Cover
Titel
Frühes Historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung


Herausgeber
Fenn, Monika
Reihe
Geschichtsunterricht erforschen 7
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 23,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz

Empirische Unterrichtsforschung im Fach Geschichte hat noch keine allzu lange Tradition. Zwar widmete sich die Geschichtsdidaktik schon in den 1950er-Jahren Fragen nach dem historischen Verständnis von Schülerinnen und Schülern verschiedener Altersgruppen. Aber erst im Zuge einer intensivierten Begriffsdiskussion 30 Jahre später entwickelte sich dann das Geschichtsbewusstsein zum Gegenstand empirischer Betrachtung.1 In weiterer Folge verschiebt sich der Fokus seit einigen Jahren auf die Wissens- und Kompetenzforschung. Dennoch ist der Bedarf an empirischer Lehr- und Lernforschung immer noch groß. Dementsprechend konstatiert Markus Bernhardt: „Die Erforschung der Probleme des gegenwärtigen Geschichtsunterrichts bedürfen weniger einer theoretischen Explikation des historischen Lernbegriffs, sondern vielmehr einer Untersuchung und kritischen Analyse dessen, was im täglichen Geschichtsunterricht tatsächlich geschieht [...]“2. In diesem Zusammenhang fordert er insbesondere, den Blick auf die Akteure des Geschichtsunterrichts zu richten.

Vor diesem Hintergrund nahmen Forschungen zum historischen Lernen in der Primarstufe bislang nur einen untergeordneten Stellenwert ein. Dementsprechend stellte sich der Arbeitskreis „Frühes historisches Lernen“ der Konferenz für Geschichtsdidaktik im Februar 2015 in Potsdam die Frage, ob empirische Lehr- und Lernforschung zum historischen Lernen in der Primarstufe (und der frühkindlichen Bildung) ein „Stiefkind der Geschichtsdidaktik“ sei.3 Die thematische Breite der Beiträge in dem kürzlich erschienenen Tagungsband „Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung“ führt eine solche Annahme allerdings ad absurdum.

Dabei räumt Monika Fenn in der Einleitung ein, dass das durch die 13 Beiträge aufgezeigte Spektrum überschaubar und breit zugleich sei. Dem ist die fehlende Bündelung der Beiträge in Hauptkapitel geschuldet, wodurch keine Schwerpunktsetzung erkennbar ist und der Leserin / dem Leser die Orientierung erschwert wird. Dessen ist sich auch die Herausgeberin bewusst. Eine Begründung, warum zur Strukturierung zwar knapp auf die Einteilung in fünf Forschungsrichtungen nach Gautschi4 verwiesen, diese dann aber nicht durchgehend angewendet wird, fehlt jedoch. Stattdessen reiht Monika Fenn die Aufsätze, die von aktuellen Forschungsergebnissen (zum Beispiel Christian Mathis / Ludwig Duncker und Beate Sodian) bis zu konzeptuellen Beiträgen (zum Beispiel Franziska Streicher / Monika Fenn und Waltraud Schreiber / Benjamin Bräuer) reichen, nach den Bereichen: Phänomenforschung, historisches Denken und Metakonzepte, Heterogenität beim historischen Lernen und administrative Vorgaben.

Eingangs umreißt Bodo von Borries in seinem kritischen Beitrag die künftigen Aufgaben empirischer Forschung zum frühen historischen Lernen. Erste Ansätze zu den von ihm genannten Perspektiven werden in der Folge dargestellt, wovon nur einige hervorgehoben werden können. So widmen sich die Untersuchungen von Stefanie Zabold und Andrea Becher / Eva Gläser den Lernvoraussetzungen von Grundschulkindern, bevor dem historischen Lernen als Teil des Sachunterrichts ab der dritten Schulstufe eine besondere Bedeutung zukommt. Interessant ist dabei nicht nur der Einblick in die meist außerschulisch geprägten Vorstellungen zu historischen Themen, unter denen der Nationalsozialismus auffällig präsent ist (S. 61). Genauso aufschlussreich ist die Erkenntnis, dass sich die Kinder auf geschichtliche Quellen beziehen und deren Funktion erkennen, auch wenn dabei Sachquellen dominieren. Anhand von Einzelinterviews mit Kindergarten- und Grundschulkindern kommen Andrea Becher und Eva Gläser sogar zu dem Schluss, dass diese bereits „ein erstes Verständnis über die wissenschaftliche Vorgehensweise der Re-Konstruktion“ hätten (S. 84). Vor diesem Hintergrund fordern die Autorinnen berechtigterweise eine andere Lehr- und Lernkultur, die Schülerinnen und Schüler in den ersten beiden Schulstufen nicht durch eine Beschäftigung mit dem Zeitbewusstsein unterfordere (S. 85).

Damit wird die Diskrepanz zwischen den Erkenntnissen aus der empirischen Forschung und der Unterrichtspraxis offensichtlich. Dieses Missverhältnis unterstreicht auch eine Studie der österreichischen Geschichtsdidaktikerin Sabine Hofmann-Reiter. Sie hat das Zeitverständnis von Schülerinnen und Schülern der 5. Schulstufe untersucht und mit Konzepten in Schulbüchern für das Fach Geschichte und Sozialkunde / Politische Bildung der 6. Schulstufe verglichen. Ihr Befund zeigt einerseits, dass die Kinder sehr heterogene Zeitkonzepte in den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe 1 mitbringen und die Schulbücher andererseits deutlich davon abweichen und die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler nicht berücksichtigen. Daraus leitet sie ähnlich wie Andrea Becher und Eva Gläser die nachvollziehbare Kritik ab, dass die Trennung der Inhalte im Sachunterrichtslehrplan für die Grundschule in die Förderung des allgemeinen Zeitbewusstseins in den ersten beiden Schuljahren und die Anbahnung von Geschichtsbewusstsein in den letzten beiden Grundschuljahren didaktisch nicht sinnvoll sei (S. 126).

Gewinnbringend ist die Lektüre des Tagungsbandes zudem hinsichtlich der methodischen Diskussion der Unterrichtsforschung im Fach Geschichte. Die Bandbreite der in den Forschungsprojekten eingesetzten Untersuchungsdesigns reicht von teilstandardisierten Einzelinterviews über videographierte Unterrichtsstunden bis zu diskussionsorientierten Gruppenverfahren. Wie wichtig nicht-sprachliche Erhebungsanteile für die Primarstufe sind, diskutiert Markus Kübler (S. 41–52). Dazu setzt er sich auf der Grundlage eigener Erfahrungen mit Erhebungen, in denen Zeichnungen und (Struktur-)Legeaufgaben eingesetzt werden, kritisch auseinander. Erkennbar ist des Weiteren die wachsende Bedeutung von Wirkungs- und Interventionsforschung (dazu die Beiträge von Franziska Streicher / Monika Fenn, Eva Engeli / Andreas Imhof / Markus Kübler / Manfred Gross und Waltraud Schreiber / Benjamin Bräuer). Gleichzeitig fällt auf, dass explorative Untersuchungen dominieren.

Damit erfasst der Tagungsband insgesamt die wachsende Zahl empirischer Arbeiten zur Erforschung des frühen historischen Denkens und Lernens und wird der von Monika Fenn erhofften Signalwirkung gerecht. Die Vielzahl von Einzeluntersuchungen mit explorativem Charakter ist dabei auch dem noch jungen Forschungsfeld geschuldet. Somit wird in allen Beiträgen darauf verwiesen, dass sich die empirische Lehr- und Lernforschung zum frühen historischen Lernen immer noch am Anfang befinde. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes eine systematische gegenseitige Bezugnahme zu fordern, wäre wohl noch verfrüht. Vielversprechende „Forschungsvorhaben mit einer angemessenen Stichprobe“ stehen nicht nur vor hohen finanziellen Hürden, wie Markus Kübler anmerkt (S. 50f.), sondern nehmen auch viel Zeit in Anspruch. Andererseits liegt der von ihm angesprochene Bedarf an gemeinsam generierten Forschungsprojekten und Drittmitteln auf der Hand (S. 51).

Anmerkungen:
1 Helmut Beilner, Empirische Erkundungen zum Geschichtsbewusstsein am Ende der Grundschule, in: Waltraut Schreiber (Hrsg.), Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, Bd. 1, Neuried 2004, S. 153.
2 Markus Bernhardt, Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse, in: Michael Sauer u.a. (Hrsg.), Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, Göttingen 2014, S. 349–363, hier S. 361.
3 Vgl. den Tagungsbericht von Petra Beetz zu: „Stiefkind der Geschichtsdidaktik?“ Empirischer Forschungsstand zum frühen historischen Lernen und neue Perspektiven, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6130 (25.06.2018).
4 Gautschi unterscheidet fünf Forschungsrichtungen zum Geschichtsunterricht: Phänomenforschung, Ergebnisforschung, Wirkungsforschung, Interventionsforschung und Forschung zu historischem Denken und Lernen. Vgl. Peter Gautschi, Geschichtsunterricht erforschen – eine aktuelle Notwendigkeit, in: Peter Gautschi u.a. (Hrsg.), Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte, Bern 2007, S. 21–59, hier S. 31ff.

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