Rolf Wörsdörfer hat der Migration von Sloweninnen und Slowenen nach Deutschland ein historiographisches Monument gesetzt. Die Choreographie seiner Studie ist so mutig wie gelungen – eine Sozialgeschichte in bester Manier, die nicht müde wird, den Spuren der historischen Akteure in den Quellen bis in viele individuelle Geschichten hinein akribisch zu folgen. Die fast 500 Seiten starke Studie entzieht sich jeder methodisch-historiographischen Kategorisierung und erschließt so neue Wege: Sie ist zwar in der Reihe „Studien zur Historischen Migrationsforschung“ des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien erschienen, aber sie ist viel mehr als Migrationsforschung nach gängigen Parametern. Wörsdörfer spielt virtuos die Klaviatur vielfältiger analytischer Kategorien wie Nation, Staat, Region, Klasse, Gender, Religion, Arbeit und eben Migration, und zwar sowohl für die Sendegesellschaft als auch für die Aufnahmegesellschaft: vom ausgehenden Habsburger Reich zum ersten jugoslawischen Staat, zur deutschen Besatzung und ihren Nachwirkungen, zum titoistischen Jugoslawien, zur seit 1990 selbstständigen Republik Slowenien, und vom Kaiserreich zur Weimarer Republik zur NS-Diktatur bis in die Bundesrepublik; von den Kohlenbergbaugebieten der Untersteiermark in die Zechen des Ruhrgebiets und Rheinlands, und aus dem ländlichen Ostslowenien, dem Prekmurje, in die Autofabrik nach Ingolstadt.
Wörsdörfer rekonstruiert zweierlei Massenmigrationen durch das Brennglas des Kollektivs „Sloweninnen und Slowenen“ – letzteres dekonstruiert er indes sowohl in diachroner als auch in synchroner Perspektive. Waren es in der Frühzeit die regionalen Bezeichnungen – Krainer, Steirer, Kärntner – oder die imperiale Zuschreibung – Österreicher –, die den Migrantinnen und Migranten oft mehr zu eigen waren als Slowenin und Slowene, wurden die seit den 1950er-Jahren Zuwandernden bis in die 1980er-Jahre eher dem Kollektiv der Jugoslawen zugerechnet bzw. spiegelte der Wandel in ihrer Wahrnehmung als Jugoslawen und/oder Slowenen die zunehmende Föderalisierung des jugoslawischen Staates.
Wer Wörsdörfers ebenfalls im Schöningh Verlag erschienene, ähnlich komplexe Geschichte des italienisch-jugoslawischen Grenzraums zwischen 1915 und 1955 kennt und schätzt1, wird im neuen Werk nicht nur Wörsdörfers lesbaren Schreibstil und seine prägnante Detailgenauigkeit wiederfinden, sondern auch manche inhaltlich-methodische Verflechtung. Die „Koordinaten slowenischer Wanderungsbewegungen“ (S. 15) illustriert der Autor eingangs anhand der Besuche zweier historischer Protagonisten in dem einen und dem anderen Zielgebiet slowenischer Massenmigration: Johannes Evangelist Krek, katholischer Priester, Sozialkritiker, Hauptvertreter des politisch-sozialen Katholizismus in den slowenischen Kronländern der Habsburger Monarchie und österreichischer Reichstagsabgeordneter, machte sich im April 1899 zu einer fünfwöchigen Reise ins Ruhrgebiet auf. Stane Kavčič, führender kommunistischer Reformpolitiker, Vorsitzender des Exekutivrates der Sozialistischen Republik Slowenien und Vorstandsmitglied des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, kam ein knappes dreiviertel Jahrhundert später, 1972, nach Bayern. Kreks Besuch versinnbildlicht das (noch werdende) Selbstverständnis der Ruhr-Slowenen, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg auf Kreks „Westfälische Briefe“ beriefen und als „Westfälische Slowenen“ verstanden. Kavčič kam wenige Monate vor dem Ende seiner steilen politischen Karriere nach Bayern. Er stand für eine reformorientierte Politik Sloweniens innerhalb des sozialistischen föderativen Jugoslawiens und fokussierte dabei unter anderem den Ausbau slowenisch-bayerischer Wirtschaftsbeziehungen.
Aus dem so versinnbildlichten Nexus zwischen Sende- und Aufnahmestaat entfaltet Wörsdörfer sein Argument für den Vergleich der zwei maßgeblichen Momente slowenischer Massenmigration nach Deutschland. Eine wichtige Kontinuitätslinie zwischen den Orten der Studie besteht in der Hegemonie katholischer Sozialisationsinstanzen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren sukzessive ebenfalls den Ortswechsel vom Bergbau an Ruhr und Rhein in Richtung Süddeutschland vollzogen. 1971 wurde in Ingolstadt eine slowenische katholische Mission gegründet (vorher und seit 2013 wieder bestand sie in München). Auch quantitativ ist der Vergleich gerechtfertigt, da es nur in Ingolstadt nach 1968 zu einer Konzentration slowenischer Arbeiter in einem Betrieb (Auto Union Audi NSU) kam, die derjenigen in manchen niederrheinischen und westfälischen Steinkohlebergwerken um 1900 glich (S. 27). Nicht zuletzt gehören die Slowenen neben den Italienern zu den wenigen Migrantengruppen, die an allen bedeutenden Migrationsbewegungen teilhatten, die seit 1871 Deutschland als Ziel ansteuerten (S. 36).
Die Bedeutung der Vereine, insbesondere der katholischen, später dann zunehmend auch der gewerkschaftlichen Organisationen, als Sozialisationsinstanz für Migrantinnen und Migranten spiegelt sich darin, dass ihnen drei der insgesamt neun thematischen Kapitel des Bandes gewidmet sind. Zwei befassen sich mit den Abwanderungs- und Ankunftsorten und dem Sozialsystem „Migration“ der „westfälischen Slowenen“, drei mit analogen Analysen zu Ingolstadt. Eines ist der Situation der Slowenen während des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Wörsdörfer verflechtet konsequent die Beschreibung der Lebenswelten am Herkunftsort mit jenen am Migrationsort und zeichnet so die Wanderungen des soziokulturellen „Humankapitals“ von einem zum anderen Ort nach, die Verschmelzungs- und Adaptionsprozesse, und oft auch die Rückkehr nach Hause, was immer auch einen Import der in der Migration erlangten Kompetenzen in das Ursprungsland bedeutete.
Der Studie liegen Quellenrecherchen im Bundesarchiv, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, in verschiedenen deutschen Landesarchiven, in elf Stadtarchiven im Ruhrgebiet und Rheinland sowie in mehreren Gewerkschaftsarchiven, kirchlichen Archiven und Archiven von Wohlfahrtsverbänden zugrunde. Hinzu kommen Recherchen im Staatsarchiv Sloweniens und mehreren slowenischen Provinzarchiven, im österreichischen Staatsarchiv in Wien, im Landesarchiv in Graz sowie im italienischen Staatsarchiv in Rom. Der Autor hat Jahrgänge mehrerer Dutzend Zeitungen durchgesehen und zwölf Zeitzeugeninterviews geführt – ein veritables Archivpuzzle.
Wörsdörfer rekonstruiert Wanderwege, Aufbau neuer Existenz am Zielort, Arbeitsplatzwechsel, Heiratsverhalten, Arbeitsleben, Gewerkschaftsarbeit, Streiks, Einbürgerungsverfahren, Abschiebungen, Spracherwerb und -kompetenzen, berufliche Qualifikationen, Gruppenbildungsprozesse, Akkulturation und Integration zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte slowenischer (Massen-)Migration nach Deutschland. Gleichzeitig dekonstruiert er ethnisch-konfessionelle und soziale Zuschreibungskategorien und zeigt deren Variabilität und Wandel auf.
Dem Szenenwechsel von den Zechen an Ruhr und Rhein nach Bayern sind zwei kleinere, beide Regionen verknüpfende Wanderungsmodi nach dem Zweiten Weltkrieg „zwischengeschaltet“, und die narrative Überleitung gelingt elegant. Allerdings wird die Antwort auf die Frage, wann das Ankommen in der Zielgesellschaft als vollzogen gelten kann, etwas zu abrupt in den Dienst der narrativen Dialektik gestellt. Wörsdörfer leitet das Kapitel zu den „Neuanfängen nach 1945“ mit den Worten ein, die „westfälisch-slowenische Erfahrung im Ruhrgebiet“ sei „weitgehend abgeschlossen“ gewesen (S. 283). Das stimmt natürlich hinsichtlich der quantitativ gemessenen Wanderung, nicht aber hinsichtlich des weiteren Lebens der dort konstituierten Migrantengruppe, ihrer Nachkommen sowie derjenigen, die nach dem Krieg hinzukamen. Wie Wörsdörfer schreibt, beantragten zwischen 1955 und 1968 – dem Jahr des deutsch-jugoslawischen Anwerbeabkommens – immerhin „einige Tausend Menschen aus Slowenien und insbesondere aus der Štajerska [die slowenische Steiermark, S.R.] Asyl“ in der Bundesrepublik (S. 292). Die Rezensentin, im Ruhrgebiet als Kind slowenischer Eltern groß geworden, erinnert sich daran, dass die deutschen Autos im untersteirischen Herkunftsort ihrer Mutter in den Sommerferien der 1970er- und frühen 1980er-Jahre durchaus meist das Kennzeichen „IN“ für Ingolstadt trugen. Dass dieser Umstand vordergründig einem ein Jahrzehnt nach der Ankunft ihrer Eltern in Deutschland geschlossenen Anwerbeabkommen zu verdanken war, und dass es einen qualitativen Unterschied zwischen der „Gastarbeiter“-Migration und der Migrationsgeschichte ihrer Familie gibt, wusste sie damals noch nicht.
Geradezu frappierend sind die Zusammenhänge zwischen der deutschen Besetzung Sloweniens 1941–1945 und den Asylgesuchen der Nachkriegszeit: Der Nachweis der Mitgliedschaft, häufiger der Eltern als der Asylsuchenden selbst in NS-nahen Organisationen erleichterte das Asyl- oder Einbürgerungsverfahren oftmals erheblich. Insgesamt lag die Schwelle für eine Anerkennung als Asylbewerber jedoch hoch. Jedenfalls wird in diesem unbekannteren Teil der slowenischen Migration nach Deutschland deutlich, dass es Kontinuitäten und auch „Neuanfänge“ nach dem Krieg im Ruhrgebiet gab, die es verdient hätten, analytisch (weiter) einbezogen zu werden. Nicht zuletzt hätte dies die Gelegenheit geboten, Unterschiede innerhalb Deutschlands genauer nachzuzeichnen – wie Wörsdörfer schreibt, war der Blick der bayerischen Gesellschaft auf die Migrantinnen und Migranten aus Jugoslawien deutlich kritischer als in anderen Teilen der Bundesrepublik.
Zu den „Neuanfängen“ nach dem Krieg gehörte auch der in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre dominante Migrationsmodus „Leiharbeit“ und „Werkvertrag“, ein weiterer wenig bekannter Aspekt slowenischer Deutschland-Migration. Einerseits ergab dieser sich aus der so genannten „Kettenmigration“, andererseits in nicht unerheblicher Form aus der direkten Vermittlung zwischen deutschen und jugoslawischen/slowenischen Firmen, darunter Siemens, BMW und die BAUBOAG. Wörsdörfer erklärt die Attraktivität dieses Migrationstyps mit dem Gefälle im Lebensstandard zwischen der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien und der BRD sowie auch als einen Indikator innerjugoslawischer Disproportionen – Slowenien als Jugoslawiens wirtschaftlich stärkste Republik war ein Hauptziel der jugoslawischen Binnenmigration (S. 323f.). Ein Hauptunterschied zwischen den frühen und den späteren Migrationsregimen lag in den Methoden der Anwerbung und Einstellung. Waren es in den Anfangszeiten und bis in die frühe Nachkriegszeit eher private Firmen, die die Arbeitswanderer anwarben, übernahm diese Aufgabe seit 1968, im Rahmen des deutsch-jugoslawischen Abkommens, vielfach die Bundesanstalt für Arbeit.
Nicht nur mit Blick auf die Zusammenhänge zwischen Push- und Pull-Faktoren der Migrationsregime in beiden beteiligten Ländern ist die Studie hochaktuell: Die Informationen zum Wandel von Einbürgerungsverfahren, von Ablehnung und Ausweisung über ein Jahrhundert hinweg, bzw. deren Abhängigkeit von ökonomischen Konjunkturen seien allen anempfohlen, die sich schwertun mit der Vorstellung der deutschen Gesellschaft als einer 150 Jahre alten Einwanderungsgesellschaft. Wörsdörfers Akribie im Nachverfolgen individueller Lebensläufe führt vor Augen, wieviel Mut Auswanderung in ein fremdes Land oft erforderte, und was Behördenwillkür und der Wandel politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen für den Einzelnen bedeuten konnten, im Guten wie im Schlechten. Die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte Deutschlands und Sloweniens (und Jugoslawiens) in all ihren unterschiedlichen politischen Verfasstheiten seit dem späten 19. Jahrhundert lässt sich mühelos eng miteinander verflechten.
Anmerkung:
1 Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn 2004.