Zum 200-Jahr-Jubiläum des botanischen Gartens und zum Gedenken an dessen Gründer, den Botaniker Augustin-Pyramus de Candolle (1778–1841), haben die Stadt Genf und das Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève (CJBG) zwei Ausstellungen organisiert und den hier besprochenen Band „Augustin-Pyramus de Candolle. Une passion, un Jardin“ herausgegeben.
Der Sammelband stellt nach der Einführung des Konservators der Bibliothek des CJBG, Martin W. Callmander, in seinem ersten (und längeren) Teil Candolles Leben und seine botanischen Forschungen (Patrick Bungener) vor. Im zweiten Teil steht die Entwicklung des botanischen Gartens bis 1849 im Fokus (Pierre Mattille).
Das erste Kapitel des ersten Teils konzentriert sich auf Candolles Biografie. Patrick Bungeners Ausführungen stützen sich auf Candolles unveröffentlichte Korrespondenz1 und auf seine Autobiografie, „Mémoires et souvenirs“ (1862).2 Der Leser/die Leserin kann Candolle auf seinen unterschiedlichen Lebensstationen folgen: zuerst als Student an der Genfer Akademie, dann in Paris, wo er Medizin studieren wollte. In der französischen Metropole lernte er viele bedeutende Naturforscher seiner Zeit kennen (z. B. Déodat de Dolomieu, Jean-Baptiste de Lamarck und Georges Cuvier). Hier erlebte er auch seine ersten Erfolge als Botaniker und Naturforscher: Er wurde zum Stellvertreter von Cuvier an das Collège de France berufen, bekam von Lamarck den Auftrag, seine Flore française zu überarbeiten, und 1806 wurde er sogar vom französischen Innenminister beauftragt, im ganzen Land die Botanik in ihrem Zusammenhang mit der Geografie und der Landwirtschaft zu erforschen. Zwei Jahre später wurde Candolle zum Professor für Botanik an der Universität in Montpellier ernannt, wo er den botanischen Garten neugestalten konnte. Sein Aufenthalt in Südfrankreich dauerte aber nicht lange: Nach der Niederlage Napoleons in Waterloo und der Rückkehr von Ludwig XVIII. an die Macht entschied sich der Genfer, in die Heimat zurückzukehren, wo er vom 1816 bis 1834 die Professur für Naturgeschichte an der Akademie innehatte. Ein Jahr nach seiner Rückkehr initiierte er den botanischen Garten am Parc des Bastions.
Die drei folgenden Kapitel widmet Bungener Candolles Forschung und seinen Werken. Im zweiten Kapitel steht die Rolle des Genfer Naturforschers in der Debatte über die botanische Taxonomie im Zentrum der Analyse, die mit der Veröffentlichung von Linnés „Systema naturae“ (1735) einen Wendepunkt erreicht hatte. Candolle, der in der Geschichte der Botanik als ein Pionier der Pflanzensystematik gilt, war ein Vertreter einer „natürlichen“ Pflanzentaxonomie, die sich auf die Analyse der Morphologie, der Physiologie und der Anatomie der Pflanzen stützte, wie seine „Théorie élémentaire de la botanique“ (1813, 1819, 1844) beweist. Im Unterschied zur (später formulierten) Evolutionstheorie von Charles Darwin war der Genfer Naturforscher von der Unveränderlichkeit der Spezies überzeugt. Wie Cuvier interpretierte er die Natur als Ganzes nicht als ununterbrochene Verkettung aller Lebewesen. Candolles botanische und zoologische Taxonomie stützte sich auf den von ihm postulierten Begriff des „Urtyps“ („type primitif“, S. 91).
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht das Herbarium, das ca. 400,000 Pflanzenarten enthält, sowie Candolles enzyklopädisches Werk „Prodromus systematis naturalis regni vegetabilis“ (1824–1873), das eng mit der Entstehung des Herbariums verbunden ist. Die ersten sieben Bände des Prodromus verfasste er selber; nach seinem Tod wurde das Werk von seinem Sohn Alphonse und seinem Enkel Casimir fortgesetzt. Gerade sein weitreichendes Interesse für die Erforschung der Pflanzentaxonomie brachte ihn dazu, den Zusammenhang zwischen Pflanzen und Geografie zu erkennen, so dass er zu Recht zusammen mit Alexander von Humboldt als Begründer der Biogeografie angesehen wird. Sein „Essai élémentaire de géographie botanique“ (1820) liefert einen Beweis seiner Erkenntnisse in diesem Forschungsfeld.
Das letzte Kapitel des ersten Teils stellt einen weniger bekannten Aspekt von Candolles Tätigkeit vor, nämlich seine Arbeiten im Bereich der Pflanzenphysiologie, ein Thema, das ihn sein ganzes Leben lang begleitete. Der Tradition des Genfer Empirismus von Jean Senebier, Charles Bonnet und Abraham Trembley folgend führte Candolle verschiedene Experimente durch, die ihm halfen, den Einfluss des Lichtes auf die Pflanzen zu klären (um nur ein Beispiel zu erwähnen). Candolles Interpretation zufolge war die Existenz von Lebewesen durch eine „force vitale“ möglich, die teilweise mechanisch durch physisch-chemische Gesetze entsteht und die sich in den Pflanzen in Form einer „irritabilité végétale“ ausdrückt. Der Genfer Botaniker war auch der Überzeugung, dass die Pflanzenphysiologie zur Verbesserung der Landwirtschaft beitragen könnte.
Im zweiten Teil des Bandes analysiert Pierre Mattille die Gründung (1817) und die Entwicklung des botanischen Gartens bis 1849, als die Revolution der Radikalen von James Fazy (1846) die Stadt stark veränderte. Im ersten und zweiten Kapitel stellt Mattille die ersten Akteure der botanischen Forschung in Genf, die älteren (und kleinen) botanischen Gärten von St-Aspre und St-Léger und die Entwicklung der Stadt bis 1816 vor, als am Parc des Bastions ausreichend Platz vorhanden war, um endlich einen „richtigen“ botanischen Garten einrichten zu können. Der Garten wurde mit einer Orangerie und einigen Gewächshäusern versehen, und – seit 1824 – auch mit einem Konservatorium (Conservatoire), das Herbarien von Privatpersonen und eine Sammlung von landwirtschaftlichen Geräten beherbergte.
Der botanische Garten war gleichzeitig auch als Botanikschule gedacht. Für Cadolle war er ein „offenes Buch“, das die Ausbildung der Studierenden im Bereich der Naturkunde ergänzen sollte: Im Garten waren die Pflanzen nach Candolles Taxonomie angepflanzt, wie sie auch in seinem Prodromus zu finden waren. In seiner Darstellung hebt Mattille auch charismatische Aspekte von Candolles Charakter hervor, die zum Beispiel bei der Entstehung der „Flore des Dames“ (1817) in Erscheinung traten. Eine Zeitlang bewahrte der Genfer Botaniker die Manuskripte seines Kollegen José Mariano Mociño über die mexikanische Flora bei sich zu Hause: Seine Leidenschaft für die Botanik war offenbar so ansteckend, dass sich viele Damen der Genfer Eliten zur Verfügung stellten und eine Kopie von Mociños Handschriften anfertigten, die als die „Flore des Dames de Genève“ in die Geschichte der Botanik eingegangen ist.
Abschliessend lässt sich festhalten, dass man das Buch mit Gewinn liest, weil Bungener und Mattille ihre Darstellung von Candolles Persönlichkeit in einem breiten historischen Kontext einbetten. Sehr ansprechend ist auch die Gestaltung des Bandes: Viele Illustrationen zeigen Candolles Bücher und Herbarien sowie Porträts von Candolle und von einigen Familienmitgliedern. Man findet auch viele Abbildungen von Freunden und Freundinnen sowie von Naturforschern und (einigen) Naturforscherinnen, die sich mit Candolle austauschten. Einige historische Pläne der Stadt Genf und des botanischen Gartens erlauben dem Leser/der Leserin, den Garten in der Stadt zu verorten und den Umfang des Unterfangens besser zu verstehen. Sehr bereichernd sind auch die vielen Zitate aus Candolles Werken und Briefen, so dass man den Naturforscher in seinem Alltag und in seinen Forschungen verfolgen kann. Zugleich erschweren die vielen Zitate manchmal etwas die Lektüre, aber das mindert auf keinen Fall das Verdienst des Bandes, der nicht nur für Historikerinnen und Historiker, sondern auch für ein breiteres, kulturinteressiertes Publikum interessant ist.
Anmerkungen:
1 Es handelt sich um 5600 Briefe mit 1251 Korrespondenten und Korrespondentinnen, die von der Familie Candolle und dem Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève aufbewahrt werden. Ein laufendes Projekt will die Briefe inventarisieren und der Forschung zur Verfügung stellen: http://www.ville-ge.ch/cjb/activites_projets_domaines_candolle.php (12.01.2018).
2 2004 wurde eine zweite Auflage der Autobiografie veröffentlicht: Augustin-Pyramus de Candolle, Mémoires et souvenirs (1748–1841), 2. Aufl., hg. von Jean-Daniel Candaux et Jean-Marc Drouin avec le concours de Patrick Bungener et René Sigrist, Genève 2004 (1. Aufl. 1862).