Die Forschung zur sozialen Ausgrenzung und Kriminalpolitik im NS-Regime 1933–45 hat sich in den letzten zwanzig Jahren – seit den bahnbrechenden Studien von Wolfgang Ayaß und Patrick Wagner – stetig verdichtet und ausdifferenziert. Obwohl mittlerweile eine Reihe von Arbeiten vorliegt, ist das Thema noch keineswegs „ausgeforscht“, sondern vermag weiterhin Untersuchungen zu den Grundlagen, Praktiken und Folgen sozialer Exklusion und terroristischer Kontrollpolitik zu inspirieren. Dies zeigen jüngere Untersuchungen zu den Konzepten und Strategien „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ in der Frühphase des Regimes oder zur Rolle von „Berufsverbrechern“ im KZ-System.1
Sylvia Köchls Buch „‘Das Bedürfnis nach gerechter Sühne’“ schließt zwar an diese Forschungen zur Kriminalpolitik des NS-Regimes an, hat aber in erster Linie ein erinnerungs- oder vergangenheitspolitisches Anliegen. Die Autorin, engagiert in der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, wendet sich mit ihrem Buch gegen die mangelnde Anerkennung von Rückfallstraftäter/innen, die, obgleich zu Tausenden im Rahmen „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ in die Konzentrationslager deportiert und dort vielfach ermordet, in der Öffentlichkeit immer noch nicht uneingeschränkt als NS-Opfer verstanden würden. Köchl moniert nicht nur den jahrzehntelangen Ausschluss von Wiedergutmachungsleistungen, sondern auch eine verzerrte historische Wahrnehmung der als „Kriminelle“ in die Lager deportierten Menschen. Bis heute wirkten pauschale Bewertungen und Vorurteilsmuster fort, die sich bereits in den 1940er-Jahren entwickelt hatten: Demnach seien die „Berufsverbrecher“ vor allem zur Diskreditierung und Drangsalierung der politischen Häftlinge in die Lager eingewiesen worden, hätten dort weitgehend die Häftlingsverwaltung an sich gerissen und sich mit Egoismus und Brutalität zu bereitwilligen Handlangern der Lager-SS gemacht. Die Abwertung und Vernachlässigung der „kriminellen“ KZ-Häftlinge im Gedenken zeige sich auch darin, dass keine Erinnerungsberichte über ihre Lagererfahrungen erhalten bzw. aufgezeichnet worden seien.
Zwar sind diese Aspekte – die Herkunft, Zugehörigkeit, Handlungszwänge und -spielräume der Funktionshäftlinge in den NS-Lagern einerseits, die nach 1945 entwickelten „Opferbilder“ und die „Konkurrenz“ der Opfer im Erinnerungsdiskurs andererseits – in der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung bereits abwägend dargestellt worden. Köchl sieht hier aber noch Bedarf für weitere historische Auseinandersetzung, wobei sie sich vor allem auf die österreichische Situation bezieht und an eine breitere historisch interessierte Öffentlichkeit richtet. In diesem Sinne ist „‘Das Bedürfnis nach gerechter Sühne’“ als historische Dokumentation angelegt, welche die Gruppe der „Berufsverbrecherinnen“ anhand von Fallgeschichten nahe bringen und der Diskussion um die NS-Vergangenheit einen neuen Impuls geben will.
Das Buch beginnt mit Erläuterungen zur Entstehung des Projekts. Da die Überlieferung des KZ Ravensbrück äußerst lückenhaft ist und die personenorientierten Akten der österreichischen Kriminalpolizei, die das kriminalpräventive Vorgehen gegen „Berufsverbrecher/innen“ dokumentieren würden, fast vollständig vernichtet sind, war es Köchl nur über vereinzelt erhaltene Gerichtsakten, Gefangenenbücher, Meldekarteien, Unterlagen der Nachkriegsjustiz etc. möglich, die Lebensläufe von Verfolgten zu rekonstruieren. Am Schluss der Recherchen standen acht Frauen, deren „Geschichten ausreichend belegbar und sinnvoll erzählbar sind“ (S. 30). Wer je in dem Themengebiet gearbeitet hat, kann Köchls Ausführungen zu den oft spärlichen Quellen und der mitunter willkürlich erscheinenden Überlieferung gut nachvollziehen; für andere Leser/innen bringen sie Transparenz in ein unübersichtliches Terrain.
Dem einführenden Kapitel folgen „Hintergrundinformationen“ zu der terroristischen Kriminalprävention des NS-Regimes, der Rechtsprechung, dem Gefängnissystem und den Rechtsnormen, die eine Grundlage liefern für das Verständnis der folgenden acht biografischen Skizzen. Diese bilden mit über 200 Seiten den Schwerpunkt des Buches. Köchl schildert zunächst die Herkunft, Lebensumstände, die „kriminellen Karrieren“ und Verfolgungsgeschichten der Frauen vor der Einlieferung nach Ravensbrück, widmet sich dann der Frage, was über ihre Zeit im NS-Lagerkosmos bekannt ist, und stellt zuletzt dar, welche Informationen über das „Weiterleben nach der KZ-Haft“ und die Nachkriegsbiografien zu finden waren. In die biografische Rekonstruktion sind zahlreiche Exkurse über Haftstätten und Verfolgungsinstanzen des NS-Staates eingebettet. Sie machen deutlich, welchen Repressionsmaßnahmen und Lebensbedingungen die Frauen unter dem Zugriff des NS-Regimes ausgesetzt waren, aufgrund der prekären Quellenlage gelingt es aber selten, individuelle und Institutionengeschichte konkreter zu verknüpfen.
In den personenbezogenen Passagen des Buches liefert die Autorin eine dichte, auch Einzelheiten und Nebenwege berücksichtigende Darstellung, die auf den aufgefundenen Justizakten basiert. Dabei werden die Beschränkungen des Materials stets reflektiert. Köchl versteht die Quellen vor allem als Dokumente der Repression und Stigmatisierung, welche die Perspektive der Frauen ausblenden und marginalisieren; gleichwohl wird in den Passagen über das Aussageverhalten der „Berufsverbrecherinnen“ und die Gnadengesuche von Häftlingen und Angehörigen deutlich, wie die Betroffenen innerhalb der normativen Grenzen und diskursiven Zwänge des NS-Systems taktisch zu agieren versuchten. Trotz lückenhafter Quellen bleiben spekulative und suggestive Bemerkungen selten und Köchl vermeidet es, durch erzählerische Strategien konsistente, identifikationsfähige Lebensgeschichten zu schaffen. Denn was die staatlicherseits aufgeschriebenen Lebensläufe zunächst bieten (und konstruieren), ist eine dichte Folge von Rechtsbrüchen, Ermittlungen und Sanktionen, begleitet von der Eskalationslogik der strafenden Instanzen.
Tiefere Einblicke in das soziale Milieu der Frauen ermöglichen die Quellen nicht, doch zeigt sich ein gewisses Grundmuster aus ärmlicher Herkunft, sozialer Deklassierung, wirtschaftlicher Not und problematischen (nicht selten gewaltgeprägten) Verhältnissen im sozialen Nahbereich, das dem „Weg in die Kriminalität“ unterlegt war. Unter den „Berufsverbrecherinnen“, die Köchl porträtiert, finden sich häufig rückfällige Eigentumsdelinquentinnen, Vagantinnen sowie Frauen, die mehrfach wegen („gewerbsmäßiger“) Abtreibung verurteilt und schließlich als „unverbesserliche“ und „volksschädliche“ Straftäterinnen in polizeiliche „Vorbeugungshaft“ genommen worden waren. Zwei von ihnen stellt die Autorin ausführlicher vor: Marianne Scharinger, 1939 als „Abtreiberin“ nach Ravensbrück deportiert, dort bald Funktionshäftling, ab 1943 Lagerälteste, sowie „Johanna Manz“, die 1942 nach wiederholten Diebstählen ins Lager verschleppt wurde und dort als Blockälteste in einem „Zigeunerblock“ agierte. Da gegen beide Frauen Ende der 1940er-Jahre in Österreich „Volksgerichtsverfahren“ wegen ihrer Tätigkeit als Funktionshäftlinge initiiert wurden, kann Köchl ihr Verhalten im Lager und damit exemplarisch die Verhaltensmöglichkeiten im KZ genauer erörtern. Während zahlreiche Zeuginnen „Manz“ als Person schilderten, die ihre Machtposition für Unterschlagungen und Quälereien genutzt, für bessere Verköstigung im Auftrag der SS die Prügelstrafe vollzogen und die ihr untergeordneten Romafrauen rassistisch beschimpft hatte (ein „Opfer“, das ebenfalls „Täter“ war, S. 225ff., 280f.), wurde Scharinger von Mitgefangenen wegen ihrer Hilfsbereitschaft und „gerechten“ Einstellung gewürdigt (S. 211ff., 260ff.).
Eine vergleichende, analytische Betrachtung der Lebensläufe und Verfolgungsgeschichten unterbleibt ebenso wie eine abschließende Einordnung im Sinne der von Köchl eingeforderten feministischen Geschichtsschreibung. Am Schluss des Buches steht stattdessen eine Darstellung zum österreichischen Wiedergutmachungsrecht, das – wie das bundesdeutsche – lange Zeit etliche Opfergruppen von Leistungen und Anerkennung ausschloss. Zwar sind seit den 1990er-Jahren auch die ehemals ausgegrenzten Opfer (etwa Homosexuelle, Opfer der NS-Medizin, „Asoziale“) einbezogen, die Gruppe der Rückfallstraftäter/innen wird an einem entscheidenden Punkt im „Opferfürsorgegesetz“ aber immer noch benachteiligt.
Köchl beschließt ihr Buch daher mit zwei Appellen. Sie fordert zum einen, das „Opferfürsorgegesetz“ solle vorbehaltlos alle ehemaligen KZ-Häftlinge anerkennen, als (allzu später) symbolischer Akt, der zumindest den Nachkommen der verfolgten „Berufsverbrecherinnen“ weitere Stigmatisierung ersparen könne. Zum anderen regt sie eine kritische Institutionenforschung für Österreich an, die nicht nur Akteure, Haftanstalten und Verfolgungsinstanzen der NS-Zeit durchleuchtet, sondern auch deren Nachkriegsgeschichte diskutiert (S. 328ff.). Diese Schlussappelle und die Anlage der Arbeit erinnern an jene engagierte Geschichtsschreibung, die in Westdeutschland seit den 1980er-Jahren die „vergessenen Opfer“ in den Blick rückte und die problematische Vergangenheit von Polizei, Justiz und anderen Instanzen sozialer Kontrolle ins Visier nahm. Diesen, wesentlichen Teilen der NS-Forschung (einst) unterlegten, aufklärerischen Impuls in Erinnerung gebracht zu haben, ist neben den erinnerungspolitischen Anstößen ein weiteres Verdienst der Studie.
Anmerkung:
1 Vgl. Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016; Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017 (i.E.).