D. Lieske: „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen

Cover
Titel
Unbequeme Opfer?. „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen


Autor(en)
Lieske, Dagmar
Reihe
Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 16
Erschienen
Berlin 2016: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Löffelsender, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Email:

Angesichts der kaum noch überschaubaren Fülle an Studien zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern mag man es kaum glauben, dass mit Dagmar Lieskes Dissertation erst jetzt eine Monografie vorliegt, die sich eingehender mit der Haftgruppe der „Berufsverbrecher“ beschäftigt.1 Im Zentrum der Studie steht somit eine Gruppe, deren Bild in der Erinnerungs- und bisweilen auch in der Forschungsliteratur lange Zeit durch pauschalisierende Negativzuschreibungen geprägt war. So wurden die „Grünen“ – wie sie in Anlehnung an den grünen Winkel auf ihrer Häftlingskleidung im Lagerjargon hießen – vielfach unterschiedslos als gewaltbereite, grausame oder unsolidarische Büttel der SS beschrieben. Umso begrüßenswerter ist Lieskes Ansatz, am Beispiel des KZ Sachsenhausen empirisch belastbares Wissen über die Haftgruppe der „Berufsverbrecher“ zu generieren und die vorhandenen Stereotype kritisch zu hinterfragen.

Im ersten Teil der Studie (Kapitel II und III) widmet sie sich in Rückgriff auf Forschungsergebnisse aus dem Feld der historischen Kriminalitätsforschung und der Polizeigeschichte2 den Vorläufern, Grundlagen und Praktiken der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Diese richtete sich neben den „Berufsverbrechern“ auch gegen sogenannte „Asoziale“, wobei Letztere aus forschungspraktischen Gründen nicht eingehender betrachtet werden. Deutlich wird, dass die „Vorbeugehaft“ bereits vor der Zentralisierung der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung im Jahre 1937 als ein maßgebliches „Instrument des nationalsozialistischen Terrors“ (S. 356) fungierte, wenngleich staatspolizeilich eingewiesene „Schutzhäftlinge“, in der Mehrheit politische Gegner des NS-Regimes, in den frühen Konzentrationslagern überwogen. Bis in den Krieg hinein lässt sich zudem eine sukzessive Ausweitung der „Vorbeugehaft“ konstatieren. Der damit einhergehende Zugriff der Kriminalpolizei auf immer neue Personengruppen kulminierte schließlich 1942 in der Überstellung von Tausenden zur „Sicherungsverwahrung“ Verurteilten aus den Strafanstalten der Justiz in die Konzentrationslager. Daraufhin vergrößerte sich die Zahl der mit einem „grünen“ Winkel gekennzeichneten KZ-Häftlinge schlagartig.

Für das im Sommer 1936 unweit der Reichshauptstadt Berlin errichtete Männer-KZ Sachsenhausen lassen sich bereits in der Aufbauzeit als „Berufsverbrecher“ kategorisierte Häftlinge nachweisen. Infolge der „März-Aktion“ des Jahres 1937, der ersten reichsweiten Polizeiaktion gegen „Berufsverbrecher“, verdoppelte sich ihre Zahl auf 995. Für eine kurze Zeit waren annähernd gleich viele „Schutz-“ und „Vorbeugehäftlinge“ im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Beide Gruppen waren in getrennten Baracken untergebracht, was die gegenseitige Abgrenzung noch verstärkte.

Insgesamt kann Lieske – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – 9.181 Personen nachweisen, die die SS zwischen 1936 und 1945 als „Berufsverbrecher“ oder überstellte „Sicherungsverwahrte“ im KZ Sachenhausen inhaftierte, unter ihnen 352 Nicht-Deutsche. Allerdings handelte es sich um keine homogene Gruppe. Die Männer unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Nationalität, sondern auch durch die Art und Zahl der Vorstrafen. Außerdem befanden sich zahlreiche Homosexuelle unter ihnen, die wegen Verstößen gegen den § 175 RStGB in „Vorbeugehaft“ genommen worden waren.

Das Kernstück der Untersuchung – und hier betritt Lieske mit ihrer Studie dezidiert Neuland – bildet der Blick auf den Häftlingsalltag der „Berufsverbrecher“ im KZ Sachsenhausen (Kapitel V). Anhand verschiedener Themenfelder (unter anderem „Positionen und Hierarchien“, „Freizeit und Selbstbestimmung“) nähert sich Lieske der Situation im Lager. Hierbei lässt sie vor allem die Betroffenen selbst zur Sprache kommen, deren Perspektive bisher kaum Eingang in die Forschung gefunden hat. Aufgrund des Mangels an Erinnerungsberichten von „Berufsverbrechern“ zieht Lieske in erster Linie deren Zeugenaussagen in Ermittlungsverfahren der Nachkriegszeit zu Rate. Ihre Argumentation folgt meist dem Muster, gängige pauschalisierende Fremdzuschreibungen durch eine Vielzahl von episodenhaften Gegenbeispielen als unzutreffend bzw. als zu wenig differenzierend zu entlarven. So wird etwa der Topos des unkameradschaftlichen „Berufsverbrechers“ durch Beispiele von Freundschaft, gegenseitiger Hilfe und „klientelistische[r] Unterstützung“ (S. 171) entkräftet. Der Hinweis, dass „Freizeitaktivitäten“, wie geheime Theateraufführungen, mitnichten „Privileg[ien] der politischen Häftlinge“ (S. 270) waren, widerlegt zudem das Bild des kulturverneinenden „Kriminellen“. Insgesamt lassen sich für die Gruppe der „Berufsverbrecher“ die gleichen Formen individueller und sozialer Praktiken feststellen, die die Forschung bisher vor allem mit Blick auf die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern beschrieben hat.

Analytisch aufschlussreich ist Lieskes Untersuchung der gruppenspezifischen Besonderheiten. Von großem Interesse ist ihre Erörterung der Frage, ob die als „Berufsverbrecher“ kategorisierten KZ-Insassen in besonderem Maße einer Vernichtungspolitik seitens der SS ausgeliefert waren. Belege für eine grundsätzliche Schlechterstellung der „grünen“ Häftlinge liefert die Analyse zwar nicht. Jedoch fällt auf, dass vor allem „Berufsverbrecher“, die zusätzlich als „Homosexuelle“ oder „Sittlichkeitsverbrecher“ stigmatisiert worden waren, sowohl in hohem Maße exzessiver Gewalt durch die SS ausgeliefert als auch überproportional von der systematischen Ermordung im Rahmen der Euthanasie-Aktion „14f13“ betroffen waren. Auffallend hoch ist zudem die Sterberate bei den in das KZ Sachsenhausen überstellten „Sicherungsverwahrten“, was Lieske vor allem auf die gezielte Vernachlässigung durch die SS zurückführt. Hinsichtlich der „Wege aus dem Lager“ (S. 278) lässt sich der ab 1943 für KZ-Häftlinge mögliche Eintritt in die SS-Division Dirlewanger als gruppenspezifisch beschreiben, da hiervon – wenn auch nicht ausschließlich – überwiegend „Vorbeugehäftlinge“ Gebrauch gemacht zu haben scheinen.

Der Frage nach den Kontinuitäten der Stigmatisierung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist der abschließende Teil der Studie gewidmet (Kapitel VI), der sich jedoch auf die Bundesrepublik beschränkt. Wie schon in den zahlreichen Arbeiten über die sogenannte Wiedergutmachung deutlich wurde, war „Vorbeugehäftlingen“ die gesellschaftliche Anerkennung als Opfer der NS-Verfolgung und der Zugang zu Entschädigungen grundsätzlich verwehrt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Versuche einiger KZ-Überlebender, in den Jahren 1946/47 eine Interessenvertretung ehemaliger „Vorbeugehäftlinge“ zu begründen, um ein eigenes Sprachrohr in der Debatte um Anerkennung und Entschädigung zu haben – ein Aspekt, den die Forschung zu den Verfolgtenverbänden bisher noch nicht eingehender beleuchtet hat. Eine größere Wirkung war diesem vereinzelten Versuch einer Lobbyarbeit indes nicht beschieden, was nicht verwundert, da die KZ-Inhaftierung von „Berufsverbrechern“ und „Sicherungsverwahrten“ in der Nachkriegsgesellschaft nicht als Unrecht, sondern als eine grundsätzlich gerechtfertigte Maßnahme wahrgenommen wurde. Dass die Betroffenen es in diesem sozialen Klima einer fortwährenden Stigmatisierung vorzogen, über ihre KZ-Haft nicht zu sprechen, ist nur zu verständlich. Ein gesellschaftliches Umdenken und Ansätze, den als „Berufsverbrecher“ Verfolgten einen Platz in der Erinnerungskultur einzuräumen, setzten erst sehr spät ein; für die meisten Überlebenden zu spät, um es persönlich zu erleben.

Dagmar Lieskes Fallstudie zum KZ Sachsenhausen ist ein eindrucksvolles Plädoyer für ein differenzierteres Sprechen über die als „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern inhaftierten Menschen. Dass mit einer einzelnen Studie über diese Häftlingsgruppe nicht alles gesagt ist und gesagt sein kann, liegt auf der Hand. So kommen manche Aspekte, etwa die Lage der „Sicherungsverwahrten“, nur am Rande zur Sprache, was jedoch weniger ein Versäumnis der Autorin darstellt, sondern vielmehr der dünnen Quellenlage geschuldet ist. Wünschenswert wären jedoch mehr statistische Erhebungen etwa zum Sozialprofil der Betroffenen oder zu ihren Verfolgungswegen gewesen. Das analytische Potential eines solchen Ansatzes schöpft Lieskes trotz einer umfassenden Datensammlung nur an sehr wenigen Stellen voll aus. Zu anderen Konzentrationslagern dürften in dieser Hinsicht vor allem die Archivbestände des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen eine bisher nur in Ansätzen genutzte Quelle darstellen. Im Entstehen befindliche Publikationen und Projekte werden das von Lieske erstmals gründlich durchschrittene Forschungsfeld zu den „Berufsverbrechern“ in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern weiter konturieren.3 Ihren Ergebnissen darf mit großem Interesse entgegengesehen werden.

Anmerkungen:
1 Bisher waren dem Thema nur vereinzelte Aufsätze gewidmet. Vgl. exemplarisch die Beiträge in KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.), Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009.
2 Wegweisend hierzu Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.
3 Vgl. die für Frühjahr 2017 angekündigte Studie von Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017, sowie Andreas Kranebitter, Kollektivbiografie eines Nicht-Kollektivs? Ein Werkstattbericht zur Erforschung der „Berufsverbrecher“ im KZ Mauthausen, in: Bundesministerium für Inneres (Hrsg.), Justiz, Polizei und das KZ Mauthausen, Wien 2016, S. 35–56.

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