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Titel
Urban Literacy in Late Medieval Poland.


Autor(en)
Bartoszewicz, Agnieszka
Reihe
Utrecht Studies in Medieval Literacy 39
Erschienen
Turnhout 2018: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
xxiii, 484 S.
Preis
€ 120,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vicky Kühnold, Institut für Geschichte, Professur für Geschichte des Mittelalters, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Der Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im Mittelalter ist schon seit einigen Jahrzehnten Gegenstand internationaler Forschungen. So erschien das von Agnieszka Bartoszewicz in ihrer Einleitung zitierte Buch von Michael Clanchy „From Memory to Written Record“ in der ersten Auflage bereits 1979.1 An der Universität Münster war im Zeitraum 1986 bis 1999 der für die Schriftlichkeitsforschung wegweisende Sonderforschungsbereich 231 eingerichtet. Seit 1999 wird die Reihe „Utrecht Studies in Medieval Literacy“ herausgegeben, die sich der internationalen Erforschung von Verschriftlichungsprozessen im mittelalterlichen Europa widmet. Auch in Polen erfreut sich das Thema in den letzten Jahren wachsenden Interesses, wobei besonders der soziale Kontext von Schriftlichkeit im Zentrum steht. Dies zeigt sich u. a. in den Arbeiten von Agnieszka Bartoszewicz und Anna Adamska.2

Agnieszka Bartoszewicz nimmt mit dem vorliegenden Band die städtische Schriftlichkeit im spätmittelalterlichen Polen vom frühen 14. Jahrhundert bis etwa 1520 in den Blick. Es handelt sich dabei um eine überarbeitete und erweiterte Fassung ihrer 2012 auf Polnisch erschienenen Monografie zum selben Thema.3 Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in den Städten und daran anschließend, wie diese Entwicklung die städtische Gesellschaft beeinflusste. Als wichtigste Quellen dienen ihr mittelalterliche Stadtbücher. Der untersuchte geografische Raum umfasst das Gebiet des spätmittelalterlichen Königreichs Polen und der Region Masowien. Die Städte Schlesiens und des Ordensstaates bleiben bei der Untersuchung leider unberücksichtigt, da sich deren Entwicklung grundlegend anders gestaltet habe (S. 2).

Die Arbeit ist in sieben Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel geht Bartoszewicz auf die städtischen Netzwerke sowie das spätmittelalterliche Stadtrecht ein. Da das kodifizierte Recht und die Selbstverwaltung zentrale Elemente des deutschen Stadtrechts darstellten, gilt es als Voraussetzung für die Entwicklung städtischer Schriftlichkeit. Je nach Region verbreiteten sich in Polen in erster Linie das Magdeburger oder das Kulmer Recht. Die Autorin zeigt mehrere Stadtgründungsphasen auf und geht dabei auch auf die Initiatoren und die jeweiligen Größenordnungen der Städte ein, die sie mit Hilfe von Steuerlisten des 15. und 16. Jahrhunderts veranschaulicht. Weiterhin erläutert sie wichtige Faktoren für die Entwicklung einer Stadt, etwa wirtschaftlichen Wohlstand, die Städtedichte einer Region oder das Verhalten der Stadtherren.

Das zweite Kapitel thematisiert die Verbreitung der Schriftlichkeit in Polen. Anhand einer Reflexion über die Bildungsniveaus der städtischen Bevölkerung stellt die Autorin verschiedene Bildungsinstitutionen wie Pfarr-, Dom- oder Privatschulen vor. Vor allem erstere waren in den spätmittelalterlichen Städten Polens weit verbreitet. Generell spielten Kirche und „Staat“ für die Alphabetisierung der Städte und ihrer Bewohner eine herausragende Rolle. So unterstützten königliche bzw. fürstliche Schreiber die städtischen Kanzleien; die ersten Stadtschreiberstellen wurden mit Klerikern besetzt. Eine besondere Bedeutung kam zudem der Universität Krakau zu, an deren Beispiel die wechselseitigen Beziehungen zwischen Universität und Stadt aufgezeigt werden.

Im dritten Kapitel widmet sich Agnieszka Bartoszewicz schließlich den städtischen Kanzleien, wobei sie zunächst deren Aufgaben und Funktionen umreißt, um dann verschiedene Schriftprodukte – angefangen bei Urkunden und Briefen über die ersten Stadt- und Schöffenbücher bis hin zu spezialisierten Formen wie Rats-, Rechnungs-, Bürger-, Gerichts- oder Testamentbüchern – zu analysieren. Die Anfänge einer Kanzlei lassen sich der Autorin zufolge am Vorhandensein eines Stadtbuchs, einem schriftlich belegten Stadtschreiber, einer Schreibstube und/oder einem Archiv festmachen. Während es in großen Städten wie Krakau bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert Hinweise auf die Existenz einer Kanzlei und damit erste Formen bürokratischer Organisation gibt, hätten viele Kleinstädte jedoch lange keine feste Institution besessen.

Die konkrete Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit steht im Fokus des vierten Kapitels, wobei Bartoszewicz ihre Analyse hierbei fast ausschließlich auf rechtliche Interaktionen beschränkt. Sie zeichnet anhand der immer ausführlicher werdenden Eintragungen in Stadtbüchern nach, wie die Schriftlichkeit im Verlauf des 15. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewann, betont jedoch, dass das geschriebene Wort nur einen von mehreren Aspekten bei Rechtsgeschäften darstellte. Eine wichtige Rolle spielten weiterhin Gesten und Mündlichkeit, die den Rechtshandlungen einen rituellen Charakter verliehen. Die Autorin geht zudem auf die Beziehung zwischen lateinischer Sprache und Vernakularsprache ein, stellt die Bedeutung des „Deutschen Rechts” für die in der städtischen Kanzlei gebrauchte Sprache heraus und untersucht die deutsche und polnische Sprache in den Stadtbüchern des Königreichs Polen.

In den folgenden Kapiteln rücken die Schreibenden selbst – Stadtschreiber, Schreibpersonal und Stadtbewohner – in den Fokus. Die Stadtschreiber in Polen bleiben aufgrund von Quellenverlusten, besonders in den Anfängen, meist unbekannt – ein Problem, das nicht nur Polen betrifft. Dennoch gelingt es Agnieszka Bartoszewicz, sich den zentralen Fragen zur Person des Stadtschreibers (Bildung, Herkunft, sozialer und materieller Status sowie Stand in der städtischen Hierarchie) und zu dessen Amt (Aufgaben und Pflichten, Entlohnung, Einkünfte und Privilegien) anzunähern. Dabei nimmt sie auch Kleriker und Laien in den Kanzleien in den Blick, sucht nach weiteren Kanzleimitarbeitern (Schöffen-, Unter- oder Lohnschreibern) und skizziert verschiedene Karrieremöglichkeiten. Eine weitere Personengruppe, die ihren Lebensunterhalt durch Schreibtätigkeiten verdiente, stellt das niedere Schreibpersonal dar, das sowohl im Dienst der Stadt als auch einzelner Bürger oder Institutionen tätig sein konnte. Hierbei handelt es sich um öffentliche Notare, Lehrer, Übersetzer, sog. ministeralis civitatis oder pauperes litterati. Neben Fragen zum sozialen und materiellen Status untersucht die Autorin deren Beziehungen zur städtischen Kanzlei und anderen städtischen Behörden.

Dass auch Stadtbewohner eigenes Schriftgut produzierten, zeigt Angnieszka Bartoszewicz im letzten Kapitel. Insbesondere Händler führten schon früh eigene Register, die in Polen ab dem 15. Jahrhundert erhalten sind. Die Autorin erläutert die verschiedenen Formen dieser Schrifterzeugnisse, von Rechnungsbüchern über Briefe bis hin zu Testamenten, und geht auf deren Funktionen ein. Daneben besaßen einige Bewohner auch private Handschriften oder gar kleine Bibliotheken, die religiöse, theologische oder antike Schriften und Chroniken umfassten. Bücher galten zunehmend als Prestigeobjekte. Eine Ausführung zur Schriftlichkeit und Bildung von Frauen bildet den Abschluss des Buches.

Agnieszka Bartoszewicz‘ Studie ist thematisch überaus breit angelegt. Viele Themengebiete werden dabei eher überblicksartig abgehandelt, ohne dass sie eine tiefergehende Analyse vornehmen konnte. Vergleichsbeispiele aus anderen Regionen Polens wie Schlesien oder dem Ordensstaat sowie aus angrenzenden Ländern wie Böhmen oder Ungarn hätten zudem einen wechselseitigen Kulturtransfer sichtbar machen können. Dies bleiben – gemessen am Anspruch der Autorin, einen ersten grundlegenden Einblick in die städtische Schriftlichkeit im Spätmittelalter zu geben – allerdings nur kleine Einwände. Genau darin liegt das Verdienst des Buches für die zukünftige Forschung: Bartoszewicz hat eine beeindruckende und gut recherchierte Arbeit vorgelegt, bei der mit viel Akribie eine große Menge an Quellenmaterial und Literatur zusammengetragen und fachkundig ausgewertet wurde. Indem sie die Funktion der Schriftlichkeit in der Gesellschaft, ihre Rolle in der sozialen Kommunikation und die kulturelle Bedeutung der Schrift in den Mittelpunkt stellt, reiht sich ihre Studie in aktuelle Forschungsdiskurse ein und bereichert diese um wertvolle Aspekte. Das Buch eignet sich besonders als Einstiegsliteratur und zur ersten Orientierung für all diejenigen, die sich mit dem Thema der städtischen Schriftlichkeit im Spätmittelalter – nicht nur in Polen – auseinandersetzen wollen.

1 Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066-1307, Oxford, Cambridge 1979.
2 Vgl. u. a. Anna Adamska, „From memory to written record“ in the periphery of medieval Latinitas. The case of Poland in the eleventh and twelth Centuries, in: Karl Heidecker (Hrsg.), Charters and the Use the Written Word in Medieval Society (Utrecht Studies in Medieval Literatcy 5), Turnhout 2017, S. 83–100; Anna Adamska, The Study of Medieval Literacy. Old sources, new ideas, in: Anna Adamska / Marco Mostert (Hrsg.), The development of literate mentalities in East Central Europe (Utrecht Studies in Medieval Literacy 9) Turnhout 2004, S. 13–50.
3 Agnieszka Bartoszewicz, Piśmienność mieszczańska późnośredniowiecznej Polsce, Warszawa 2012.

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