che Guevara, New York 1998, S. 178; Jon Lee Anderson, Che. A Revolutionary Life, New York 1997, S. 170.