A. Ludwig (Hrsg.): Zeitgeschichte der Dinge

Cover
Titel
Zeitgeschichte der Dinge. Spurensuchen in der materiellen Kultur


Herausgeber
Ludwig, Andreas
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn-Michael Goll, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Ein Metallbaukasten aus Sonneberg, ein Wandbild am Vereinshaus „Kosmonaut“ in Schwedt an der Oder, eine elektrische Kaffeemühle namens „Ulla“ des VEB Funkwerk Köpenick – diese und viele weitere Alltagsgegenstände stehen im Zentrum des von Andreas Ludwig herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel Zeitgeschichte der Dinge. Der Band lädt, wie der Untertitel verrät, zu einer Spurensuche in der materiellen Kultur der DDR ein. Das Buch geht auf ein Forschungsprojekt zurück, bei dem der Sammlungsbestand des Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR die Analysegrundlage bildete. Untersucht wurde insbesondere, inwiefern die dort vorgehaltenen Objekte als zeitgeschichtliche Quellen nutzbar gemacht werden können und „welche geschichtswissenschaftlichen Analysemöglichkeiten für die Einbettung der Museumssammlung in die zeitgeschichtliche Forschung bestehen“. Die Debatte um einen „material turn“ in den Kulturwissenschaften wird in dem Band somit auf die zeitgeschichtliche Forschung übertragen. Den Leser:innen werden in drei Teilen eine Vielzahl kompakt gehaltener Aufsätze präsentiert, die sich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven mit der Alltagskultur der DDR und ihrer Bedeutungsvielfalt als „Dingausstattungen von Gesellschaft“ beschäftigen.

Der erste Teil der Untersuchung wendet sich ganz grundlegend der materiellen Seite der Geschichte zu. Welchen Beitrag kann die materielle Kultur für die Zeitgeschichte leisten? Was erwarten und versprechen sich die unterschiedlichen historischen (Sub-)Disziplinen von der Analyse materieller Hinterlassenschaften? Antworten auf diese Fragen wurden zunächst im Rahmen einer Tagung mit dem Titel „Dinge in der Zeitgeschichte“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam diskutiert, die im ersten Teil des Buches festgehaltenen Beiträge können als Substrat der vorangegangenen Diskussionen umschrieben werden. Für den Lesenden wirken die unterschiedlichen sozialen Arrangements, die dabei in den Blick genommen und thematisiert werden, mitunter etwas verwirrend und ohne Zusammenhang. So richtet sich der Blick zunächst zurück auf die konkrete Bedeutung der materiellen Kultur in der Sowjetunion und in der DDR, bevor mehrere allgemeine Abhandlungen über die Materialität, Ästhetik und den Gebrauch von Dingen daran anschließen. Die Bandbreite der in diesem Zusammenhang untersuchten Gegenstände ist dabei enorm vielfältig und reicht von der Analyse eines einzelnen Objekts bis hin zur Betrachtung der größten Plattenbausiedlung der DDR, Berlin-Marzahn. Zum Abschluss des ersten Teils rückt die soziale Dimension von Dingen in den Mittelpunkt der Betrachtungen. So wird anhand konkreter Beispiele verdeutlicht, welchen Erkenntnisgewinn persönliche, lebensgeschichtlich bedeutsame Objekte, etwa autobiographische Texte oder Fotoalben, bei der Rekonstruktion von gesellschaftlichen und historischen Kontexten versprechen.

Der zweite Teil des Sammelbands bündelt einzelne Essays, deren Autoren sich ganz unmittelbar auf „Spurensuche am Objekt“ begeben haben. Dieser Perspektivwechsel – weg von oftmals stark abstrahierenden Analysen hin zu konkreten, mitunter detektivisch angelegten Erkundungen – tut dem Sammelband gut und wirkt auf den Lesenden sehr belebend. Die Betrachtungen auf dieser „Mikroebene“ fördern viele interessante Details und neue Spuren zu Tage, die einen authentischen Einblick in die Alltagsgeschichte der DDR versprechen – so wird etwa ausgehend von einer kleinen Spielzeug-Registrierkasse der Marke „Piko“ die Geschichte des Konsums in der DDR aufgezeigt und zugleich verdeutlicht, dass die DDR trotz ihrer antikapitalistischen Propaganda ein auf monetäre Werte rekurrierendes Wirtschaftssystem hatte und dieses bis in die Spielzeugwelten hinein transportierte. Nicht nur bei diesem Beispiel, sondern an vielen Stellen des zweiten Teils führt die akribische Spurensuche zu der wichtigen Erkenntnis, dass bei der Analyse die Mehr- oder auch Vieldeutigkeit von Dingen, deren Polyvalenz, zu keiner Zeit aufgelöst werden kann, sondern stets mitbedacht werden muss.

Der Forschungsansatz, ausgehend von einzelnen Objekten eine umfassende (Kultur-)Geschichte zu schreiben, hat spätestens seit Neil MacGregors Geschichte der Welt in 100 Objekten1 weitreichende Bekanntheit erfahren. Anders als bei ihm ist über die hier untersuchten Alltagsgegenstände, intuitiv ausgewählt aus hunderttausenden Objekten und allesamt Hinterlassenschaften einer Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert, oft weit weniger bekannt. Im Gegensatz zu den „Ikonen“ müssen sie zunächst erschlossen, gedeutet, dechiffriert und kontextualisiert werden. Dass sowohl mehr oder minder „gewöhnliche“ Konsumgüter wie ein Plüsch-Maskottchen oder eine Dia-Umfüllkassette der Marke ORWO als auch vermeintliche Raritäten und heute exotisch anmutende Dinge wie ein „Postmietbehälter“, ein „Querstromlüfter“ oder eine bunt verzierte hölzerne Zigarettenschachtel zum „Sprechen“ gebracht werden können, ist eine Erkenntnis, die zum Nachahmen animiert und nach dem Lesen der Lektüre bleibt.

Der dritte, abschließende Abschnitt, ist mit „Alltagssammlungen“ überschrieben. Hier wendet sich der Blick der Autoren wieder vom Einzelobjekt ab und richtet sich auf unterschiedliche Konvolute aus, die im Zusammenhang mit der DDR-Alltagsgeschichte stehen. Oft handelt es sich dabei um alt Bekanntes, um Hinterlassenschaften einer Massenproduktion, die zunächst eher banal als besonders erscheinen. In einzelnen Aufsätzen werden solche Objektgruppen, betitelt als „Kaffeesachen“, „Familiendinge“ oder „Massenbedarfsgüter“, thematisch verdichtet, anschließend werden Überlieferungszusammenhänge rekonstruiert, um so die „Qualität“ dieser Alltagssammlungen bestimmen zu können. Analog zu den Einzelobjekten, die im zweiten Teil vorgestellt wurden, gelingt es den Autoren des Sammelbandes auch in diesem Fall, scheinbar belanglose, zusammengetragene Alltagsdinge zeithistorisch bedeutsam erscheinen zu lassen – vorausgesetzt sie wurden zuvor fachkundig analysiert und in ihre jeweiligen Entstehungskontexte eingeordnet.

Hinweise und zum Teil auch konkrete Antworten darauf, wie materielle Objekte als Quellen aufgeschlossen werden können und inwiefern Museen als „materielle Archive“ für Zeithistoriker:innen von Nutzen sind, umreißen das Feld, auf dem sich die vorliegende Untersuchung bewegt.

Am Ende kann festgehalten werden, dass die Erforschung der materiellen Kultur insbesondere in der Disziplin Zeitgeschichte noch am Beginn steht. Der vorliegende Sammelband liefert viele Beispiele dafür, wie eine „erfolgreiche“ Beschäftigung mit Dingen der Zeitgeschichte aussehen kann. Dem Lesenden wird dabei aber auch vor Augen geführt, dass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dingen und ihrer Geschichte eine Weitung des Blicks notwendig ist. Mit den etablierten, wohlbekannten Methoden der historischen Wissenschaft allein kann sie nicht gelingen. Wie der Band verdeutlicht, erfordert die Erforschung der materiellen Kultur eine dezidiert interdisziplinäre Herangehensweise. „Zahlreiche Anregungen bieten die Material Culture Studies mit ihrem multidisziplinären Format, ebenso wie die Empirischen Kulturwissenschaften, die Soziologie, die Kunst- und Mediengeschichte, die Sozial- und Kulturanthropologie, die Technikgeschichte sowie vielfältige museale Annäherungen, die aus einer reflexiven Praxis entwickelt wurden.“2 Mitunter kann die Bandbreite der Zugriffe und Methoden, die der Sammelband vereint, erdrückend und auch desorientierend wirken. Wer allerdings bereit ist, sich den hier präsentierten Ansätzen zu öffnen, dem präsentiert sich die facettenreiche Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der DDR auf eine erfrischend andere Art und Weise.

Anmerkungen:
1 Neil MacGregor, Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München 2011 (engl. 2010).
2 Andreas Ludwig, Materielle Kultur, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 01.10.2020, https://docupedia.de/zg/Ludwig_materielle_kultur_v2_de_2020 (21.10.2021).

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