Der Kantonhandel ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Felder für den Kontakt zwischen Europa und China in der Frühen Neuzeit. Er schlägt die Brücke von der Blütezeit der Jesuiten am chinesischen Kaiserhof während des 17. Jahrhunderts bis zur gewaltsamen Umgestaltung dieses Austauschs im Zuge des Ersten Opiumkriegs nach 1839. Das Thema ist ein so selbstverständlicher Bestandteil in der Geschichte der Beziehungen zwischen China und dem Westen, dass leicht der Eindruck entsteht, dass neue Forschungen zum Kanton-Handel allenfalls geringen Erkenntniszuwachs versprechen. Zuletzt haben allerdings mehrere Publikationen gezeigt, welches Potential neue Ansätze haben, indem sie die oftmals eurozentrische Sichtweise um eine ostasiatische Dimension erweitert haben – so zuletzt Gang Zhao, der in seinem 2013 erschienenen Band „The Qing Opening to the Ocean“ die Hintergründe der Handelspolitik der Qing analysierte und das Kanton-System damit vom Kopf auf die Füße stellte.1
Der vorliegende Band bereichert den Forschungsstand zum Kantonhandel in einer ganz anderen Dimension. Er unternimmt – wie der Buchtitel in bemerkenswerter Übereinstimmung mit dem Inhalt deutlich macht – eine detaillierte Betrachtung des Handels im Jahr 1723. Es handelt sich um eine Quellenedition, die allerdings in mehrfacher Hinsicht besonders ist. Zum einen ist die Konzentration auf ein Jahr ungewöhnlich. Quellensammlungen sind meistens bestrebt, ein Thema möglichst breit mit repräsentativen Quellen abzubilden. Diese Edition stellt in großer Dichte die Handelsunternehmungen der East India Company und der Oostender Kompanie für das gleiche Jahr dar. Zum anderen ist der Band der krönende Abschluss eines Projektes, das Geschichtsstudenten an die Lektüre archivalischer Quellen heranführen sollte – offenbar mit Erfolg.
Die Edition versammelt zwei Gruppen von Quellen. Die erste Gruppe bezieht sich auf den britischen Kantonhandel und stammt aus den India Office Records, die in der British Library aufbewahrt werden. Es handelt sich um eine dichte Auswahl von Materialien, die von den allgemeinen Instruktionen über das Journal des Schiffes Hartford bis zu den ausführlichen Aufzeichnungen über Aufenthalt und Handel in Kanton reicht. Bei dem Material der Oostender Kompanie handelt es sich um ein Konvolut von Briefen unbekannter Provenienz, das 1830 von der Bayerischen Staatsbibliothek erworben wurde. Es umfasst den Reisebericht zweier Schiffe einschließlich ausführlicher Beschreibungen Macaos, Chinas insgesamt und des Handels in Kanton. Die Edition entspricht allen archivalischen Standards. Die Quellen sind wortgetreu und in ihrer originalen Schriftweise wiedergegeben und unbekannte Begriffe wie Personennamen und Orte so weit wie möglich ausführlich erläutert. Ein Glossar nautischer Begriffe und ein Index runden das positive Bild ab.
Das Versprechen, das der Untertitel des Bandes im Hinblick auf Wettbewerb und Kooperation gibt, wird eingelöst. Die Quellen beziehen sich in weiten Teilen aufeinander, so dass sich besonders die Ereignisse während der Handelssaison des Jahres 1723 in Kanton von beiden Seiten betrachten lassen. Allerdings tritt besonders das Element des Wettbewerbs hervor. Beide Seiten beobachteten argwöhnisch alle Aktionen der Konkurrenz. Die Schiffe lieferten sich bereits ein Wettrennen um die Ankunft in Kanton in der Hoffnung, die gewünschte Ladung Tee zu den besseren Preisen erlangen zu können. So findet sich im britischen Tagebuch der erleichterte Eintrag, man werde wohl den erhofften Vertrag abschliessen können „before the Arrival of the Ostenders whom we suspected to be at our heels“. (S. 187) Hier sprach die Erfahrung aus dem schweren Rückschlag des Jahres 1720, als die East India Company ihre Schiffe angewiesen hatte, um jeden Preis als erste Kanton zu erreichen. Sie kamen in China aber doch erst nach ihren Konkurrenten an, die praktisch bereits die gesamte Tee-Ernte aufgekauft hatten.2
Angesichts der unterschiedlichen Provenienz der beiden Quellengruppen ist es wenig verwunderlich, dass die Bandbreite und die Schwerpunkte trotz aller Bezüge teilweise erheblich von einander abweichen. Die Dokumente aus der British Library stammen aus einer zusammenhängenden Überlieferung und bilden den gesamten Ablauf der Reise bis in die Details ab. Für die weitere Nutzung dieser Quellenedition dürften gerade die der eigentlichen Reise vorgelagerten Quellen neue Aspekte bieten. Die Schiffe und ihr Handelssuperintendent Fazakerly bekamen detaillierte Anweisungen hinsichtlich Fahrtroute, Verhalten auf der Reise, anzulaufende Häfen und schließlich weitgehend genaue Angaben über die in Kanton zu erwerbenden Waren. Hervorzuheben sind die Vorsichtsmaßnahmen gegen Piraten, das ausdrückliche Verbot privaten Handels (S. 52–53) wie auch die ausdrückliche Sorge hinsichtlich des Verhaltens von Mannschaften und Offizieren beim Anlaufen einzelner Häfen und besonders in China (S. 55–56).
Die Briefe über die Reise der Oostender Kompanie stammen aus einer zufällig überlieferten Auswahl von Briefen, die allerdings ein zusammenhängendes Quellencorpus bilden. Der unbekannte Autor berichtet, im Gegensatz zu seinen britischen Kollegen, jenseits des Verlaufs von Reise und Handel in aller Ausführlichkeit über die verschiedensten Aspekte chinesischer Landeskunde. Zusätzlich sind die geografischen Beschreibungen mit Zeichnungen und Skizzen angereichert. Haben die ersten beiden Berichte nach der Ankunft in China, nämlich die Beschreibungen der Orte Macao und Kanton, noch einen nachvollziehbaren Bezug zu den kommerziellen Interessen des Unternehmens, beginnt der Autor bei der Beschreibung der Geographie Chinas bereits, diese Ebene zu verlassen. Darauf folgen drei umfangreiche Berichte, die sich der Religion in China (mit Schwerpunkt auf dem Stand des Christentums), der Ahnenverehrung und dem Konfuzianismus widmen. Bevor die Briefe über den Gang des Handels in Kanton folgen, wird in einem weiteren Bericht die Reichsidee Chinas erörtert, das als perfektionierte Monarchie erscheint (S. 326).
An dieser gelungenen Edition ist wenig zu bemängeln. Die Einleitung fällt für eine so umfangreiche Quellensammlung relativ schmal aus, 14 Seiten Einleitung auf fast 400 Seiten Quellenmaterial überlassen nicht nur die Erschließung und Interpretation der Quellen den Leserinnen und Lesern, sondern bilden auch nicht adäquat den historischen Hintergrund ab. So wird die wichtige Literatur zum Kantonhandel angeführt, aber bei den in Ostasien aktiven Handelsparteien wird mit der niederländischen VOC ein wichtiger Mitspieler kaum erwähnt. Dazu bleibt der chinesische Part des Kanton-Handels praktisch unbehandelt. Abgesehen von der nicht näher erläuterten Entscheidung für Wade-Giles als Umschriftsystem werden Strukturen wie Personen auf chinesischer Seite nur kurz in Fußnoten erklärt. China stellt die Bühne und die Komparsen für ein Stück, das allein von den Europäern aufgeführt wird.
Ein spezieller Kritikpunkt richtet sich an den Verlag: In der Auflistung der edierten Dokumente wird zusätzliches Material versprochen, das online verfügbar sein soll. Zum einen ist der abgedruckte Link von abschreckender Länge und Komplexität - eine überschaubare URL wäre hier deutlich benutzerfreundlicher gewesen. Und wenn das Interesse des Rezensenten zum anderen trotz mehrfacher Versuche nur auf eine Fehlermeldung hinausläuft und sich das Material auf der Produktseite unter einem völlig anderen Link findet3, stellt sich die Frage, ob digitale Angebote heutzutage nicht anders und sinnvoller zugänglich gemacht werden können.
Insgesamt handelt es sich um einen gelungenen Band, der die weitere Forschung zum Kantonhandel und zum Austausch zwischen China und dem Westen insgesamt bereichert. Er richtet sich sowohl an Fachhistoriker oder Sinologen, die hier in selten gekannter Detailgenauigkeit Elemente des Kontakts studieren können und in der landeskundlichen Beschreibung im zweiten Teil interessante Aspekte über das westliche Chinabild finden werden, die weit über das hinausgehen, was den kaufmännischen Berichten üblicherweise nachgesagt wird. Die Edition ist aber ebenfalls überaus geeignet als Seminarlektüre, denn obwohl die ersten schwierigen Hürden durch die Bearbeiter und Bearbeiterinnen dieses Bandes bereits genommen worden sind, bleibt das Lesen von Englisch und Französisch des frühen 18. Jahrhunderts für viele sicher schwierig, wie auch die Komplexität der Inhalte eine lohnende Herausforderung bietet.
Anmerkungen:
1 Gang Zhao, The Qing Opening to the Ocean. Chinese Maritime Politics 1684–1757, Honolulu 2013.
2 Bernd Eberstein, Hamburg-Kanton 1731. Der Beginn des Hamburger Chinahandels (Mitteilungen der Hamburger Sinologischen Gesellschaft 13), Hamburg 2000, S. 18–19.
3https://www.degruyter.com/view/supplement/9783110421439_China_to_England.pdf (08.08.2017).