M. Haben: Berliner Wohnungsbau 1933–1945

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Titel
Berliner Wohnungsbau 1933–1945. Mehrfamilienhäuser, Wohnanlagen und Siedlungsvorhaben


Autor(en)
Haben, Michael
Reihe
Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin 39
Erschienen
Anzahl Seiten
981 S.
Preis
€ 119,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Michael Habens Dissertation bietet eine detaillierte Darstellung des Wohnungsbaus der Reichshauptstadt unter der NS-Diktatur. Sie stellt die Neubauprojekte im Einzelnen vor und ist ebenso eine gut lesbare Gesamtdarstellung der reichsdeutschen Wohnungsbaupolitik bis 1945. Unausgesprochen hat sie einen enzyklopädischen Anspruch – und löst diesen überzeugend ein. Die Studie ist freilich keineswegs nur für NS-Fachhistoriker oder Berliner Architektur- und Stadtplanungsbüros nützlich; sie bietet auch „allgemeinen“ NS-Historikern neue Erkenntnisse und wichtige Einsichten und richtet sich zudem an eine interessierte Öffentlichkeit.

Durch das auch im Wortsinne beträchtliche Gewicht des Buches sollte sich niemand abschrecken lassen. Ein umfängliches Register erleichtert die Erschließung. Die einzelnen Abschnitte lassen sich außerdem gut separat lesen. Grundlage der Arbeit ist eine umfangreiche Datenbank, die der Autor in mühevoller Kleinarbeit über Jahre zusammengetragen hat. In ihr sind über 90 Prozent der zwischen 1933 und 1944/45 erstellten etwa 650 Siedlungen und Neubauten erfasst. Insgesamt wurden in Berlin zwischen 1933 und 1945 gut 100.000 Wohnungen geschaffen. Unter den Bauträgern dominierten während der NS-Zeit die bereits bis 1933 etablierten Berliner Wohnungsgesellschaften.

Gegliedert ist Michael Habens Darstellung in fünf große, chronologische Abschnitte. Im ersten thematisiert er die Jahre 1930 bis 1932, die Vorgeschichte des Dritten Reiches. Es gelingt ihm exemplarisch für die Reichshauptstadt deutlich zu machen, welch gravierende Folgen das Spardiktat der Präsidialregime hatte. Dagegen spielten Erwerbslosensiedlungen in Berlin eine geringere Rolle als im übrigen Reich. 1933/34, in der mindestens rhetorisch noch stark von Großstadtfeindschaft geprägten NS-Phase, gewann zwar wie andernorts die Förderung des Baues von primitiven Eigenheimen und Kleinsthäusern unter dem Titel „vorstädtische Kleinsiedlungen“ an Bedeutung. Gleichzeitig aber wurden im Unterschied zu anderen Regionen weiterhin in beträchtlichem Umfang Programme für den Bau von Mietwohnungen in Geschossbauten aufgelegt.

Als dritte Phase markiert Haben die Jahre 1935 und 1936. In diesen Jahren wurde regimeoffiziell der Paradigmenwechsel vom Eigenheim zu mehrgeschossigen Wohnungsgebäuden eingeläutet. Deren Bedeutung unter den Neubauprojekten wuchs auch in der Reichshauptstadt. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Konstellationen in Berlin dennoch, nun auf wieder andere Weise und begrenzt, gegen den allgemeinen Trend entwickelten. Denn gleichzeitig wurden immer mehr größere Eigenheime und „Landhäuser“ gebaut. Ursächlich für diese Entwicklung (das wird bei Haben nur angedeutet) war, dass die Stadt – damals neben dem Ruhrrevier das wichtigste deutsche Industriezentrum – mit ihrem hohen Anteil an rüstungswichtigen elektrotechnischen und metallverarbeitenden Unternehmen boomte und in den „besseren“ Kreisen bis hinunter in die Angestellten- und Facharbeiterschaft die Einkommen stiegen. Die zugezogene NS-Prominenz sowie die Ministerial- und Parteibürokratie, die ebenfalls einen nazistisch überformten bürgerlichen (Wohn-)Habitus kultivierte, tat ihrerseits ein Übriges, den Trend zum besser ausgestatteten Eigenheim oder auch zur innerstädtischen Großwohnung zu verstärken.

Der vierte Abschnitt thematisiert die durch die forcierte Aufrüstung geprägte Bauentwicklung in den Vorkriegsjahren. Auch in Berlin gingen, wie Haben zeigt, die Investitionen in den zivilen Wohnungsbau deshalb deutlich zurück. Gleichzeitig schob sich eine neue Institution in den Vordergrund: Zur entscheidenden Instanz stieg ab Anfang 1937 Speer als Generalinspektor für die Reichshauptstadt auf. Er machte die bis dahin tonangebende Stadtverwaltung zu seinem „ausführenden Organ“. Der Krieg schließlich markiert den fünften und letzten Abschnitt in Habens Monographie. Immerhin wurden zwischen 1940 und 1944 in Berlin noch mehr als 13.000 Wohnungseinheiten neu errichtet.

Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Kontinuitäten im Berliner Wohnungsbau stärker waren als die Brüche. Das Jahr 1930 markiert einen schärferen Einschnitt als 1933. Die Präsidialregierungen sparten, bis es „quietschte“; Wohnungen und Häuschen wurden kleiner und primitiver. Daran änderte sich nach 1933 zunächst wenig. Nun waren es allerdings Autarkiepolitik, die Verknappung an Baumaterialien und (dadurch bedingt) der Rückgriff auf minderwertige einheimische Ersatzstoffe sowie die Priorisierung von Militäranlagen und NS-Renommierbauten, die dazu führten, dass im „einfachen“ Wohnungsbau „die kasernenhaften, einförmigen und nüchternen Fassadenabwicklungen“ dominierten. Sie erinnerten zwar an Neue Sachlichkeit und Neues Bauen Ende der 1920er-Jahre, sie waren gleichzeitig jedoch weit entfernt von der avantgardistischen Ästhetik vieler zwischen 1925 und 1932 in der Reichshauptstadt realisierten Wohnsiedlungen.

Die ideologisch in den Vordergrund geschobenen Postulate von der „Schollenverbundenheit“, „Heimatverbundenheit“ und „Wehrhaftigkeit“ kamen in Berlin optisch nur begrenzt zum Zuge. Zwar wurden konsequente Vertreter einer emanzipatorischen Moderne in Städtebau und Architektur wie namentlich der für Berlin besonders wichtige Bruno Taut außer Landes getrieben. Aber der alte Apparat an Baupolitikern und „freien“ Architekten blieb allen Vertreibungen zum Trotz im Wesentlichen erhalten, folgt man Haben, der auch die herausragenden Akteure porträtiert. Zudem war die NS-Ideologie bekanntlich nicht konsistent, sondern ein um zentrale Ideologeme angesiedeltes Konglomerat, das auch architektonisch durchaus ein „breites Gestaltungsrepertoir“ zuließ.

Dass sich Hitler und auch zum Beispiel der Partei-Ideologe Alfred Rosenberg sowie der Chef-Propagandist und Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels vor 1933 über den angeblichen Moloch Berlin echauffierten, trat nach 1933 in den Hintergrund und wich insbesondere bei Hitler und Goebbels einem dezidiert positiven Bezug auf Berlin. Das hatte einen paradoxen Effekt: Verbal kritisierte man Mietskasernen zwar weiterhin. Praktisch jedoch „näherten sich die neu geschaffenen Wohnbedingungen erstaunlich rasch wieder den [für den Mietwohnungsbau bis 1914 typischen, RH] Verhältnissen an“ (S. 747). Die für den gemeinen „Volksgenossen“ vorgesehenen Wohnungen wurden kleiner und beispielsweise Badewannen zunehmend durch primitive Duschen ersetzt. Wegen des Eisenmangels wurde überdies oft auf Balkone verzichtet, zudem „die Ofenheizung wieder zur Regel“ (S. 747).

Unabhängig davon wurde die vorhandene städtische Bebauung Berlins mit seinen traditionell vielen Grünflächen verdichtet und die Gebäudehöhe bis zu sechs Geschosse heraufgesetzt. Zu betonen ist die faktische Rückkehr zum traditionellen Mietwohnungsbau nicht zuletzt deshalb, weil sich vor diesem Hintergrund die megalomanen Pläne etwa der Deutschen Arbeitsfront für einen generösen sozialen Wohnungsbau für alle deutschen „Volksgenossen“ umso markanter als wesentlich „massenpsychologisch“ motivierte – zudem nur an „erbgesunde“ und politisch konforme „Arier“ adressierte – Rhetorik desavouierte, die über triste und beengte Wohnverhältnisse hinwegtrösten sollte. Der wohnungsbaupolitische „Realismus“ ab 1933 wiederum war Teil eines für die NS-Diktatur generell typischen Pragmatismus, der neben einem allgegenwärtigen Antisemitismus und Rassismus Kriegsvorbereitung und -führung sowie „Blockadefestigkeit“ zur Prämisse hatte.

Der handbuchartige Eindruck, der sich einstellt, wenn der Leser die vorzüglich gestaltete, freilich auch etwas teure Monographie Habens in die Hand nimmt, wird verstärkt durch mehrere umfängliche Anhänge. Dazu gehören eine detaillierte Liste von 628 oder 97 Prozent sämtlicher Wohnungsneubauprojekte nach den Kriterien Ortsteil/Bezirk, Anlage (Adresse), Bauherr, Architekt sowie Bauzeit und Zahl der Wohnungseinheiten. Fotos der knapp hundert größten Wohnungsneubauprojekte illustrieren eindrucksvoll eine zentrale These des Autors: Die architektonische Stilpluralität im Berlin der NS-Zeit war weit größer als gemeinhin angenommen. Dem tabellarischen Anhang lässt sich unter anderem entnehmen, dass die NS-Diktatur wohnungsbaupolitisch auch in der Reichshauptstadt weit hinter den Erfolgen der Weimarer Republik zurückblieb. Die knapp 19.000 fertig gestellten Wohnungen, die 1937 als Spitzenwert der NS-Zeit erreicht wurden, lagen weit unter den fast 44.000 neu geschaffenen Wohnungseinheiten des Jahres 1930.

Verfehlt wäre es, die Monographie Habens auf eine Rolle als Nachschlagewerk zu reduzieren. Sie bietet auch einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Bau- und Wohnungspolitik des Dritten Reiches insgesamt. Obwohl diese in ihren Grundlinien inzwischen recht gut erforscht ist, lassen sich in Habens Studie, der die Forschung sehr gut kennt und gleichzeitig viele bisher unbekannte archivalische Quellen gehoben hat, eine Reihe von Aspekten auch der „großen“ NS-Baupolitik entdecken. Kritisch anzumerken ist lediglich, dass der statistisch auffällige, seit 1933 anhaltend hohe Anteil der „Flachbauten“ bei der Lektüre der Tabellen (S. 804) auffällt, aber nicht ausführlicher interpretiert wird. Das große Gewicht von Flachbauten ab 1933 markiert eine gravierende Differenz zur Weimarer Republik und kann nicht allein auf die primitiven Krisen-Siedlungen sowie den Boom an Eigenheimbauten ab 1936 zurückgeführt werden. Möglicherweise spiegelt sich darin unter anderem die NS-„Volksgemeinschaft“ als „Lagergesellschaft“ im doppelbödigen Sinne des Wortes. Vielleicht ist die eigenartige Dominanz von Flachbauten aber auch eine Frage nach den Trennschärfen der zeitgenössischen Kategorien (zwischen Eigenheim, dauerhaft bewohnter Gartenlaube und „echter“ Baracke).

Michael Haben hat ein, oder besser: das Standardwerk zur Berliner NS-Wohnungsbaugeschichte vorgelegt. Sein Buch ist auch für Historiker interessant, die nicht auf die Reichshauptstadt fokussiert sind. Es wird künftig nicht zuletzt für jede vergleichende Untersuchung auf diesem Feld unverzichtbar sein.

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