A. Caruso: Nationalstaat als Telos?

Cover
Titel
Nationalstaat als Telos. Der konservative Diskurs in Preußen und Sardinien-Piemont 1840–1870


Autor(en)
Caruso, Amerigo
Reihe
Elitenwandel in der Moderne 20
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 516 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hanisch, Historisches Seminar, Universität Kiel

„Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen“: Das ist das gängige Urteil über den Konservativismus des 19. Jahrhunderts. Unbelehrbare Leute, die am Althergebrachten festhingen und zäh mit all ihrer verbliebenen Macht überkommene Privilegien verteidigten. Aufzuzeigen, dass dem nicht so ist: Dies ist das Hauptanliegen von Amerigo Carusos Dissertation (Universität des Saarlandes).

Die Idee des volksvereinenden Nationalstaats bedrohte alle Throne von Gottes Gnaden – Throne, die der Wiener Kongress nach Französischer Revolution und Napoleon so mühselig wieder hergestellt hatte – in Italien waren es alle – und deren Legitimität nur im Himmel verankert war. Auf Erden jedoch blieb die restaurierte monarchische Ordnung permanent von Volkssouveränität und nationaler Bewegung bedroht, die sich als Ziel, als „Telos“ den Nationalstaat gesetzt hat. Er stand quer zur erneuerten Herrlichkeit aller souveränen Fürsten, auch in „Deutschland“ und in „Italien“. Beides waren Begriffe, die nach dem Wollen vieler Konservativer nur geographische Bezeichnungen bleiben sollten, allenfalls für kulturelle Gemeinsamkeiten standen, aber keinesfalls für politische.

Kann bei dieser Ausgangslage der „Nationalstaat“ auch für Konservative ein politisches Ziel, ein „Telos“ sein? Das ist die Frage, insbesondere in der Umbruchszeit von 1840–1870: Vormärz, Revolution, Krieg, Nationalstaatsgründung! Sie liegt Carusos Untersuchung des konservativen Diskurses in Preußen und Sardinien-Piemont zugrunde. Die Antwort vorweg: Ja! Nicht unbeträchtliche Teile des Konservativismus sahen bei Strafe der Revolution die Notwendigkeit, sich mit der Nationalstaatsbewegung zur arrangieren, und das führte zur italienischen und deutschen Einigung, die Cavour und Bismarck ins Werk setzten. Dies taten sie nicht, weil sie überzeugte Anhänger des Nationalstaates waren, den sie da schufen, sondern weil sie die nationale Idee als Stütze der wackligen Throne ihrer Könige instrumentalisieren wollten – mit beträchtlichem Zuwachs an neuer nationaler Legitimität für die alten Throne von Gottes Gnaden und der schönen Nebenfolge eines ebenso beträchtlichen Machtzuwachses. Die Nation im Dienst der Monarchie? Oder die Monarchie im Dienst der Nation? Werden da nicht die Throne durch den Nationalstaat mediatisiert, der eine Ausgeburt der Revolution bleiben und à la longue durèe die Könige, Fürsten und den Adel obsolet machen wird? Es gab über diese Fragen einen tief greifenden innerkonservativen Diskurs. Ihn dokumentiert Caruso in allen erdenklichen Facetten und Weiterungen vergleichend für Piemont-Sardinien und für Preußen. Damit ist der Kern des Buches beschrieben.

Tatsächlich wurden viele Fürsten mediatisiert, nicht bloß a la longue durée, sondern sie verloren – geradezu revolutionär – gänzlich ihre Throne im Zuge der deutschen und der italienischen Einigung, in Italien sogar alle bis auf den von Piemont-Sardinien, der König von Italien wurde. Hier böte sich für zukünftige Forschungen eine nicht unwesentliche Weiterung an, nämlich in den Diskurs auch die Standpunkte der „depossedierten“ Fürstentümer und Königreiche miteinzubeziehen. Hierzu existiert schon eine Reihe von Studien auf regionaler bzw. landesgeschichtlicher Ebene. Aber die Kunst ist bekanntlich lang. Und eine Dissertation muss bemessen sein.

Caruso wertet nachweislich eine ungeheure Menge von Quellen aus, 24 eng bedruckte Seiten allein das Quellenverzeichnis: Pamphlete, Zeitungsartikel, religiöse, politische, staatswissenschaftliche Abhandlungen, Romane, Erzählungen, Lieder- und Gedichtbücher, Vorträge, Petitionen, Predigten, Gedenkreden, Memoiren, Hagiographien, politische und diplomatische Dokumente und Quelleneditionen sowohl für Preußen als auch für Piemont-Sardinien. Hinzu kommen noch einige wenige archivalische Quellen. In der Tat alle erdenklichen Facetten und Weiterungen! Allein damit avanciert die Arbeit zu einem Opus magnum für die Erforschung des Konservativismus, der im Vergleich zu populäreren politischen Bewegungen immer noch erhebliche Forschungsdesiderate aufweist.

Wäre die Aufarbeitung des innerkonservativen Diskurses allein für einen Staat nicht schon genug, so gewinnt die Arbeit ungemein durch zwei Dinge: Einmal durch den Vergleich von Piemont-Sardinien und Preußen. Für ein solch in die Tiefe der Quellen gehendes Anliegen sind exzellente Kenntnisse beider Sprachen eine Voraussetzung, die nur wenige Historiker diesseits und jenseits der Alpen mitbringen. Zum anderen ist die Arbeit zwar auf Piemont-Sardinien und Preußen zentriert, aber sie beschäftigt sich nicht nur mit Quellen aus diesen beiden Staaten. Es geht allgemein um Wandlungs- und Anpassungsprozesse des konservativen Denkens. Der Konservativismus ist jedoch eine gesamteuropäische Bewegung. Und so ist jeder konservative Diskurs eingebettet in die größeren, übereinzelstaatlichen und übernationalen Diskurszusammenhänge; Einbettungen, die Caruso auch vornimmt. Auf diese Weise wird Carusos Untersuchung beispielgebend über Piemont-Sardinien und Preußen hinaus.

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil werden traditionelle Wertorientierungen des Konservativismus vorgestellt in der Auseinandersetzung mit Revolution und Nationalismus, an denen nichts Gutes gelassen wird. Im zweiten Teil folgt dann der konservative Diskurs nach der Erschütterung durch die Revolution 1848. Ein monarchischer Patriotismus wird jetzt verstärkt kultiviert und ebenso Religion als Bollwerk gegen die Revolution. Der dritte Teil behandelt den Umbruch im konservativen Denken. War Nation vordem stigmatisiert, so erfolgt jetzt die Nationalstaatsgründung von oben, was erhebliche Modifikationen und Anpassungsleistungen im konservativen Denken zur Folge hatte – und erheblichen Streit über die Grundprinzipien des Konservativismus in einer sich rasant verändernden Welt. Der vierte Teil „Zusammenfassung und Ausblick“ ist mehr „nach“-denkender Ausblick als Zusammenfassung. Er stellt über Italien und Deutschland hinausweisende Reflexionen allgemeinen Charakters an über Probleme und schwierige Fragen des Konservatismus. Kapitelüberschriften: „Die politische ‚Umsicht und Geschichtlichkeit‘ der Konservativen“, „Kontinuitätskonstruktion und Komplexitätsreduzierung…“, „Politische Mythologie…“, „Der konservative Diskurs zwischen gesamteuropäischem Kontext, transnationaler Artikulation und regionalem Vergleich“, „Zukunftsoffenheit und historische Ungleichzeitigkeit einer Übergangsepoche“. Dieser Teil wird wohl zu den am meisten rezipierten Teilen der Arbeit gehören, nicht zuletzt, weil er Impulse für weitergehende Untersuchungen zum Konservativismus enthält.

Trotz aller Positiva gibt es auch Dinge, die der eine oder andere Rezipient nicht immer goutieren wird. Da ist einmal der Umstand, dass viele Quellen auf Italienisch nicht übersetzt werden, so dass Beherrschung des Italienischen Voraussetzung für die Lektüre des Werkes in Gänze ist. Dann ist es die mit der Methodik des Werkes einhergehende sprachliche Verdichtung auf einem sehr hohen Niveau, was vielen wiederum die Lektüre erschweren wird und was in dieser Verdichtung gar nicht immer so notwendig gewesen wäre.

Die Arbeit zeichnet sich trotzdem (oder gerade deshalb) durch ein hohes Methodenbewusstsein aus. Sie fußt allgemein auf diskurstheoretischen Paradigmen. Im Besonderen lehnt sich Caruso dabei an Quentin Skinner und Pierre Bourdieu an. Jedoch bleiben Schwierigkeiten in der Abgrenzung zu einer traditionellen Ideengeschichte. Aber diese Schwierigkeiten sind nicht die Schwierigkeiten von Caruso, der sie auch thematisiert, sondern sind häufig dem Überlappungsbereich Ideengeschichte-Diskurstheorie immanent. Und genau diesem Überlappungsbereich ist die Arbeit zuzuordnen.

Das Ergebnis der Arbeit ist in den letzten Zeilen zusammengefasst: „Der immer wiederkehrende Spruch ‚ils n’ont rien appris, ni riens oublié‘ spiegelt nur die halbe Wahrheit wider. Mit der religiösen Politik, dem monarchischen Herrscherkult und der Revolutionsangst stellten die Konservativen ostentativ zur Schau, dass sie nichts vergessen hatten. Trotz oder gerade wegen dieser Permanenz ungleichzeitiger Semantiken, Emotionen und Wertorientierungen waren sie imstande, auch viel zu lernen und zu vergessen. Als nach 1848 immer mehr preußische und piemontesische Reformgegner einen Kompromiss mit den liberalen Verfassungs- und Nationalstaatsidealen in die Nähe des Realisierbaren gerückt sahen, übernahmen sie modernistische, positivistische und teleologische Argumentationsmuster und versuchten, die legitimistische Vergangenheit zu vergessen“ (451). Caruso hat damit einmal mehr das sehr pauschale Vorurteil über den Konservativismus widerlegt. In Ansätzen ist dies schon in der Forschung unter der Rubrik Liberal-Konservatismus thematisiert worden.

Ungeachtet der kleineren Monita ist die Arbeit vom Arbeitssaufwand her und der Vielschichtigkeit, wie das Thema behandelt wird, ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte des Konservativismus.

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