H. Sundhausen u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Titel
Lexikon zur Geschichte Südosteuropas.


Herausgeber
Sundhaussen, Holm; Clewing, Konrad
Erschienen
Anzahl Seiten
1.102 S., 10 Karten
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Ein Lexikon zur Geschichte Südosteuropas ist eine enorme Herausforderung, die nur von einem Team von Autorinnen und Autoren bewältigt werden kann. Für das 2004 in erster Auflage erschienene Kompendium konnten die Herausgeber – Edgar Hösch, Karl Nehring und Holm Sundhaussen – 64 Experten aus fünf Ländern gewinnen.1 Wegen der erheblichen Resonanz, die das Lexikon gefunden hat, ist nunmehr eine zweite Auflage erschienen, in der nicht nur die Eintragungen aktualisiert worden sind. Vielmehr haben die verantwortlichen Herausgeber – Holm Sundhaussen und Konrad Clewing – auch 61 neue Lemmata eingefügt, so dass das Kompendium um rund 330 Seiten auf nunmehr 1.102 Seiten gewachsen ist. Die insgesamt 603 Beiträge haben 72 renommierte Fachleute aus dem deutschsprachigen Raum verfasst. Darüber hinaus sind Karten und ein umfassendes Sachwortregister aufgenommen worden. Wegen des frühen Todes Holm Sundhaussens, der rund ein Fünftel der Eintragungen geschrieben hat, ist das Lexikon auch ein Vermächtnis seiner außergewöhnlich erfolgreichen Arbeit als einflussreicher Südosteuropa-Historiker.

Die insgesamt 603 Eintragungen behandeln zentrale Aspekte der Geschichte des weit verstandenen südosteuropäischen Raumes seit dem frühen Mittelalter, von Byzanz über die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich bis zu den Staaten Albanien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien (und den Nachfolgestaaten), Rumänien und der Republik Moldova sowie Ungarn, die seit dem 19. Jahrhundert gegründet worden sind. Gegenüber der ersten Auflage finden sich vor allem zur Zeit- und Sozialgeschichte deutlich mehr Eintragungen. Darunter sind Lemmata, die im Vorwort des 2004 veröffentlichten Lexikons als Desiderata erwähnt worden waren, so zu „Eliten“ und „Verkehr“, zur „Urbanisierung“ und „Bevölkerung“ sowie zum „Stalinismus“ und „Sozialismus“. Damit konnten erhebliche Lücken geschlossen werden. Auch die Stichworteintragung zu „Verwandtschaft“ zeigt, dass der sozialgeschichtliche Zugriff gestärkt worden ist.

Die Spannbreite der knapp und übersichtlich dargestellten Gegenstände ist damit erheblich. Sie reicht von sozialen Schichten wie dem Adel, den Bauern, dem Bürgertum und Handwerkern bis zu prägenden Ereignissen, so dem Krimkrieg (1853–56), dem Berliner Kongress (1878), den Balkankriegen 1912/13, den beiden Weltkriegen, dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Holocaust. Daneben wurden politische Bewegungen und Ideologien wie der Faschismus, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus berücksichtigt. Überdies finden sich Stichworteintragungen zu historischen Problemen wie der Meerengenfrage, zu Migrationen und zur Leibeigenschaft. Nicht zuletzt behandeln einzelne Beiträge Völker (z.B. die Kroaten), Religionsgruppen (so Lutheraner), Staaten und Staatenbündnisse (wie Griechenland bzw. die Kleine Entente), Regionen (beispielsweise die Levante), Inseln (wie Korfu) und Verwaltungseinheiten (so das Komitat). Auch wenig bekannte, komplexe Begriffe wie „Çiftlik“ – eine Bezeichnung für die Grundeinheit einer Bauernwirtschaft, den Landbesitz einer muslimischen Bauernfamilie oder für andere Landeinheiten im Osmanischen Reich – werden erklärt. Dem Autor dieses Lemmas, Michael Ursinus, gelingt es hier vorbildlich, unterschiedliche Bedeutungen aufzufächern und ihre Bindung an jeweils spezifische Kontexte zu verdeutlichen. Ebenso zeigen viele andere Eintragungen den Erkenntniswert einer konsequenten Historisierung von Begriffen.

Alles in allem ist auch die Rechtsgeschichte gegenüber der ersten Auflage umfassender berücksichtigt, wie z.B. Lemmata zu „Rechtsgeschichte/Rechtskultur“, „Bodenrecht“ und „Haager Kriegsverbrecherprozess“ zeigen. Aber auch neuere kulturhistorische Probleme sind deutlicher profiliert, so in den Ausführungen zu „Erinnerungskultur“. Dazu gehört auch die Eintragung zu „Dracula“, die sich nicht nur auf den Beinamen des gleichnamigen Fürsten bezieht, sondern auch knapp und präzise die Verbindung zum Vampirismus in der literarischen Überlieferung seit Abraham („Bram“) Stokers Schauerroman (1897) nachzeichnet. Nicht zuletzt finden sich Begriffe und Konzepte wie „ethnische Säuberung“, die seit den 1990er-Jahren sukzessive erneut in die Wissenschaftssprache aufgenommen worden sind.

Selbstverständlich kann auch mit der erheblich erweiterten Zahl der Lemmata keine Vollständigkeit beansprucht werden. So vermisst man Eintragungen zur Familie (neben der „Frau“, S. 328–331, von Nataša Mišković) oder zur Handschar-Division (einer 1943 aufgestellten Einheit der Waffen-SS, für die bosnische Freiwillige rekrutiert wurden). Die Auswahl der Lemmata für ein Lexikon ist aber auch von pragmatischen Gesichtspunkten – so der verfügbaren und geeigneten Autorinnen und Autoren – bestimmt worden, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen. Ebenso ist der Verzicht auf Einträge zu Personen nachvollziehbar, weil dazu das „Biographische Lexikon zur Geschichte Südosteuropa“ vorliegt.2

Im Rahmen dieser Rezension können einzelne Eintragungen nur behandelt werden, um exemplarisch das Konzept der Herausgeber zu rekonstruieren und das Vorgehen der Autorinnen und Autoren zu erläutern. So unterscheidet Holm Sundhaussen zu Beginn seines zwei Seiten umfassenden Beitrages zu den „Genossenschaften“ deutlich zwischen der Arbeit dieser Verbände unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und den Funktionen der gleichnamigen, aber anders strukturierten Organisationen in der staatssozialistischen Planwirtschaft. Anschließend werden jeweils Gründe der Entstehung, Grundzüge der Entwicklung – regional differenziert – und Probleme erläutert. Auch viele andere Eintragungen – so Wolfgang Höpkens Überblick zum „Liberalismus“ (S. 567–571) und Karl Kasers Text zu „Migrationen“ (S. 597–600) – beeindrucken durch die enorme synthetische Leistung, die auf der Auswertung der zum Teil umfassenden Literatur beruht. Verweise auf andere Lemmata erhöhen die Nutzbarkeit des Lexikons, in dem auch die aufgenommenen Karten, das Orts- und Sachregister sowie die Ortsnamenskonkordanz die Orientierung erleichtern.

Angesichts des breiten Spektrums der aufgenommenen Stichwörter und der wissenschaftlichen Qualität der allermeisten Beiträge wirken kritische Einwände kleinlich. Dennoch fallen einige Inkonsistenzen und Disproportionen auf. So wurde zwar ein Artikel über „Diktaturen“ (von Holm Sundhaussen, S. 254–267), aber keiner zu Demokratien aufgenommen. Armin Hetzers Eintragung zum „Buchdruck“ (von S. 190–193) umfasst drei Seiten, während sich zum „Stalinismus“ (S. 902 f.) nur ein Lemma von wenigen Zeilen findet, da der Verfasser – Margarditsch Hatschikjan – den Begriff für Südosteuropa als „analytische Kategorie“ für „unbrauchbar“ (S. 903) hält. Nach der Lektüre bleibt letztlich offen, warum das Stichwort angesichts dieses Fazits überhaupt aufgenommen worden ist.

Zudem ist der Bezug auf die Geschichte des südosteuropäischen Raumes in den einzelnen Eintragungen unterschiedlich. Während in Mariana Hausleitners – an sich instruktivem – Lemma zum „Kalten Krieg“ (S. 457–460) Südosteuropa erst auf der letzten Textseite behandelt wird, bezieht sich Karl-Heinz Schlarp in seinem Beitrag zu „Russland, Sowjetunion“ (S. 801–805) unmittelbar auf den Raum, ohne ihn aber ausführlich in die russische Außenpolitik im 18. Jahrhundert einzuordnen. Überdies werden nicht alle Leserinnen und Leser Holm Sundhaussens scharfe Abgrenzung von Mythen und Geschichtswissenschaft („Erinnerungskultur“, S. 301) teilen, auch wenn sie an der Korrekturfunktion der Historiographie festhalten und einen extremen Konstruktivismus ablehnen.

Darüber hinaus sind gelegentlich einzelne Informationen unvollständig oder zu allgemein. So muss die Feststellung, dass in Ungarn „die private Produktion als wichtiger Wirtschaftsfaktor anerkannt u. [und] gefördert“ (S. 172) wurde, auch für die 1950er- und 1960er-Jahre differenziert werden (Holm Sundhaussen, „Bodenreformen“). Ebenso ist die Interpretation, dass die Bulgaren schon wegen der Lage „im unmittelbaren Vorfeld der osm. [osmanischen] Reichshauptstadt“ hinsichtlich der Nationsbildung „stark beeinträchtigt“ (S. 644) waren, zu vereinfachend (Holm Sundhaussen, „Nationsbildung“).

Diese Bemerkungen sollen aber nicht verdecken, dass mit dem Lexikon ein hervorragendes Kompendium vorliegt, das nicht nur in der universitären Forschung und Lehre unentbehrlich, sondern auch darüber hinaus für die historisch-politische Bildung überaus nützlich ist. Kompetente Autorinnen und Autoren vermitteln jeweils einen knappen Überblick, der mit Hilfe der reichlich angegebenen Literatur leicht vertieft werden kann. Das Buch führt gerade Leserinnen und Leser, die – wie der Autor dieser Besprechung – nicht zu den Experten zur Geschichte Südosteuropas gehören, immer wieder zu überraschenden Erkenntnissen. Es ist ein Standardwerk, das zwar weiterhin der Aktualisierung bedarf, aber auch angesichts der unterschiedlichen Qualität von Informationen, die im Internet verfügbar sind, seinen Wert behalten wird. Zudem haben die Herausgeber bereits eine digitale Version des Nachschlagewerkes angekündigt, die derzeit vorbereitet wird.

Anmerkungen:
1 Edgar Hösch / Karl Nehring / Holm Sundhaussen (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Stuttgart 2004.
2 Mathias Bernath / Karl Nehring / Felix von Schroeder (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, 4 Bde., München 1974–1981, online unter: http://www.biolex.ios-regensburg.de (28.09.2017).

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