F. Römer: Die narzisstische Volksgemeinschaft

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Titel
Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944


Autor(en)
Römer, Felix
Reihe
S. Fischer Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: S. Fischer
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kreutz, Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Hamburg

In seinem neuen Buch widmet sich Felix Römer dem Leben eines heute weitgehend vergessenen und auch durch die Geschichtswissenschaft bisher kaum beachteten NSDAP-Funktionärs: Theodor Habicht. Römer liefert in seiner methodisch innovativen Studie mehr als eine klassische Biographie. Vielmehr nutzt Römer den Lebensweg Habichts, um die „Kultur des Narzissmus“ herauszuarbeiten, die – so eine der Hauptthesen des Buches – die Mentalität führender Nationalsozialisten prägte. Um das zu belegen, verfolgt Römer die Parteikarriere des 1898 geborenen Habicht durch ihre Höhen und Tiefen: 1926 in die NSDAP eingetreten stieg Habicht schnell zum Führer der Wiesbadener NSDAP auf. Durch weit über dem Reichsdurchschnitt liegende Wahlergebnisse und eine emsige Propagandatätigkeit sicherte sich Habicht das Wohlwollen und die Unterstützung Hitlers, der ihn 1931 nach Österreich entsandte, um die dortige NS-Bewegung zu reorganisieren. Habichts zwei Jahre später erfolgte Ernennung zum „Bevollmächtigten“ Hitlers in Österreich bildete einen ersten Höhepunkt seiner Laufbahn.

Allerdings zeichnete sich Habicht, der nun vollends von der eigenen historischen Größe überzeugt war, durch einen „Politikstil“ aus, der „aggressiv und teilweise geradezu irrational“ war (S. 92). Dadurch stürzte sich Habicht immer wieder in aussichtslose Konflikte. Schon in Wiesbaden war Habicht in ständige Streitigkeiten mit der ihm vorgesetzten Frankfurter Gauleitung verwickelt und hatte durch eine Serie verlorener Presseprozesse die von ihm geleitete Parteizeitung an den Rand des Bankrotts manövriert. Seine Lage war derart verfahren, dass er schließlich selbst darum bat, mit einer neuen Aufgabe betraut zu werden. Auch in Österreich war Habichts Handeln durch innerparteiliche Rivalitäten und Auseinandersetzungen mit der Justiz geprägt. Sie sollten in Habichts größtem politischen Misserfolg münden: Dem Versuch, die österreichische NS-Bewegung durch einen Putsch an die Macht zu bringen. Als dieses Unternehmen im Juli 1934 scheiterte, schien Habichts Karriere beendet.

Da Habicht aber weiter auf das Wohlwollen Hitlers bauen konnte, erholte er sich auch von diesem Rückschlag. Nach zwei Jahren auf dem politischen Abstellgleis begann das Reichsinnenministerium wohl auf Initiative von Staatssekretär Wilhelm Stuckart (einem alten Bekannten Habichts) und mit Zustimmung Hitlers nach einem geeigneten Posten für Habicht zu suchen. Fündig wurde man schließlich in der Stadt Wittenberg, zu deren Oberbürgermeister Habicht im Februar 1937 ernannt wurde.

Allerdings blieb Habichts Rückkehr in die Kommunalpolitik nur Episode. Im November 1939 erhielt er einen Posten im Auswärtigen Amt. Hier sollte Habicht erneut – und dieses Mal endgültig – an den eigenen Ambitionen scheitern. Im April 1940 mischte er sich derart ungeschickt in die deutsche Norwegen-Politik ein, dass er den Zorn aller Beteiligten heraufbeschwor. Selbst Hitler, der Habicht bis dahin immer unterstützt hatte, ließ ihn nun fallen. Damit begann der letzte Abschnitt im Leben Habichts, auf dem der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt: Habichts Einsatz als Frontoffizier bei einem Infanterieregiment der Wehrmacht im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Hier sollte Habicht, der bereits den Überfall auf Polen an der Front mitgemacht hatte, Ende Januar 1944 getötet werden. Habicht war damit einer der wenigen hohen NS-Funktionäre, die den Zweiten Weltkrieg an der Front erlebten.

Habicht kommt noch aus einem weiteren Grund eine Sonderstellung zu. Er dokumentierte seine Kriegserlebnisse in einem Tagebuch, das er zwischen Juni 1941 und Januar 1944 mit großer Regelmäßigkeit und Freude am Detail führte. Ergänzend zu dieser einzigartigen Quelle hat Römer durch umfangreiche Archivrecherchen eine breite Quellenbasis aufgetan, durch die sich neue Einsichten in die Geschichte der NS-Bewegung ergeben. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, sei auf Römers geographische Auswertung von Mitgliederlisten der Wiesbadener NSDAP hingewiesen. Sie belegt eindrucksvoll und anschaulich welche Bedeutung „räumliche Nähe“ für die Mitgliederrekrutierung in der frühen NS-Bewegung hatte (S. 66).

Römers Ansatz basiert auf der Annahme eines für den Nationalsozialismus spezifischen Spannungsverhältnisses zwischen Narzissmus und Volksgemeinschaft. Laut Römer war die nationalsozialistische Volksgemeinschaftsidee durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Einerseits beinhaltete sie einen Appell an die Opferbereitschaft und negierte auf diese Weise individuelle Ansprüche. Andererseits versprach sie sozialen „Aufstieg durch Leistung“ (S. 131) und erlaubte Männern wie Habicht, sich als herausgehobene Persönlichkeiten und Führer zu begreifen.

Am Beispiel Habichts kann Römer verdeutlichen, wie sich diese Widersprüche auf der individuellen Ebene niederschlugen. Er zeichnet Habicht als einen Funktionär, dem es durch organisatorische und propagandistische Fähigkeiten sowie eine an Narzissmus grenzende Selbstüberschätzung gleich zweimal gelang, sich an die Führungsriege des Nationalsozialismus heranzuarbeiten. Dort angekommen sei Habicht aber jeweils an sich selbst und vor allem an seinen narzisstischen Tendenzen gescheitert. Dabei begreift Römer Narzissmus nicht allein als ein individuelles Charakteristikum Habichts, sondern als zentralen Aspekt der „historischen Mentalität der Nationalsozialisten“ (S. 32). In dieser Sichtweise liegt eine große Stärke des Buches. Römer reduziert Habichts eigenmächtiges, selbstbezogenes und in der Folge immer wieder unfreiwillig selbstzerstörerisches Handeln nicht auf eine persönliche Pathologie. Stattdessen interpretiert er narzisstisch geprägtes Handeln als einen Funktionsmechanismus des Nationalsozialismus, der auch andere NS-Größen wie Goebbels oder Rosenberg geprägt habe. Demnach hätten „die Nationalsozialisten als Gruppe durch ihre soziale Praxis eine Kultur des Narzissmus“ ausgebildet (S. 26). Zur Begründung verweist Römer auf ein „Bündel von erfahrungsgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Faktoren“ (S. 27).

Der Schwerpunkt von Römers Darstellung liegt auf Habichts Agieren im Krieg gegen die Sowjetunion. Hier zeigt sich Römers Fähigkeit, Habichts Kriegstagebuch durch Konfrontation und Abgleich mit anderen Aufzeichnungen und Unterlagen zum Sprechen zu bringen. So arbeitet Römer die eigenwilligen Selbsttäuschungen Habichts heraus. Im Tagebuch stellte sich Habicht als „guter Besatzer“ dar, der im besten Einvernehmen mit der sowjetischen Zivilbevölkerung lebte und dem „immer wieder große Dankbarkeit“ durch Einheimische entgegengebracht wurde (S. 263). Die von ihm selbst, seinen Untergebenen und Kameraden verübten Verbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen blendete er dagegen ebenso aus wie die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Aufschlussreich sind auch Römers Überlegungen darüber, wie Habicht und seine Kameraden auf unterschiedliche Weise versuchten, „Ordnung im Gewaltraum“ der Ostfront zu schaffen (S. 205). Römers Ausgangspunkt bilden dabei die zeitlichen und räumlichen Konjunkturen, denen Gewalt an der Ostfront unterworfen war. Einerseits erlebte Habichts Einheit immer wieder Phasen vergleichsweiser Ruhe, in denen sich Habicht der Ausstaffierung der eigenen Unterkunft oder am zivilen Alltag orientierten Freizeitbeschäftigungen widmete, um sich auf diese Weise ein Refugium vor der Gewalt zu schaffen. Andererseits nutzte Habicht Gewalt, um seine Ordnungsvorstellungen gegenüber eigenen Untergebenen, sowjetischen Soldaten und der Zivilbevölkerung durchzusetzen.

Leider verzichtet Römer auf eine eingehende Auseinandersetzung mit den Funktionen, die das Tagebuchschreiben für Habicht hatte. Dabei ließe sich die schreibende Auseinandersetzung mit dem eigenen Kriegserlebnis als weiteres Mittel interpretieren, „Ordnung in den Gewaltraum“ zu bringen. Gleichzeitig würde auf diese Weise in den Vordergrund rücken, dass Habicht die eigenen Wahrnehmungen im Tagebuch nicht einfach beschrieb, sondern strukturierte und verarbeitete. Spannend wäre zudem eine stärkere Auseinandersetzung mit der kommunikativen Dimension gewesen, die das Schreiben für Habicht hatte. Zwar vermutet Römer, dass Habicht das Tagebuch als Rohmaterial für eine spätere Publikation im Stile von Ernst Jüngers „Stahlgewittern“ sah. Wie sich das auf Habichts schriftliche Selbstentwürfe auswirkte, diskutiert er aber nicht. Damit bleibt gleichzeitig offen, inwieweit sich Habichts Selbstdarstellungen an literarischen Vorbildern und Traditionen orientierten.

Ungeachtet solcher Kritikpunkte ist es Römer gelungen, Theodor Habichts Streben nach Macht, Einfluss und Anerkennung mithilfe des Begriffes der „narzisstischen Volksgemeinschaft“ überaus überzeugend zu erhellen. Insbesondere die Forschung zur deutschen Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion sowie über Selbstbilder und Selbstdarstellungen der deutschen Besatzer wird durch das Buch um neue Facetten bereichert.

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