Warum beteiligten sich während der nationalsozialistischen Diktatur so viele Menschen an Gewalt, Unterdrückung oder gar an Morden? Diese Frage stellt Johannes Schwartz seiner Studie über die Handlungsräume von Täterinnen in Konzentrationslagern voran.
Die Aufseherinnen verfügten dem Autor zufolge über große Gestaltungsmöglichkeiten und waren mit verantwortlich für die Gewaltpraktiken im Lageralltag. Sie rangierten in der Hierarchie zwar unter der männlichen Lager-SS, besaßen jedoch weitreichende Machtbefugnisse gegenüber den weiblichen Häftlingen. Gemäß der Dienstvorschrift stand die Oberaufseherin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück dem Schutzhaftlagerführer „in allen weiblichen Angelegenheiten beratend zur Seite“ und sollte „streng, gerecht und umsichtig“ agieren (S. 134). Obwohl den Aufseherinnen die Gewaltausübung gegenüber den Gefangenen offiziell untersagt war, zählten Misshandlungen und Brutalität unterschiedlichster Abstufungen zur alltäglichen Praxis.
Trotz ihrer hohen funktionalen Bedeutung innerhalb des KZ-Systems gibt es bislang nur wenige Untersuchungen über die Dienstpraktiken und Handlungsräume der Aufseherinnen. Ausnahmen bilden beispielsweise die Studien von Elissa Mailänder Koslov, Simone Erpel oder Gudrun Schwarz1, auf deren Grundlagenforschung sich Schwartz bezieht. In einer Mikrostudie erforscht der Autor anhand der Tätigkeiten der Aufseherinnen in Ravensbrück und im Außenlager Neubrandenburg, mit welchen Direktiven die SS deren Dienstalltag regulierte und welche eigenständigen Handlungsspielräume sich die Frauen schufen. Er fragt danach, wann und warum die Täterinnen Gewalt anwendeten oder darauf verzichteten und welche Rolle Machtkämpfe bzw. die sozialen Beziehungen der Akteurinnen untereinander und innerhalb der SS-Hierarchie beim Umgang mit den Opfern spielten.
Auf der Basis eines breiten Quellenkorpus und mithilfe verschiedener Theorieperspektiven, etwa der Alltagsgeschichte oder verschiedenen geschlechtergeschichtlichen Ansätzen, gelingt es dem Autor, die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten des weiblichen Wachpersonals aus verschieden Blickwinkeln zu analysieren und die weitreichenden Auswirkungen auf den Lageralltag der Insassinnen zu erkunden. Insbesondere der integrative Ansatz, mit dem Schwartz die höchst unterschiedlichen Lebenswelten von Täterinnen und Opfern gegenüberstellt, liefert Aufschlüsse über die jeweilige soziale Positionierung und über Muster der Realitätsdeutung. In diesem Kontext gewährt der Autor interessante Einblicke in die unterschiedlichen Erzählstrategien. Laut Schwartz hatten sowohl Aufseherinnen als auch einige sogenannte Funktionshäftlinge in ihren Aussagen nach 1945 die Tendenz zur Selbstheroisierung bzw. Viktimisierung. Selbstkritische Haltungen sind dagegen selten zu finden. Oftmals behaupteten die Bewacherinnen, ihren Dienst im KZ nicht freiwillig geleistet zu haben und auf das Wohl der Gefangenen bedacht gewesen zu sein. Weil dem Autor die Schwierigkeiten im Umgang mit diesen „Wirklichkeitserzählungen“ (S. 29) bewusst sind, wählt er für seine Studie zu den Gewaltverbrechen im KZ die Kombination eines praxis- und erzähltheoretischen Ansatzes.
Nach einem kompakten Überblick über die Geschichte des größten Frauenkonzentrationslagers und des im Jahr 1943 eingerichteten Außenlagers Neubrandenburg zeichnet Schwartz die Lebenswege ausgewählter Täterinnen unter Berücksichtigung von Karrieremustern und Rekrutierungsmechanismen im nationalsozialistischen Lagersystem nach. Ausgehend von den biografischen Einzelstudien analysiert Schwartz das individuelle Gewalthandeln der Aufseherinnen und ihre Handlungsoptionen bei Bestrafungen. Anknüpfend an die interdisziplinäre Gewaltforschung unterscheidet er dabei zwischen strukturellen, körperlichen, symbolischen, sanften, autotelischen oder exzessiven Gewaltformen.2
Deutlich wird, dass für die Karrieren der Frauen neben der Bereitschaft, Gewalt auszuüben, auch Kriterien wie Kameradschaft, Netzwerke und Patronage-Verhältnisse innerhalb der SS sowie persönlicher Ehrgeiz und individuelles Selbstbewusstsein ausschlaggebend waren. Wie bereits Elissa Mailänder Koslov zeigt auch Schwartz, dass sich im NS-Regime jenseits der herkömmlichen Geschlechterrollen neue Karrieremöglichkeiten für Frauen auftaten. Einem Großteil der Aufseherinnen gelang es, ihre persönlichen Lebensentwürfe mit dem Dienst im Konzentrationslager in Einklang zu bringen und darüber hinaus die Zielvorstellungen der SS-Organisationen umzusetzen.
Am Beispiel prominenter Täterinnen wie Johanna Langefeld, Elsa Ehrich und Maria Mandl untersucht Schwartz die individuellen Führungsstile der KZ-Aufseherinnen in den Lagern Ravensbrück, Auschwitz und Majdanek. Seine Analyse zeigt, wie die Frauen ihre jeweiligen Herrschaftspraktiken ausübten und ihre Machtpositionen auf Kosten der Häftlinge zu stärken suchten. Die Aufseherinnen misshandelten die KZ-Insassinnen auf vielfältige Weise und in unterschiedlicher Intensität. Gewaltpraktiken reichten von psychischen Demütigungen, Drohungen und Strafen über körperliche Verletzungen bis hin zu extremer Gewalt und Mord. Oftmals delegierten sie die Gewaltausübung an die Funktionshäftlinge. Eigenmächtige Übergriffe wurden von den männlichen Vorgesetzen selten geahndet, sondern in der Regel toleriert oder sogar gefördert. Im Kriegsverlauf konnten die Aufseherinnen zunehmend ohne die Einmischung der Vorgesetzten agieren und ihre relativ mächtige Stellung im Konzentrationslager mitunter sogar nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen ausbauen.
Zeugenaussagen aus der Nachkriegszeit zeigen, dass die gewalttätigen Handlungen der Täterinnen vor allem instrumentellen Zwecken dienten; sie erzeugten Dominanz und schüchterten ein. Einige Aufseherinnen nutzten zudem ihre Kompetenzen in „weiblichen Angelegenheiten“, beispielsweise die Fähigkeit, unter den weiblichen Häftlingen für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen, um sich gegenüber den männlichen SS-Führern zu behaupten. Viele der Frauen stellten zudem gezielt ihre Weiblichkeit innerhalb des Lagers zur Schau, gestanden dies den Insassinnen aber in keiner Form zu. Die Handlungspraktiken von Johanna Langefeld sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich. Durch ihre Überzeugung, dass Frauen weibliche Gefangene besser bewachen und führen könnten, schuf sie sich zwar eigenmächtig Gestaltungsräume, geriet so jedoch häufig in Konflikt mit der Lagerleitung und der SS-Führung. Ihr Fall zeigt, dass die Handlungsmöglichkeiten von Tätern und Täterinnen immens von der eigenen Anpassungsfähigkeit sowie der sozialen Vernetzung innerhalb der SS-Hierarchie geprägt waren.
Ein Gegenbeispiel zu den überzeugten Akteurinnen im KZ-System ist die ehemalige Aufseherin Irmgard S. Sie entschied sich bewusst gegen eine „Karriere der Gewalt“ und setzte ihre berufliche Laufbahn außerhalb des Lagers fort. Ihr Beispiel konterkariert die Rechtfertigungsversuche vieler Täter und Täterinnen, die nach 1945 aussagten, ein Austritt aus der SS und dem Arbeitsverhältnis sei unmöglich gewesen. Den Dienst im Konzentrationslager zu quittieren war eine von mehreren Optionen devianten Verhaltens. Auch bei einem Verbleib im Lager standen den Aufseherinnen abgeschwächte Formen nonkonformen Verhaltens zur Verfügung. Einige beteiligten sich nicht an den Misshandlungen und verhielten sich relativ neutral gegenüber den Gefangenen.
Inwiefern das gewalttätige Dienstverständnis der Aufseherinnen den wirtschaftlichen Zielen der SS-Führung in der Rüstungsproduktion dienlich war, zeigt Schwartz anhand der Betrachtung der ökonomischen Ausbeutung der Arbeitskraft. Die instrumentelle Gewaltanwendung, die dem Ziel der Erhöhung des Arbeitspensums der Häftlinge diente, entwickelte sich häufig zu einer zerstörerischen Form der Brutalität. Dies wurde seitens der Lagerführung billigend in Kauf genommen, weil die kurzfristige Erhöhung der Rüstungsproduktion langfristig die Stellung der SS-Organisation im polykratischen Machtgefüge des NS-Regimes sicherte. Darüber hinaus beteiligten sich die Aufseherinnen aktiv am Vernichtungsprozess im KZ-System, z.B. indem sie bei Selektionen mitwirkten, Insassinnen folterten und kranke wie geschwächte Gefangene ermordeten (etwa bei der „Aktion 14f13“).
Johannes Schwartz legt eine detaillierte Mikrostudie zu den Aktionsräumen von Aufseherinnen im Konzentrationslager vor. Eindrücklich zeichnet er in Kontrastierung zu den formalen SS-Direktiven das Dienstverständnis der Täterinnen und ihre sozialen Praktiken nach. Neue Erkenntnisse über die Handlungsoptionen der Bewacherinnen im Lageralltag liefern seine Interviews, aus denen die unterschiedlichen Erfahrungen der Opfer und die Selbstlegitimationsstrategien der Täterinnen deutlich werden. Gewinnbringend ist vor allem die Beantwortung der Frage, welche Rolle Weiblichkeit im Dienstalltag spielte. Insgesamt ähnelt die Studie in ihrer Grundstruktur dem Werk von Mailänder Koslov über Täterinnen in Majdanek. Daher bietet das Buch von Johannes Schwartz zwar eine gelungene Überblicksdarstellung zu den Täterinnen in Ravensbrück, vermag sich jedoch nur punktuell von anderen Werken abzusetzen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Simone Erpel (Hrsg.), Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück. Begleitband zur Ausstellung, Berlin 2007; Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942–1944, Hamburg 2009; Gudrun Schwarz, SS-Aufseherinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1933–1945), in: Dachauer Hefte 10 (1994), S. 32–49.
2 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008; Markus Schroer, Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltanalyse, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft (2000), 4, S. 434–451.