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Titel
Friedrich Gentz, 1764–1832. Penseur post-Lumières et acteur du nouvel ordre européen


Autor(en)
Cahen, Raphaël
Reihe
Pariser Historische Studien 108
Erschienen
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilhelm Kreutz, Seminar für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Mannheim

Im Mittelpunkt der material- und ergebnisreichen Monographie Raphaёl Cahens steht nicht nur die Absicht, den einst berühmten preußischen Beamten, Publizisten, freien Schriftsteller, Finanzexperten, österreichischen Diplomaten und Staatsmann dem weitgehenden Vergessen zu entreißen, sondern vor allem dessen europaweites persönliches Netzwerk herauszuarbeiten und dessen politisches Denken im Kontext der unterschiedlichen intellektuellen Bewegungen zwischen den Julirevolutionen von 1789 und 1830 genau zu verorten und neu zu interpretieren.

In einem einleitenden Kapitel skizziert der Verfasser die Stationen des wechselvollen Lebens und die wichtigsten Schriften des 1764 im schlesischen Breslau Geborenen, ohne auf dessen Privatleben oder Liebesaffären genauer einzugehen. Im Anschluss daran zeichnet er auf der Grundlage veröffentlichter wie unveröffentlichter Schriften und Briefe – die seit 2011 vollständig in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln zugängliche Gentz-Sammlung Günter Herterichs stand ihm bei der Abfassung seiner Dissertation nur teilweise zur Verfügung – die intellektuelle Entwicklung des „Sekretärs von Europa“ ebenso fakten- wie facettenreich nach. Das geistige Fundament seines Denkens sei die für das humanistische Schulwesen nicht nur Preußens charakteristische Rezeption der Antike gewesen, wobei er lateinische Autoren wie Cicero, Tacitus, Sallust oder Vergil den – von seinem langjährigen Freund Wilhelm von Humboldt so geschätzten – Griechen vorgezogen habe. Wichtige Lehrer seien die Spätaufklärer Immanuel Kant, mit dessen „Kritik der Urteilskraft“ er sich während seiner Königsberger Studienjahre intensiv auseinandergesetzt habe, sowie Christian Garve gewesen, der ihn zugleich in seiner Vorliebe für angelsächsisch-schottische Autoren, allen voran Adam Smith, David Hume und William Blackstone, bestärkt habe, ohne dass Gentz französische Aufklärer wie Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Charles de Montesquieu oder Paul Henri Thiry d’Holbach vernachlässigt habe.

Ins Zentrum der Analyse der Veröffentlichungen des ab 1785 im preußischen Staatsdienst tätigen Publizisten und Schriftstellers rücken dessen zahlreiche Publikationen zur Französischen Revolution, allen voran die vielgelesenen Übersetzungen von Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ (1792/93), Jacques Mallet de Pans „Considérations sur la nature de la révolution de France“ (1794) und Jean-Joseph Mouniers „Recherches sur les causes qui ont empêché les François de devenir libres, et les moyens qui leur restent pour acquérir la liberté“ (1795). Zusammen mit seinen eigenen Arbeiten zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Frankreich, zum Vergleich der französischen mit der amerikanischen Revolution, aber auch zum „ewigen Frieden“ und zur Finanzverwaltung Großbritanniens sei er zum wichtigsten Multiplikator des monarchischen Denkens nicht allein im deutschsprachigen Raum avanciert. Cahen weist jedoch die häufig vertretene Meinung zurück, Gentz sei ein „defender of the old order“ (Paul Sweet), ein „konterrevolutionärer Ultra“ und ein entschiedener Antiaufklärer (Zeev Sternhell) gewesen, und charakterisiert ihn als „Post-Aufklärer“: „Ainsi, le concept de post-Lumières paraît plus adéquat pour charactériser la pensée politique de Gentz. Il nous semble préférable à celui de ‘Lumières tardives’ ou Spätaufklärung, également applicable à la pensée politique du futur secrétaire du congrès de Vienne“ (S. 100). Zwar habe er als „gemäßigter Antirevolutionär“ die Tabula-Rasa-Politik der Jakobiner abgelehnt, aber die erste Phase der Revolution ebenso wohlwollend beurteilt wie die konstitutionelle Monarchie. Vielmehr sei er in Theorie und politischer Praxis immer für die Verbesserung der Institutionen und die „Erneuerung der europäischen Ordnung“ eingetreten und habe – in der Innen- wie in der Außenpolitik – immer den Ausgleich zwischen widerstreitenden Kräften gesucht: „La cœur de sa pensée politique, c’est l’idée de réconciliation et d’équilibre“ (S. 203). Zwischen 1791 und 1802 habe sich der zugleich politisch und diplomatisch aktive Beamte durch seine Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen, seine Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften und seinen ausufernden Briefwechsel ein europaweites Netzwerk von Korrespondenten aufgebaut, das er nach dem Wechsel von Berlin nach Wien (1802/03), während seines längeren Aufenthalts in London und seiner – auf die Niederlage von Austerlitz folgenden – Exiljahre in Breslau, Teplice und Prag beständig erweitert und so die Basis für seine Tätigkeit als „rechte Hand“ Metternichs (ab 1812) gelegt habe.

Als verantwortlicher Sekretär der diplomatischen Kongresse von Wien (1814/15), Aachen (1818) Troppau (1820/21) und Verona (1822/23) habe er nicht nur Einfluss auf die europäische Politik gehabt, sondern dank seiner kosmopolitischen Intellektualität und seiner vielfältigen persönlichen Beziehungen zu fast allen entscheidenden Kongressteilnehmern als Vermittler und Versöhner entscheidend dazu beigetragen, dass die Mächte sich näher kamen und Kompromisse möglich wurden. Dabei sei er nie ein einfaches Instrument Metternichs gewesen, sondern habe immer versucht, wenn auch meist ohne Erfolg, seinen Vorgesetzten von der Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution und der Notwendigkeit umfassender Reformen zu überzeugen. „La réforme est donc chez Gentz une nécessité et elle est également un antidote au progressus révolutionnaire. […] Pour lui, les révolutions sont inévitables, il a bien saisi le fait que le mouvement initié en France et en Amérique dans les années 1780-1800 ne s’est pas arrêté en 1813-1815. À tout moment, une ou plusieurs révolutions peuvent de nouveau secouer un pays ou même toute l’Europe“ (S. 201, S. 203). Sein wichtigstes Ziel, das Wiederherstellen und Bewahren des europäischen Gleichgewichts, sei gleichzeitig ebenso antirevolutionär wie antiabsolutistisch gewesen.

Nicht zu übersehen sei jedoch Gentz’ konservativere Periode in den 1820er-Jahren, in der er sich dem Denken eines Vicomtes de Bonald oder Josephs de Maistre annäherte, ohne jedoch sein am englischen Vorbild entwickeltes Modell der notwendigen Reformen preiszugeben. „La système politique de l’Europe doit et va prendre une nouvelle forme. La nécessité va nous conduire à quelque chose de meilleur. Ma grande peur est que l’on s’attache encore trop longtemps bien trop longtemps à une planche du naufrage de l’ancien.“ (S. 372) In jenen Jahren habe er sich vor allem den Revolutionen in Südamerika sowie der „orientalischen Frage“ zugewandt und sei zum außenpolitischen Experten für die Nahostpolitik Österreichs avanciert.

Doch die Februarrevolution in Frankreich sowie die revolutionären Bewegungen in Polen und Belgien, vor deren Ausbruch er immer gewarnt habe und mit denen der alternde Politiker sympathisierte, hätten zum Bruch mit Metternich geführt und den nun in Wien als „Jakobiner“ Geschmähten gesellschaftlich isoliert. All dies habe einen Prozess des Missverstehens eingeleitet und den einst berühmten „homme de lettres“ sowie erfolgreichen Diplomaten in ganz Europa schnell dem Vergessen anheimfallen lassen. Schuld daran seien die vielfältigen Facetten seiner Persönlichkeit und seines umfangreichen Schaffens gewesen, die einfache Kategorisierungen verboten hätten, sowie der in ganz Europa erstarkende Nationalismus, der den „Sekretär Europas“ als obsolet beiseitegeschoben habe.

Sein wissenschaftliches wie publizistisches Œuvre, sein eng geknüpftes intellektuelles Netzwerk und sein politisches Wirken wieder in den Fokus gerückt zu haben, ist das Verdienst der Monographie von Raphaёl Cahen, die hoffentlich viele Leser finden wird.

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