Das Konzentrationslager (KZ) Sachsenburg, ca. 15 km nordöstlich von Chemnitz im Tal der Zschopau gelegen, war das bedeutendste und am längsten betriebene frühe KZ in Sachsen. Es wurde am Fuße der Sachsenburg in einem großen, leer stehenden Spinnereigebäude eingerichtet. Das Lager existierte von Frühjahr 1933 bis Juli 1937. Es steht trotz seiner Bedeutung, nicht nur für die NS-Geschichte in Sachsen, im Schatten großer KZ und ihrer Gedenkstätten wie Buchenwald und Sachsenhausen. Nach der „Wende“ 1989/90 wurde sowohl die im KZ-Gebäude produzierende Spinnerei als auch ein kleiner Gedenkraum „abgewickelt“. Die Geschichte des Lagers, das zunächst von der SA, ab Sommer 1934 von der SS betrieben wurde, drohte vergessen zu werden.
Einen wichtigen Beitrag gegen diese Tendenz lieferte 2005 die Dissertation der Berliner Historikerin Carina Baganz.1 Der nun von Bert Pampel (Stiftung Sächsische Gedenkstätten) und Mike Schmeitzner (Hannah-Arendt-Institut) herausgegebene Sammelband fasst, ausgehend von einem Workshop zum Thema im Jahre 2016, den aktuellen Forschungsstand umsichtig und solide zusammen. Die Geschichte des KZ Sachsenburg wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, basierend auf zum Teil jahrelangen Recherchen in zahlreichen Archiven. Den Herausgebern ist es gelungen, die wichtigen Kenner/innen der Materie (Geschichtswissenschaftler/innen sowie engagierte Historiker/innen vor Ort) zusammenzubringen: 19 Autor/innen sind mit 25 Beiträgen vertreten. Der Band gliedert sich in vier große Abschnitte: Nach einer knappen Einführung der beiden Herausgeber wird zunächst in drei Beiträgen die Geschichte des Lagers behandelt. Während Carina Baganz und Bert Pampel „Die frühen Konzentrationslager in Sachsen“ vorstellen (S. 16–33), schildert Anna Schüller „Die Entstehung und Entwicklung des KZ Sachsenburg von 1933 bis 1937“ (S. 49–73). Beklemmend sind Mike Schmeitzners Ausführungen zur öffentlichen Demütigung sozialdemokratischer und kommunistischer Politiker im März 1933 (S. 34–48). Bei den „Chemnitzer Abwaschtagen“ zwang der dortige SA-„Marinesturm“ seine politischen Gegner, antifaschistische Parolen unter den Augen von Nazis und Gaffern von Hauswänden zu entfernen. Den SPD-Politiker Bernhard Kuhnt führten SA-Männer als „Flottenmeuterer“ der Novemberrevolution in einem Karren sitzend der Öffentlichkeit vor. Ablichtungen von diesen Vorgängen mit hämischen Kommentaren vertrieb die SA als Postkarten, eine Auswahl wird in dem vorliegenden Buch dokumentiert (S. 38–45).
Ein zweiter Abschnitt des Buches ist den Tätern gewidmet: Anna Schüller untersucht in einer sehr gut recherchierten „kollektivbiographischen Studie“ die SA- und SS-Wachmannschaften des KZ Sachsenburg (S. 76–95). Den ersten Lagerleiter, Max Hähnel, stellt Volker Strähle auf der Basis neuer Quellen vor (S. 96–113). Die Bedeutung von SS-Netzwerken im Land und in der preußischen Provinz Sachsen legt Stefan Hördler dar (S. 114–139). Franz Josef Merkl widmet sich dem SS-Lagerkommandanten Max Simon und der Ausbildung der SS-Wachtruppe als „Schule der Gewalt“(S. 140–155). Die Karrierewege der Kommandanten und Schutzhaftlagerführer Karl Otto Koch, Walter Gerlach, Bernhard Schmidt, Gerhard Weigel und Arthur Rödl untersucht Volker Strähle (S. 156–177). Der letzte Beitrag des Abschnitts setzt sich mit Kommandant Kochs „fotografische[m] Blick auf das KZ Sachsenburg“ auseinander (Anna Schüller/Volker Strähle, S. 178–203). Die Ablichtungen dokumentieren zunächst dessen Selbstverständnis. Zugleich liefern sie wichtige Hinweise auf die Nutzung der Gebäude und den Lageralltag.
Ein dritter Abschnitt wendet sich den Gefangenen zu. Einen Überblick liefert Dietmar Wendler, der die Entwicklung der „Häftlingsgesellschaft“ des KZ Sachsenburg zwischen 1933 und 1937 vorstellt (S. 206–222). Hier wird ein erheblicher Forschungsfortschritt deutlich: Durch Auswertung fast aller verfügbarer Quellen (Prozess- und VVN-Unterlagen, Karteikarten, Zeugenaussagen und Materialien des International Tracing Service Bad Arolsen) lassen sich nun ca. 7.200 Häftlinge nachweisen (S. 207). Es folgt ein Beitrag von Bert Pampel und Mike Schmeitzner über die größte Gefangenengruppe des Lagers, die Kommunisten (S. 223–240). Innovativ ist ein Beitrag von Udo Grashoff, der „Opportunismus und Überläufertum“ unter kommunistischen Funktionären im Lager belegt (S. 262–276). So habe der frühere Stadtrat Ernst Schraepel mit Eingaben an die Gestapo und die sächsische Regierung, in denen er Hitlers Politik als „wirklichen Sozialismus“ verherrlichte, im April 1934 seine Freilassung erreicht (S. 265). Zwei weitere Renegaten beschönigten die erlittene Freiheitsberaubung im KZ in ihrem Pamphlet „Vom Kommunismus über die Schutzhaft zum Nationalsozialismus“. Solches Überläufertum blieb allerdings die Ausnahme. Willy Buschak nennt in seinem Beitrag über die Gewerkschafter unter den Häftlingen (S. 288–299) unter Berufung auf Recherchen Dietmar Wendlers eine Zahl von 746 Personen, die „sich als Gewerkschaftsmitglieder bezeichneten“. Sie gehörten mehrheitlich den Jahrgängen 1880 bis 1899 an und seien Mitglied im Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) gewesen. Als prominentester Gewerkschafter des Lagers kann wohl der DMV-Vorsitzende Alwin Brandes gelten. Er sei, bei seiner Einlieferung bereits 69 Jahre alt, von Mithäftlingen im Lager vor dem Schlimmsten bewahrt worden. Den Juden im KZ Sachsenburg widmet sich Jürgen Nitsche (S. 300–323). Er schätzt, dass „über 70 Personen“, die zwischen Mai 1933 und Februar 1937 dort inhaftiert waren, jüdischer Herkunft“ gewesen seien. Aufgrund der schwierigen Quellenlage und Verwechslungen (unter anderem mit dem KZ Sachsenhausen) existiere noch ein erheblicher Forschungsbedarf. Fest steht, dass die Mehrzahl der Häftlinge jüdischer Herkunft wegen ihrer Regimegegnerschaft ins das Lager gebracht wurde. Aber auch nichtpolitisch motiviertes abweichendes Verhalten wurde (bereits vor dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ am 15. September 1935) brutal verfolgt. So drohte die NSDAP-Gauzeitung „Der Freiheitskampf“ bereits am 18. Juli 1935 auf ihrer Titelseite: „Den jüdischen Partnern dieser ‚Verbindungen’ ist […] im Konzentrationslager Sachsenburg Gelegenheit gegeben worden, zu lernen, wie sich Gäste in Deutschland aufzuführen haben.“ Jüdische Häftlinge waren grundsätzlich auf der untersten Ebene der Häftlingshierarchie angesiedelt und dadurch besonders gefährdet: Misshandlungen, Beschimpfungen und Schikanen waren für sie an der Tagesordnung. Mindestens ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, Max Sachs (ehemaliger Landtagsabgeordneter und Chefredakteur der „Dresdner Volkszeitung“), wurde im Lager tagelang gequält und ermordet. Swen Steinberg setzt sich mit dessen Schicksal und der Erinnerung an Sachs nach 1945 auseinander (S. 405–430). Die Heterogenität der Häftlingsgesellschaft wird anhand einzelner Biografien exemplarisch vermittelt: Bert Pampel zeichnet das Schicksal eines Sozialdemokraten nach (S. 277–287). Konstantin Seifert stellt Hans Serelman, einen „Mediziner, ‚Rassenschänder’ [und] Interbrigadist[en]“ vor (S. 324–330). Lars Förster wendet sich einem der später prominentesten Häftlinge des KZ Sachsenburg zu: Bruno Apitz (S. 241–261). Gerald Hacke schildert das Schicksal des Porzellanmalers Hermann Dietze, der als Zeuge Jehovas in das KZ kam (S. 331–348). Boris Böhm legt dar, wie der Pirnaer Pfarrer und Studienrat Walter Plotz in die Sachsenburg geriet (S. 349–364). Birgit Mitzscherlich zeigt auf, wie ein katholischer Geistlicher, Ludwig Kirsch, zum KZ-Häftling wurde (S. 365–372). Jan-Henrik Peters beleuchtet die Verfolgung homosexueller Männer im Lager (S. 373–379).
Im Schlusskapitel, „Rezeption und Aufarbeitung“ belegen Swen Steinberg und Mike Schmeitzner, dass das KZ Sachsenburg in der zeitgenössischen ausländischen Presse und Publizistik durchaus wahrgenommen wurde (S. 382–404). Eva Werner schildert in ihrem Beitrag über die KZ-Gedenkstätte Sachsenburg zu Zeiten der DDR das erhebliche Engagement, mit der die Geschichte des Lagers insbesondere Schülern und „Jugendweihlingen“ nahe gebracht werden sollte. Sie betont dabei, dass die damals betriebene Geschichtsaufarbeitung sehr stark von den Legitimationsabsichten der SED geprägt war (S. 431–444). In einem letzten Beitrag setzt sich Bert Pampel mit der „öffentlichen Erinnerung“ an das KZ Sachsenburg seit 1990 auseinander (S. 445–456). Er schildert, dass nach dem Untergang der DDR und der Auflösung der Gedenkstätte Stimmen laut wurden, die sogar zu leugnen versuchten, dass das Lager Sachsenburg ein KZ gewesen ist. In einem Leserbrief, den der Sammelband dokumentiert, hieß es: „Arbeitsplätze statt Gedenkstätten“(„Freie Presse“, 09. Juni 1993). Durch den großen Einsatz ehemaliger Häftlinge wie Karl Stenzel (1915–2012) und bürgerschaftliches Engagement (unter anderem der „Lagerarbeitsgemeinschaft KZ Sachsenburg“, der Chemnitzer Lehrerin Anna Schüller und der Initiative „Klick“) konnte solchen Verleugnungstendenzen am Ende erfolgreich entgegengetreten werden. Das Land Sachsen und die Gemeinde Frankenberg scheinen nun den Weg zur Errichtung einer neuen Gedenkstätte am historischen Ort des KZ Sachsenburg frei machen zu wollen. Hierzu liefert der vorliegende Sammelband einen wertvollen Beitrag: Er bilanziert den gewachsenen Forschungsstand, macht zugleich aber auch deutlich, dass noch erheblicher Aufklärungsbedarf besteht.
Anmerkung:
1 Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37, Berlin 2005.