S. Mukherjee: Gender, Medicine, and Society

Cover
Titel
Gender, Medicine, and Society in Colonial India. Women's Health Care in Nineteenth- and early Twentieth-Century Bengal


Autor(en)
Mukherjee, Sujata
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
£ 32.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Schrader, Historisches Institut, Fernuniversität in Hagen

Die Verbreitung westlicher Medizin in Britisch-Indien mag gemessen an der Bevölkerungszahl äußerst punktuell und auf urbane Zentren beschränkt geblieben sein, dennoch kam ihr im Gefüge der kolonialen Herrschaft eine nicht unwesentliche Rolle zu. Die Einführung „moderner“ Behandlungsmethoden und die gleichzeitige Verdammung lokaler medizinischer Praktiken als „archaisch“, war ein zentrales Motiv der Zivilisierungsmission, mit dem die britische Herrschaft über den indischen Subkontinent legitimiert wurde. Die Kliniken und Gesundheitszentren, die sich vor allem im Umfeld christlicher Missionen und humanitärer Initiativen gründeten, sollten daher erklärtermaßen nicht nur der ärztlichen Behandlung dienen, sondern auch die kolonialisierte Bevölkerung von der angeblichen Überlegenheit europäischer Wissenschaften überzeugen und nach Möglichkeit in ihre sozialen Lebenswelten intervenieren. Wegen dieses Anspruchs ist es kaum überraschend, dass die Medizin im kolonialen Indien stets ein politisch umkämpftes Handlungsfeld blieb, und auch antikoloniale und sozialreformerische Gruppen zunehmend eigene gesundheitspolitische Forderungen artikulierten. In ihrer 2017 veröffentlichten Studie Gender, Medicine and Society in Colonial India argumentiert Sujata Mukherjee, Historikerin an der Rabindra Bharati University in Kolkata, am Beispiel der Provinz Bengalen, dass sich in der Geschichte der Medizin nicht nur politische Konflikte oder soziale Transformationsprozesse widerspiegeln, sondern dass sie auch eng mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse in Südasien verflochten sind. Die Autorin reiht sich damit in die spannenden Forschungen zu den geschlechterhistorischen Aspekten der indischen Medizingeschichte ein, wie sie zuletzt unter anderem von Samiksha Sehrawat, Srirupa Prasad, Anshu Malhotra oder Sarah Hodges vorgelegt wurden.1

In sechs Kapiteln, die grob einem chronologischen Verlauf folgen, ergründet die Autorin verschiedene Dimensionen dieses Wechselverhältnisses. Die ersten beiden Kapitel analysieren, wie das Primat einer militärischen Logik in der kolonialen Gesundheitspolitik zunehmend von zivilisationsmissionarischen Erwägungen verdrängt wurde. Handelte es sich bei den ersten Institutionen, die sich überhaupt an Frauen richteten, um sogenannte lock hospitals, in denen sich Sexarbeiterinnen mit dem Ziel einer Eindämmung von Geschlechtskrankheiten einer Zwangsuntersuchung unterziehen mussten, entstanden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Kliniken und Ausbildungseinrichtungen, welche die Präsenz von Frauen in medizinischen Berufen erhöhen wollten. Neben missionarischen und humanitären Gruppen, welche auf diesem Wege indische Frauen aus ihrem angeblich unterdrückten Status „befreien“ wollten, waren an diesem Prozess auch zahlreiche sozialreformerische Zirkel aus Bengalen beteiligt, in deren gesundheitspolitischen Entwürfen und Geschlechterkonstruktionen immer auch Klassen-, Kasten- oder Regionalidentitäten verhandelt wurden. Die Kapitel drei und vier nehmen die Diskurse in den Blick, die sich seit der Jahrhundertmitte um Fragen der Sexualität, der Körperhygiene sowie um Geburten drehten. Indem sie die zeitgenössische Ratgeberliteratur in englischer und bengalischer Sprache auswertet, zeigt die Autorin überzeugend auf, wie stark dieser Diskurs durch ein Zusammenfließen verschiedener ideengeschichtlicher Traditionslinien geprägt war. Kapitel fünf widmet sich dem Aufstieg der Mütter- und Säuglingsgesundheit als einem medizinischen Handlungsfeld, dem von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren seit den 1920er-Jahren eine besonders hohe gesundheitspolitische Priorität zugeschrieben wurde und das zugleich – wie in anderen geographischen Kontexten auch – mit nationalistischen Diskursen aufgeladen wurde. Das sechste Kapitel diskutiert abschließend die Strukturen der öffentlichen Gesundheitsverwaltung in den letzten Jahren der britischen Herrschaft und weist auf deren begrenzte Reichweite sowie ihr völliges Versagen während der bengalischen Hungerkatastrophe 1943/44 hin.

Wie sich bereits an diesem Aufbau zeigt, umfasst die Studie ein enorm breites Spektrum an behandelten Themen, untersuchten Epochen und methodischen Ansätzen. Die Arbeit behandelt einen Zeitraum von gut anderthalb Jahrhunderten, nutzt sozial- wie auch eher kulturhistorische Zugänge und stellt eine Fülle an beteiligten Akteurinnen und Akteuren vor. Aufgrund dieser Breite bietet sich das Werk in besonderer Weise für Einsteigerinnen und Einsteiger an, die sich einen Überblick über die Geschichte der Medizin und Gesundheitspolitik in Britisch-Indien verschaffen möchten. Wer die Forschung zum Thema kennt, dem mögen viele der Analysen zwar nicht grundsätzlich überraschen, allerdings geling es der Autorin, die bisherigen Forschungsbeiträge sowie ein diverses Quellenmaterial – kolonialamtliches Schriftgut, missionarische Dokumente und gedrucktes Material in bengalischer Sprache – in einer originellen Weise zu verknüpfen. Anders als der Titel und der einleitend formulierte Anspruch nahelegen, ist die Arbeit dabei weniger als Geschlechtergeschichte der kolonialen Medizin insgesamt, sondern eher als klassische Frauengeschichte zu lesen, denn der Autorin geht es insbesondere um eine Darstellung des weiblichen Anteils in der indischen Medizingeschichte und die Frage, wie sich die Verbreitung westlicher Medizin auf die Lebenswelt indischer Frauen auswirkte. Das ist in keiner Weise als Einschränkung zu verstehen, wird doch die Rolle von Frauenverbänden im Gesundheitssektor, westlichen Ärztinnen sowie indischen medizinischen Pionierinnen in der Studie besonders eindrucksvoll beschrieben. Die thematische Breite lässt sich allerdings nicht nur als Stärke, sondern auch als Schwäche der Arbeit ausmachen. Wichtige Entwicklungen werden zum Teil nur gestreift, andere nicht über den gesamten Untersuchungszeitraum verfolgt – etwa im Falle der Gesundheitsbürokratie, deren Geschichte für die 1930er- und 1940er-Jahre beschrieben wird, nicht jedoch deren Entstehung in den vorangegangenen Jahrzehnten. Zudem fehlt es an einer strukturierenden Kernthese oder abschließenden Einordnung der beschriebenen Entwicklungen. So bleibt unklar, wie sich die Fallstudie zu Bengalen zur Geschichte der Medizin in Britisch-Indien insgesamt verhält – ob sich aus der Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren eine spezifische regionale Dynamik ergab, wie die Autorin in einigen Passagen nahelegt, oder ob manche Entwicklungen auch über die Provinz hinaus von Bedeutung waren, wird nicht abschließend beantwortet.

Methodisch lässt sich die Studie vor allem im Bereich der klassischen Kolonialhistoriographie verorten. Die Geschichte der Medizin in Britisch-Indien wird hier überwiegend als ein Wechselspiel zwischen den „britischen“ Kolonialverwaltungen und Missionen auf der einen, und „indischen“ Gruppen und antikolonialen Initiativen auf der anderen Seite interpretiert. Jene historischen Akteurinnen und Akteure und ideengeschichtlichen Strömungen, die sich nicht in dieses binäre Schema einordnen lassen, fallen im gewählten Zugriff daher häufig unter den Tisch. Dabei macht eine globalhistorisch und postkolonial inspirierte Medizingeschichte bereits seit einigen Jahren auf die vielfältigen transregionalen und auch transimperialen Beziehungen der indischen Medizin und Gesundheitspolitik aufmerksam, die über den Rahmen des britischen Empires teilweise deutlich hinausgingen.2 Eine Einbeziehung dieser Arbeiten hätte vielen von Sujata Mukherjees Fallstudien eine größere analytische Tiefe verliehen, denn einige der beschriebenen gesundheitspolitischen Praktiken (und ihre zugrundeliegenden Geschlechterbilder), sei es die Gründung von Gesundheitszentren in ländlichen Räumen, die Durchführung von sogenannten baby shows oder die Verbreitung des Körperhygienediskurses, waren weder britische „Transfers“ noch koloniale „Erfindungen“, sondern Ergebnis einer globalen Vernetzung von Gesundheitsexpertinnen und -experten sowie von Reforminitiativen, in denen einzelne Ansätze regelmäßig zwischen verschiedenen Weltregionen wie auch zwischen kolonialen und nichtkolonialen Räumen zirkulierten.3 Mukherjees Arbeit bietet sich aufgrund ihrer breiten Kenntnis der Quellen und Literatur sowie ihres pointierten Stils somit durchaus als ein Ausgangspunkt an, um weitere Fragen nach den Zusammenhängen zwischen kolonialen, globalen und geschlechterhistorischen Faktoren auf dem Feld der Medizingeschichte Indiens zu stellen.

Anmerkungen:
1 Samiksha Sehrawat, Colonial medical care in North India. Gender, state, and society, c. 1840 – 1920, New Delhi 2013; Anshu Malhotra, Of Dais and Midwives. „Middle Class“ Interventions in the Management of Reproductive Health in Colonial Punjab, in: Sarah Hodges (Hrsg.), Reproductive health in India. History, politics, controversies, New Delhi 2006, S. 199–226; Srirupa Prasad, Cultural Politics of Hygiene in India, 1890–1940. Contagions of Feeling, Basingstoke 2015; Sarah Hodges, Contraception, Colonialism and Commerce. Birth Control in South India, 1920–1940, Burlington, Vt 2008.
2 Sunil Amrith, Decolonizing International Health. India and Southeast Asia, 1930–65, New York 2006; Tomoko Akami, Imperial Polities, intercolonialism, and the shaping of global governing norms. Public health expert networks in Asia and the League of Nations Health Organization, 1908–37, in: Journal of Global History 12 (2017), 1, S. 4–25; Randall M. Packard, A history of global health: Interventions into the lives of other peoples, Baltimore 2016.
3 Ulrike Lindner, The transfer of European social policy concepts to tropical Africa, 1900–50. The example of maternal and child welfare, in: Journal of Global History 9,2, S. 208–231; Shikrant Botre / Douglas E. Haynes, Understanding R.D. Karve. Brahmacharya, Modernity and the Appropriation of Global Sexual Science in Western India, 1927–1953, in: Veronika Fuechtner u.a. (Hrsg.), A Global History of Sexual Science, 1880–1960, Oakland 2017, S. 163–185; Jana Tschurenev, Empire, Civil Society, and the Beginnings of Colonial Education in India, Cambridge 2019.

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