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Titel
Sultansbriefe. Textfassungen, Überlieferung und Einordnung


Autor(en)
Döring, Karoline Dominika
Reihe
Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte 62
Erschienen
Wiesbaden 2017: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XXXIII, 138 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Woelki, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Fiktive Briefe eines orientalischen Sultans an den Papst, den Kaiser oder andere westliche Fürsten waren zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert eine beliebte und weit verbreitete Textsorte. Derartige simulierte Schreiben entstanden bereits kurz nach dem Ende der hochmittelalterlichen Kreuzzüge ins Heilige Land und wurden bis ins Reformationszeitalter immer wieder neu gefasst und aktualisiert. Absender und Adressaten wurden ausgetauscht und die Inhalte besonders nach 1453 an die osmanische Bedrohungssituation angepasst. Das Ergebnis ist eine inhaltlich und auch räumlich extrem weit gefächerte Überlieferung. Praktisch alle großen europäischen Handschriftensammlungen besitzen Miszellancodices, die einen oder mehrere Vertreter dieser sehr schwer zu überblickenden Textsorte enthalten. Die systematische Zusammenstellung der komplizierten Überlieferung in Handschriften und frühen Drucken sowie die systematische Ordnung der Textfassungen und deren Einordnung in verschiedene Rezeptionsfelder ist das große Verdienst der nun vorliegenden Studie von Karoline Döring.

Die erstmals konzentriert aufgearbeitete Überlieferung ergab eine grobe Klassifizierung in zwei lateinische und vier deutsche Basistexte, deren ca. 150 Überlieferungszeugen in kurzen Handschriftenbeschreibungen aufgeführt werden (S. 5–89). Hinzu kommen noch sieben Einzeltexte, die keiner der sechs Standardformen zugeordnet werden konnten und am Schluss der Studie separat gelistet werden (S. 122–126). Im Einzelnen handelt es sich bei den lateinischen Sultansbriefen um eine „Epistula Soldani“ sowie eine „Epistula Morbosani“. Beide entstanden bereits im 14. Jahrhundert und forderten im Wesentlichen zur Aufgabe der Kreuzzugspläne auf. Die „Epistula Morbosani“ relativierte darüber hinaus die religiösen Unterschiede zwischen Christentum und Islam und warb für eine friedliche Verständigung. Mit 56 bzw. 64 noch erhaltenen Überlieferungszeugen war ihre Verbreitung für die Verhältnisse des Handschriftenzeitalters enorm. Deutlich reduzierter war die Verbreitung der vier deutschen Texte. Einer dieser deutschen Sultansbriefe stellte im Wesentlichen eine Übersetzung der „Epistula Morbosani“ dar. Die anderen drei bieten interessante Adaptionen des „Türkenthemas“ an die ritterlich-höfische Lebenswelt, nämlich ein Angebot an den Kaiser zur Ehe mit einer Sultanstochter, einen fingierten Fehdebrief und ein Einladungsschreiben zu einem Turnier in Babylon.

Die Zusammenstellung der Handschriften berücksichtigt insbesondere die Kontexte der Überlieferung und öffnet so neue Wege zur Interpretation der Textfunktionen und zur Reflexion über die Modi ihrer Rezeption. Überlieferungsgeschichte ist Wirkungsgeschichte. Textkompositionen von Miszellancodices deuten auf Gebrauchsräume der tradierten Inhalte hin.1 Ein mögliches Gattungsbewusstsein wird durch die Überlieferungskontexte greifbar, weil sie zeigen, welchen Textsorten die Zeitgenossenen einen gemeinsamen epistemologischen Status zuwiesen. Der Überlieferungsbefund für die Sultansbriefe ist nicht eindeutig, lässt jedoch Verdichtungen erkennen. Sultansbriefe finden sich besonders häufig im Umfeld von „Turcica“, das heißt echten Briefen, Reden, Berichten über „Türkengefahr“ und „Türkengräuel“, päpstlichen Bullen, Reichstagsmaterial usw. Daneben finden sie sich häufig in Musterbriefsammlungen und Kanzleihandbüchern sowie im Zusammenhang mit polemischer Literatur gegen Häretiker (Hussiten) und Juden.

Die vorgefundenen Überlieferungsmuster deuten mithin auf verschiedene Funktionen dieser Texte hin. Neben pragmatischer Anwendbarkeit für Briefstillehre und rhetorischer Kanzleiausbildung erweisen sich die Sultansbriefe als wichtiges Element der literarischen Bewältigung der „Türkengefahr“ im 15. Jahrhundert und gliedern sich allgemeiner in politische Diskurse über Kirchen- und Reichsreform ein. Ihr besonderer, freilich nicht exklusiver Wert bestand darin, Sagbarkeitsräume des politischen Diskurses zu öffnen, in denen auch grenzwertige Aussagen möglich wurden, die sonst als unangemessen oder gefährlich galten. Die Außenseiter-Figur des Türken wird zum Katalysator für Forderungen nach moralischer und sittlicher Erneuerung der westlichen Gesellschaft. Die Sultansbriefe ähneln in dieser Hinsicht anderen literarischen Genres, die den Glaubensfeind auftreten lassen, etwa die noch breiter überlieferten Teufelsbriefe oder verschiedene Fastnachtsspiele.

Die sehr hilfreiche und nützliche Studie bereitet das Feld für eine umfassendere Analyse und Edition der Texte, die freilich wegen der Disparität der Überlieferung einen erheblichen Aufwand mit sich bringen wird. Dass ein solches Unternehmen sich allemal lohnt, hat Karoline Döring gezeigt.

Anmerkung:
1 Methodisch wegweisend zu dieser Forschungsrichtung ist jetzt der Sammelband Collecting, Organizing and Transmitting Knowledge. Miscellanies in Late Medieval Europe, ed. by Sabrina Corbellini, Giovanna Murano, Giacomo Signore (Bibliologia 49), Turnhout 2018.