M. Irlinger: Die Versorgung der "Hauptstadt der Bewegung"

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Titel
Die Versorgung der "Hauptstadt der Bewegung". Infrastrukturen und Stadtgesellschaft im nationalsozialistischen München


Autor(en)
Irlinger, Mathias
Reihe
München im Nationalsozialismus 5
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Bernhardt, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner

Die Rolle der Kommunen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem hat in jüngerer Zeit verstärkt das Interesse der Forschung erfahren. Forscher/innen wie Wolf Gruner, Bernhard Gotto, Winfried Süß und Malte Thießen, Thomas Schaarschmidt und andere machten sichtbar, dass lokale Akteure deutlich aktiver und eigenständiger zu den Verfolgungsmaßnahmen des Regimes beitrugen1, als es das ältere Bild von den Städten als im zentralistischen NS-System entmachteten Hochburgen von Demokratie und Selbstverwaltung suggerierte.2 Das hier zu besprechende Buch basiert auf der Dissertation des Autors in einem der wichtigen neueren Forschungsprojekte in diesem Themenfeld, das sich unter Leitung von Margit Szöllösi-Janze und Hans Günter Hockerts dem Handeln der Münchener Kommunalverwaltung im Nationalsozialismus widmete.3

Die Arbeit behandelt mit dem Zusammenhang von Infrastruktur und Herrschaft ein zuletzt für verschiedene historische Epochen viel diskutiertes Thema4, das jedoch bisher eher selten für den Nationalsozialismus und dessen Kommunalpolitik untersucht wurde. Sie nimmt grundlegende theoriebezogene Fragestellungen in Auseinandersetzung mit Ansätzen so unterschiedlicher Forscher wie Thomas Hughes, Ernst Forsthoff, Dirk van Laak sowie der älteren und neueren NS-Kommunalforschung auf und verfolgt sie mittels der Auswertung umfangreicher Aktenbestände zum Beispiel auf den Feldern der kommunalen Verkehrspolitik und Energieversorgung. Neben eher traditionellen Analysen zu den Verwaltungsstrukturen und den Finanzen in der Münchener Kommunalpolitik während des Nationalsozialismus stehen Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen Fragen, wie etwa der Rolle und den Wirkmechanismen der NS-Propaganda, der legitimationsstiftenden Rolle kommunaler infrastruktureller Dienstleistungen sowie zum eigensinnigen Verhalten von Einwohnern und Kommunalpolitikern.

Dabei kommen in den verschiedenen betrachteten Feldern interessante Befunde in den Blick, wie die Diktatur stabilisierende Effekte der kommunalen Daseinsvorsorge („Bindekräfte“, nach R. Löwenthal), die Förderung der „autogerechten Stadt“ durch die NS-Kommunalpolitik oder das widersprüchliche, durchaus flexible Agieren der politischen Spitze der Stadtverwaltung und deren Handlungsspielräume. Auch die Ein- und Ausschlussmechanismen im Zugang zu infrastrukturellen Dienstleistungen wie zum Beispiel dem öffentlichen Nahverkehr oder kommunalen Bädern im Zeichen der „Volksgemeinschafts“-Politik werden detailliert nachgezeichnet.

Die Arbeit ist in vier Hauptkapitel gegliedert, von denen das erste die Strukturen, zentralen Akteure und Ziele des Verwaltungshandelns analysiert. Das zweite Kapitel widmet sich der Baupolitik, unter anderem am Beispiel des „kommunalen Großprojektes“ Nordbad sowie des Verkehrs, das dritte der Instrumentalisierung städtischer Infrastrukturen für die Politik der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft mit ihren Ein- und Ausschluss-Strategien, die der Autor unter anderem an dem Eingehen auf Beschwerden aus der Bevölkerung sowie antisemitisch motivierten Einschränkungen des Zugangs jüdischer Bürger zu städtischen Dienstleistungen zeigt. Das vierte Kapitel schließlich analysiert die Entwicklungen in der Kriegszeit mit der Mobilisierung von Ressourcen für die Rüstung, Versorgungsengpässen und dem Einsatz von Zwangsarbeitern zur Unterhaltung der städtischen Infrastrukturen.

In ihrem grundlegenden Forschungsansatz stützt sich die Arbeit stark auf das schon ältere Konzept von Thomas Hughes, der „Large Technical Systems“ von Infrastrukturen als Rückgrat moderner Gesellschaften identifizierte und unter anderem das technische und institutionelle „system building“ durch Gründerfiguren, die „system builder“, als einen wesentlichen Mechanismus in der historischen Genese von Infrastrukturen ausmachte. In diesem Kontext erhält der Münchener Oberbürgermeister Karl Fiehler besondere Beachtung. Aus einer übergreifenden Perspektive auf die Gesamtheit kommunalpolitischer Infrastrukturpolitik sei angemerkt, dass der Autor seine Analysen, auch etwa zu kulturgeschichtlichen Fragen, vorrangig entlang von Beispielen aus der Bau- und Verkehrspolitik entwickelt, während zum Beispiel die wichtigen Felder der Wasser- und Elektrizitätspolitik eher am Rande bleiben. Doch ist die kulturgeschichtliche Öffnung des Blicks allemal fruchtbarer als etwa eine flächendeckende Analyse des gesamten Katalogs kommunaler Maßnahmen im Feld der Infrastrukturpolitik.

Die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit fasst der Autor in vier zentralen Befunden zusammen: Zunächst und vor allem habe die nationalsozialistische Münchener Stadtverwaltung die kommunalen Infrastrukturen erfolgreich zur Herrschaftsstabilisierung eingesetzt. Es sei ihr gelungen, mit propagandistischen Aktionen die Sicherstellung und den Ausbau der Leistungsangebote für die Bevölkerung publikumswirksam zu suggerieren, auf die diese im Zeitalter der allseits infrastrukturell vernetzten Moderne existentiell angewiesen war. Zahlreiche Beispiele von Symbolpolitik, wie etwa die Inszenierung vorgezogener Grundsteinlegungen, umfangreiche Werbemaßnahmen für das Regime an Bussen und Bahnen und so weiter belegten die große Rolle der aufwendigen öffentlichen Zurschaustellung einer vorgeblichen Leistungsfähigkeit der Kommune. Der Autor konstatiert, dass mit dieser Politik des Versprechens und Vertröstens und begünstigt von der überkommenen „Robustheit der Systeme“ die Herrschaftsstabilisierung selbst noch nach Kriegsbeginn weitgehend gelang (S. 389).

Zugleich wurden die städtischen infrastrukturellen Versorgungssysteme stark für ideologische Zwecke des Systems instrumentalisiert, im Gegensatz zu der heute in Forschung und Öffentlichkeit weit verbreiteten Überzeugung von Infrastrukturen als Einrichtungen, die wertneutralen, vorrangig technischen und anderen Sachlogiken unterliegen. Insbesondere der öffentlichkeitswirksame Ausschluss von jüdischen Bürgern und Zwangsarbeitern habe die Betroffenen von wichtigen Dienstleistungen wie dem öffentlichen Personennahverkehr oder Schwimmbadbesuchen abgeschnitten, mit massiven Auswirkungen auf ihre Lebensführung. Zugleich und darüber hinaus sei es Mittel und Ziel dieser Maßnahmen gewesen, das Freund-Feind-Denken innerhalb der „Volksgemeinschafts“-Ideologie zu stimulieren sowie die Bevölkerung zur Mitwirkung bei der Ausgrenzung zu ermuntern. Auch die Instrumentalisierung von Sportanlagen für die Wehrertüchtigung, Anreize zur Anschaffung von „Volksempfängern“ sowie die Zementierung des nationalsozialistischen Frauenbilds im Zuständigkeitsbereich der kommunalen Daseinsvorsorge seien wichtige Bausteine einer völkischen Ideologisierung der Infrastrukturpolitik gewesen, die allerdings, wie der Autor hervorhebt, nicht selten von den Ausgeschlossenen unterlaufen wurden (zum Beispiel durch „heimliche“ Nutzung der Straßenbahnen). Diese relative Widerspenstigkeit sei dadurch zu erklären, dass die „Alltagserfahrung der städtischen Infrastrukturen […] einen für diktatorische Verhältnisse bemerkenswert sanktionsfreien Kommunikationsraum“ eröffnet habe, so die starke These (S. 392). Auch wenn der Autor diese These durch Verweise auf zahlreiche Beschwerden aus der Bevölkerung, teilweise scharfe Kritik an der Stadtverwaltung und ein scheinbar eingeschränktes Repressionsinstrumentarium der Stadt stützt, über das sich führende Kommunalvertreter offen beklagten, hätte sie doch noch stärker belegt und abgesichert sowie in einer Gesamtabwägung der verschiedenen Formen von loyalem Verhalten und Unbotmäßigkeit reflektiert werden können. Der vierte zentrale Befund schließlich betrifft die entscheidende Rolle, die der Autor dem Oberbürgermeister Karl Fiehler als zentralem „system manager“ sowie einigen Ratsherren zuspricht, die zwar mit vielfach eingeschränkter Fachkenntnis, aber doch in intensiven, auch kontroversen, kontinuierlichen Beratungen die kommunale Infrastrukturpolitik gesteuert hätten. Dabei nutzten sie durchaus vorhandene Handlungsspielräume und selbst die wiederholten, teils erratischen Anweisungen Hitlers zu Einzelfragen der Stadtpolitik seien eher widerstrebend umgesetzt und im Einzelfall durchaus kreativ modifiziert worden. Letztlich habe allerdings das Träumen von nie realisierten Großprojekten das sprunghafte Handeln stärker bestimmt als eine zielgerichtete Unterhaltung und ein Ausbau der bestehenden Infrastrukturen.

Doch selbst in der Kriegszeit sei es der Stadtverwaltung gelungen, die Sicherung städtischer infrastruktureller Leistungen und die Versorgung der Privathaushalte als wichtige Voraussetzungen der Ressourcenmobilisierung für den Krieg nach innen und außen darzustellen. Allerdings seien die aus der Einsicht zur Verwundbarkeit der Netze durch Luftangriffe gezogenen Luftschutz-Konzepte „propagandistisches Blendwerk“ geblieben (S. 283). Auch die Bemühungen zur Umrüstung der Betriebe auf Ersatzstoffe, etwa von Benzin auf Gas, gelangen nur begrenzt. Doch waren die Leistungen der städtischen Betriebe für die Rüstungswirtschaft längst nicht von der maßgeblichen Bedeutung wie von der Stadtverwaltung behauptet. Insgesamt sei es mit einem hohen Maß an Improvisation, Propaganda und Spar-Appellen gelungen, eine Mindestversorgung der Bevölkerung bis weit in den Krieg hinein zu sichern. Und obwohl diese ab März 1943 mit dem Einsetzen der massiven Luftangriffe periodisch zusammenbrach, habe die Kommune insgesamt erfolgreich versucht, mit ihren Leistungen das Vertrauen vonseiten der Bevölkerung und damit auch ihre eigene Machtstellung im System zu stabilisieren. In einem Unterkapitel zum Einsatz von Frauen und Zwangsarbeitskräften bei den städtischen Betrieben hebt der Autor demgegenüber die Grenzen der Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte, vor allem aufgrund von schlechter Bezahlung, Arbeitsbedingungen und der hierfür hinderlichen nationalsozialistischen Geschlechterordnung hervor. Hingegen kann er die umfangreiche Mobilisierung von Zwangsarbeitern für die städtischen Betriebe nachweisen und damit die Aufmerksamkeit auf einen bisher von der Forschung vernachlässigten Bereich der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus richten.

Wenn die Arbeit Wünsche offen lässt, dann betreffen diese am ehesten den Verzicht auf weiterführenden Überlegungen zu den eingangs adressierten Theoriedebatten und die Frage der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse im Hinblick auf andere Städte im Nationalsozialismus, also die Spezifik des Beispiels München. Das ändert jedoch nichts daran, dass es sich um eine vorzügliche, auf reicher Quellenbasis mit anspruchsvoller Fragestellung stringent durchgearbeitete und dabei gut lesbare Arbeit handelt, die einen wichtigen Beitrag für eine Neubestimmung der Politik und Bedeutung der Kommunen im Nationalsozialismus leistet.

Anmerkungen:
1 Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002; Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006; Winfried Süß / Malte Thießen (Hrsg.), Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen, Göttingen 2017; Thomas Schaarschmidt, Multi-Level Governance in Hitler’s Germany. Reassessing the Political Structure of the National Socialist State, in: Historical Social Research 42/2 (2017), S. 218–242. DOI: 10.12759/hsr.42.2017.2.
2 Vgl. für die ältere Forschung: Horst Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970.
3 Als weitere aus dem Forschungsprojekt hervorgegangene, ebenfalls im Wallstein-Verlag Göttingen veröffentlichte Publikationen seien genannt: Annemone Christians, Amtsgewalt und Volksgesundheit, Göttingen 2013; Florian Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut, Göttingen 2014; sowie Paul-Moritz Rabe, Die Stadt und das Geld, Göttingen 2017.
4 Vgl. etwa Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt am Main 2018; Jens Ivo Engels / Julia Obertreis (Hrsg.), Infrastrukturen. Themenheft Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte 1 (2007).