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Titel
Schulbücher und Schulbuchverlage in den Besatzungszonen Deutschlands 1945–1949. Eine buch- und verlagsgeschichtliche Bestandsaufnahme und Analyse. Mit Bibliografie der erschienenen Schulbücher, Lehrpläne und pädagogischen Zeitschriften


Autor(en)
Teistler, Gisela
Reihe
Buchwissenschaftliche Beiträge 95
Erschienen
Wiesbaden 2017: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XI, 715 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Jacobmeyer, Universität Münster

Der dreigestufte Titel, fast ein Inhaltsverzeichnis, inseriert ein monumentales Werk zur pädagogischen Buchgeschichte. Erfasst wird die kaum in Umrissen bekannte, geschweige denn wissenschaftlich erschlossene Landschaft von rund 4.500 deutschen Lehrbüchern für den Schulgebrauch und deren besatzungspolitische Konditionierung zwischen Kriegsende und Wiederbeginn deutscher Staatlichkeit. Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin, war langjährig Leiterin der Schulbuchbibliothek des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, ist durch Bestandsübersichten und buchgeschichtliche Studien ausgewiesen. Ihre Studie beginnt mit einer nach Besatzungszonen gegliederten Untersuchung der besatzungspolitischen Umerziehungspolitiken und Bildungsstrategien (S. 5–317). Dem folgt eine breite Dokumentation („Anhänge“), ein im wesentlichen sachsystematisch zusammengehöriges komplexes Datenhandbuch: Lehrbücher des anglo-amerikanischen Notprogramms (S. 321–324); Zitate aus amerikanischer Lehrbuchkritik (S. 325ff.), die allerdings etwas willkürlich gegriffen sind; Vergabe von Verlagslizenzen in Westdeutschland (S. 338ff.); Auflistung zugelassener pädagogischer Zeitschriften aller vier Zonen (S. 342–346); Richtlinien und Lehrpläne nach Zonen und Ländern (S. 347–359); als Kernstück eine Bibliographie zugelassener Lehrbücher nach Zonen, Ländern, Schulformen und Fächern (S. 360–538) und neu erschienener Lehrbücher nach Ländern, Fächern und Schulformen (S. 539–590). Diesen Eckdaten folgen als weiterer dokumentarischer Teil („Dokumente“, S. 593–656), mit nachlassender Stringenz und Dichte: Belege für den westalliierten Zugriff und politischen Bildungswillen an Beispielen – u.a. ein Protokoll des Landtags Württemberg-Hohenzollern und ein langer und dankenswert intensiver Bericht Raymond Schmittleins über die von ihm kommandierte französische Umerziehungspolitik, die notorisch viel schlechter überliefert ist als die anglo-amerikanischen Politiken. Dem Ganzen folgen 32 farbige Abbildungen der Titelblätter von Fibeln, Atlanten und sekundären Unterrichtswerken (S. 657–672, das Verzeichnis: S. 677f.), Aufschlüsselung der Abkürzungen (S. 673f.), die Auflistung der Abbildungen im ersten Teil (S. 675f.) und endlich das beeindruckende Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 679–704). Ein Personen- und Sachregister (S. 705–715) beschließt den mehr als stattlichen Band auf großem Format mit kleiner Schriftgröße und sparsamem Durchschuss. – Der skeptische Historiker vermutet, dass es eine Druckfassung solcher Datenmassen nicht mehr lange geben wird. Hier aber sind sie hochwillkommen, belegen den akribischen Fleiß der Autorin und ihren Willen zur Genauigkeit, überborden aber die analytische Darstellung.

Die Grobgliederung der eigentlichen Untersuchung ordnet die Besatzungspolitiken nach zunehmender Verfremdung, am Ende radikaler Aussetzung überkommener deutscher Lehrbuchtraditionen. Zunächst werden als Löwenanteil das amerikanische und das britische Notprogramm der unmittelbaren Nachkriegszeit dargelegt (S. 5–40), dann Merkmale bizonaler Lehrbücherpolitik je für sich, aber in paralleler Ordnung (S. 41–200); Vergleichsmerkmale werden zwar angemerkt, liefern aber keine Struktur; es folgt ein Blick auf das Sonderproblem der Viersektorenstadt Berlin (S. 201–222); harschen „Besatzer“-Willen beschreibt das Kapitel zur französischen Zone (S. 223–254); das Schlusskapitel zur sowjetischen Besatzungszone (S. 255–306) schert aus Traditionsbindungen der deutschen Lehrbücherwelt vollends aus und zeigt, wie ideologischer Wille die Lehrbuchlandschaft verformt und zur Schmalspur des Verlags „Volk und Wissen“ führt, einer nach geordneten Behörde der Deutschen Zentrale für Volksbildung, später des Volksbildungsministeriums. Jedes Kapitel wird durch Befunde beschlossen, die sich allerdings auf buchgeschichtliche Entwicklungen begrenzen und die vorher erörterten besatzungspolitischen Merkmale weitgehend ausblenden. Die Ergebnisse werden als „Schlaglichter“ (S. 307–317) zusammengefasst.

Britische und amerikanische Schulbuchpolitik werden in zwei Anläufen erläutert. Zunächst wird die Politik der frühen Phase erörtert (S. 41–75); ein Kapitel zur Lizenzierung von Verlagen ist dazwischen geschaltet (S. 77–120); danach wird die Wirkung besatzungspolitischer Einflussnahmen erneut in den Focus genommen (S. 121–200), wobei die Verfasserin für die US-Zone „top down“ nach Ländern, Schulformen und Fächern gliedert, für die britische Zone dagegen „bottom up“ vom nachweisbaren Lehrbuch ausgeht. Das Letztere zeichnet den Wildwuchs einer Schulbuchlandschaft nach, dessen Abbildung der stupenden Sachkenntnis der Verfasserin einerseits das beste Zeugnis ausstellt, andererseits aber doch der kategorialen Ordnung entbehrt und die Urteile erschwert. Der britischen Politik werden nach Maria Halbritters (1979) Urteilstenor ein „von Liberalität geprägter Pragmatismus“ (S. 47) und eine „liberale Handhabung“ (S. 48) der besatzungspolitischen Aufsicht nachgesagt, der amerikanischen Politik ein „ausgeprägter Hang zu missionarischen Tendenzen“ (S. 46). Aber wer die Praxis des britischen „indirect rule“ kennt, etwa im Zonenbeirat und dessen Ausschüssen, wird einen Gegensatz von „liberaler“ britischer und „autoritärer“ amerikanischer Besatzungspolitik wohl nicht unterstützen. Zudem ist wegen einer zu wenig zeichnenden Begrifflichkeit das Urteil über „außerordentlich penible Kontrollmechanismen“ (S. 43) der amerikanischen Politik schwer nachzuvollziehen, wenn deren Weisungen als bloße „Verlautbarungen“, „Empfehlungen“, „Leitlinien“ oder „Richtlinien“ (ebd.) erscheinen. Die Schulbuchwirklichkeiten laufen allerdings stark auseinander. Für die amerikanische Zone wird ein „gouvernementaler“ Grundzug ermittelt, in dem die Länder dominierten, während sich in der britischen Zone späte Weimarer Reformimpulse auslebten, zu einer diffusen Lehrbuchlandschaft, den Texten der „Gesinnungsfächer“ und einer „basisdemokratischen Lehrerschaft“ (S. 199) führten.

Das 6. Kapitel zu Berlin (S. 201–222) beleuchtet interalliierte Konflikte. Da Beschlüsse der Alliierten in Berlin der Einstimmigkeit bedurften, standen bildungspolitische Maximen schon 1946 als Verlängerung ideologischer und machtpolitischer Prämissen konfliktreich gegen einander. Das Urteil, dass diese Konflikte „insbesondere von den Amerikanern geschürt“ (S. 204) wurden, weil sie die Lehrbücher sehr gründlich prüften, wird der politischen Komplexität nicht gerecht. Denn der Verlag „Volk und Wissen“ im sowjetischen Sektor veröffentlichte Lehrbücher außerhalb des Genehmigungsverfahrens und verletzte damit den zwischen den Besatzungsmächten vereinbarten Rechtsrahmen, während die Prüftätigkeit der Amerikaner völlig rechtskonform war, nur eben politisch ungeliebt. Als der sowjetische Vertreter am 30.03.1948 den Kontrollrat verließ, wirkte sich die Spaltung Berlins auch lähmend auf Schulfragen aus, und die Blockade machte die Versorgung mit Papier zusätzlich problematisch. Die Darstellung schwenkt dann von politischen Fragen zu den nach Fächern gegliederten Schulbüchern. Vielfach waren sie mit schlichter Semantik (vgl. die Abb. 209) auf die neuen politischen Konditionen umgemünzt. Deutschlehrbücher stellen den Löwenanteil dar; unter den Fremdsprachen waren die Englischbücher – „ungewöhnlich“ (S. 213)? – stark vertreten, das Französische marginal; unter den sozialkundlichen Fächern nahm Geschichte eine Vorzugsstellung ein. Gelegentlich, etwa bei Fritz Karsens „Geschichte unserer Welt“ (S. 217f.), ist die Begrenzung auf Berlin zu eng, weil die eigentlichen Konflikte in den Besatzungszonen ausgetragen wurden.

Die zwischen „Demütigung und Machtausübung“ (S. 224) oszillierende französische Besatzungs- und Schulbuchpolitik, Gegenstand des 7. Kapitels (S. 223–254), begründet sich historisch. Für Raymond Schmittlein, den Chef der Direction de l’Education Publique (DEP), war es ausgemacht, dass die Umerziehung der Deutschen autoritärer Kontrolle bedürfe. In dem aus Pragmatik und politischer Rücksichtnahme zusammengestoppelten Kunstgebilde der französischen Besatzungszone fehlte eine traditionelle Verlagsstruktur, so dass die Verfasserin zunächst die Entstehung eines zentralen Lehrmittelverlags in Offenburg nachzeichnet (S. 231–234), dann dessen Nutzung für das Besatzungskonzept, „mit undemokratischen Mitteln die […] Jugend zu einer demokratischen Gesinnung“ (S. 234) zu erziehen. Danach werden nach dem Schulalter gestufte Lehrmittel für das aus französischer Sicht zentrale Fach Deutsch vorgestellt, nachdrücklich der Erstleseunterricht – etwa die aus der Schweiz übernommene Basler Fibel – und die Lesebücher für die Oberstufe der Volksschule. Gerade diese Lehrbücher lösten erbitterte Auseinandersetzungen zwischen dem kulturpolitischen Dirigismus der DEP und der traditionalen Elternschaft aus. Diese Spannungen werden für die einzelnen Fächer nachgezeichnet bis hin zu detaillierten Textanalysen, und sie werden ergänzt durch quantitative Angaben zur Lehrbuchproduktion, die dann in den abschließenden „Gesamtbefunden“ (S. 252ff.) allein das Feld beherrschen. Mit großer Sachkenntnis werden absolute Zahlen ermittelt. Aber was bedeutet es, wenn z.B. (S. 244) in den Fremdsprachen Englisch mit 27 Bänden beziffert wird, Französisch mit 44? Solange keine Relationen bekannt sind – etwa Schülerzahlen, Schulformen, Unterrichtskonzepte, Stellenwert des Fachs in der Stundentafel etc. –, sind absolute Zahlen unbestimmbar in der Aussage. Feststellungen wie „Latein und Griechisch mussten sich mit geringeren Quoten abfinden“ (S. 245) dürften kaum Informationswert besitzen, weil der Sachverhalt ohnehin evident ist. Erst dort, wo hohe Veröffentlichungszahlen in den Kontext besatzungspolitischer Interessen eingestellt werden – etwa: „Der Erscheinungsboom 1946 mit 94 Schulbüchern unterstreicht die großen Anstrengungen der DEP“ (S. 253) –, besitzen sie einen Referenzrahmen und damit einen Aussagewert.

Die Verhältnisse in der SBZ waren fundamental unterschieden von denen in den drei Westzonen. Davon hat sich die Verfasserin herausfordern lassen, denn dieses Kapitel übertrifft die anderen Zonenkapitel an Forschungselan und Erkenntnisdichte. Zu Recht urteilt sie, die Schulpolitik sei „planvoll und dezidiert“ (S. 256) gewesen, und beurteilt das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ vom Mai 1946 als nicht nur organisatorische, sondern auch ideologische Wegführung zu dem im Herbst 1948 erreichten Bildungswesen auf marxistisch-kommunistischer Grundlage mit seinem „Wahrheitsmonopol“ (S.259). Die „verstaatlichte Verlagspolitik“ (S. 264) war für die SBZ schlüssig. Die rasch wachsende Dominanz des Verlags „Volk & Wissen“ legte in der SBZ die Landschaft der überkommenen Verlage in Trümmer, für alle Fächer und Schulalter. Die Untersuchung von 752 Lehrbüchern, die die Verfasserin nach Unterrichtsfächern geordnet hat (S. 271–306), zeigt den Reichtum von Aspekten des Materials für inhaltliche Fragestellungen. Jedenfalls wird hier die buchgeschichtliche Isolierung mit Fenstern nach außen versehen.

Die Zusammenfassung unter dem metaphorischen Titel „Schlaglichter auf die Gesamtergebnisse“ (S. 307–317) diskutiert die Befunde nicht unter einem neuen Gesichtspunkt, sondern teilt sie in Arenen von Beobachtung: Handlungsmuster der Siegermächte, Landschaft und Aktionsweisen der Verlage, die Produktion kultur- und sozialkundlicher Lehrbücher und schließlich, noch enger im Fachbezug, Lehrbücher für die Berufsschule. Ob das eine natürliche heuristische Grenze für den von der Verfasserin gewählten Zugriff darstellt, darf wohl unentschieden bleiben.

Die Untersuchung basiert auf drei starken Säulen: auf breiter Quellenarbeit (vgl. S. 679–682), auf minutiösen Schulbuch- und Verlags-Recherchen und auf einem soliden Studium der Forschungsliteratur, das die Handbuch-Ebene hinter sich lässt, wenngleich es nicht in jede Verästelung der Forschung hineinleuchtet (zur SBZ fehlt etwa Demantowsky1). Die Untersuchung schließt eine schwer wiegende Lücke in unserer buchgeschichtlichen Kenntnis; sie eröffnet damit ein sicheres Fundamentum für Untersuchungen, die nunmehr die Wege näher bestimmen können, die die inhaltlichen, methodischen und didaktischen Entwicklungen der deutschen Unterrichtsliteratur zwischen Kriegsende und der Neubegründung deutscher Staatlichkeit genommen haben.

Anmerkung:
1 Marko Demantowsky, Geschichtspropaganda und Aktivistenbewegung in der SBZ und frühen DDR. Eine Fallstudie, Münster 2000.

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