J. Finger: Langfristige Medienwirkungen aus Rezipientenperspektive

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Titel
Langfristige Medienwirkungen aus Rezipientenperspektive. Zur Bedeutung des Fernsehens für mentale und kollektive Repräsentationen des Holocaust


Autor(en)
Finger, Juliane
Reihe
Lebensweltbezogene Medienforschung: Angebote – Rezeption – Sozialisation 4
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Wilke, Institut für Publizistik, Johannes Gutenberg Universiät Mainz

Bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fiel den Medien der Massenkommunikation in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 eine bedeutende Rolle zu. Dies gilt insbesondere für das Fernsehen, sowohl wegen seiner großen Reichweite, als auch wegen seiner visuellen Darstellungsmöglichkeiten. Forschungsliteratur hierzu gibt es einige, und zwar Inhaltsanalysen, aber auch Resonanzstudien. Letztere haben allerdings primär die kurzfristigen Reaktionen bei den Zuschauer/innen untersucht. Exemplarisch geschah dies zumal anlässlich der 1979 von den Dritten Fernsehprogrammen der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in Deutschland (ARD) im Verbund ausgestrahlten, von der National Broadcasting Company (NBC) aus den USA übernommenen „Holocaust“-Serie, die hierzulande geradezu eine Schockwelle auslöste. Sie ist Anfang 2019, vierzig Jahre nach der Erstausstrahlung, von einigen dieser Programme nochmals gesendet worden. Worüber man wenig weiß, ist, welche langfristigen Folgen solche Sendungen im Bewusstsein der Bevölkerung hinterlassen haben. Waren diese irgendwie nachhaltig oder wurden sie eher vergessen oder gar verdrängt? Und welche Randbedingungen waren dabei von Bedeutung? Dieser Frage nimmt sich die hier anzuzeigende Studie an, eine für die Buchfassung überarbeitete und gekürzte Hamburger Dissertation.

Wie für eine solche Qualifikationsschrift unerlässlich, wird die Fragestellung mit einer breiten theoretischen Grundlage fundiert, die rund ein Drittel des Seitenumfangs ausmacht. Dabei werden nicht nur Bezüge zu verschiedenen Ansätzen im Forschungsfeld langfristiger Medienwirkungen hergestellt, das die Verfasserin systematisch abschreitet. Darüber hinaus referiert sie die Annahmen und Befunde zum individuellen und kollektiven Gedächtnis, in deren Horizont die zu untersuchenden Phänomene eingeordnet werden. In beiden Teilen erweist sich Juliane Finger als sehr sachkundig und beschlagen, obgleich es sich um durchaus divergente Forschungstraditionen handelt. Selbst wer sich einigermaßen auskennt, wird ihm bisher unbekannte Beiträge aus der sich immer stärker ausdifferenzierenden Forschungslandschaft kennen lernen. Rund 450 Titel sind im Literaturverzeichnis nachgewiesen (und im Text verarbeitet). Das eine oder andere davon mag etwas überzogen daherkommen, so wenn beispielsweise das Ungetüm eines „erinnerungskulturwissenschaftlichen Medienkompaktbegriffs“ (S. 22) vorgestellt wird, dessen sich die Verfasserin in Anlehnung an Astrid Erll bedient.

Ein eigenes Kapitel ist dem Holocaust im bundesdeutschen Fernsehen gewidmet, sozusagen der Materialgrundlage, auf die sich die eigenen Erhebungen beziehen. Der Übersicht dient eine Matrix, in der die vorhandenen Studien nach Merkmalen klassifiziert sind. Solche wiederholt strukturierenden Hilfsmittel sind ebenso nützlich wie die mehrfach eingefügten Zwischenfazits. Herausgearbeitet werden zudem die bisher verwendeten Indikatoren für einschlägige Fernsehwirkungen. Daran anschließend entwickelt die Verfasserin die eigenen forschungsleitenden Fragen. Es kommt ihr dabei vor allem auf die subjektive Perspektive der Rezipient/innen an, sie will deren Holocaust-bezogene TV-Repertoires ermitteln sowie deren langfristige mentale Repräsentationen im individuellen und kollektiven Gedächtnis, die nochmals in zwei Varianten untergliedert werden.

Zur empirischen Klärung der Untersuchungsfragen werden zwei Methoden eingesetzt, die üblicherweise als „qualitativ“ gewertet werden: medienbiografische Interviews und Gruppendiskussionen. Der Rechtfertigung dieser Verfahren, ihrer methodischen Anlage und dem praktischen Vorgehen ist ein eigenes, mehr als dreißigseitiges Kapitel gewidmet. Das spricht für die reflektierte Forschungsplanung, die nicht auf Repräsentativität ausgerichtet ist, aber doch Diversität bei den Proband/innen angestrebt hat, insbesondere hinsichtlich des Alters und des Bildungsniveaus. Insgesamt wurden zwölf medienbiografische Interviews durchgeführt, an den fünf Gruppendiskussionen waren 22 Personen beteiligt. Da es um die Erhebung von Erinnerungs- und Gedächtnisleistungen ging, waren bei beiden Methoden die gesetzten Stimuli (durch den Fragebogen bzw. die Interventionen in den Gruppendiskussionen) von maßgebender Bedeutung.

Die Ergebnisse der Untersuchung basieren auf einer strukturierten Auswertung der Interview- und Diskussions-Protokolle. Sie werden in vier Schritten präsentiert. Zunächst geht es um die Erinnerung und Bewertung des Fernsehens hinsichtlich der eigenen Wahrnehmung des Holocaust und daran anschließend um die Holocaust-bezogenen (Medien-)Repertoires. Dabei ist die Verfasserin bemüht, von den individuellen Merkmalen zu Typisierungen zu gelangen und die relevanten Randbedingungen zu extrahieren. Im zweiten Schritt konzentriert sich Juliane Finger auf mentale und kollektive Repräsentationen des Holocaust (Wissen, Erinnerungen, Emotionen, persönliche Ansichten). Zudem werden am Beispiel der in der Regel durch ihre Vornamen benannten und in der Schilderung individualisierten Untersuchungspersonen typische Lebensverläufe rekonstruiert: Der fernseh-fokussierte Typ, der vielseitig Geschichtsinteressierte, der vielseitige Geschichts-Experte, der Typ „Nach der Schule kommt das Fernsehen“ (S. 157), der „Familiengeprägte“ (S. 158) und der Typ der „sporadischen, nicht-medialen Auseinandersetzung“ (S. 197).

Diese Aufzählung zeigt, dass es sich hier nicht um eine dimensional kohärente Typologie handelt, sondern um eine, die ad hoc auf der Basis der ermittelten Selbstauskünfte der Befragten gründet. Gleichwohl erbringt die Studie zahlreiche Erkenntnisse: zum breiten Spektrum langfristiger Wirkungen, der Bedeutung des Alters hinsichtlich der Erstkontakte und der Erinnerung, zu Sättigungs-Effekten, den Veränderungen im Lebensverlauf und der Fluktuation, zum Kontext sonstiger Quellen, zum (geringen) Bildungseinfluss etc. Wichtiger als letzterer erwies sich z.B. das Themeninteresse. Als relevante Bezugsgröße stellte sich auch das persönliche Umfeld heraus, vielleicht wenig überraschend, aber nichtsdestotrotz einer Bestätigung wert. Letzteres betrifft auch die erkennbare starke kulturelle Normierung des Umgangs mit dem Holocaust in der Bundesrepublik. Das hält die Verfasserin nicht davon ab, Implikationen für die Programmverantwortlichen abzuleiten.

Die Untersuchung ist bemerkenswert zielführend, auch selbstkritisch und problembewusst. Mögliche Kritik an Details berührt nicht die schlüssige Abarbeitung der gewählten Konzeption. Das einzige, was aber doch verwundert, ist, dass die Verfasserin zur Erklärung des Vorgefundenen weitgehend ohne Bezüge zu kommunikationswissenschaftlichen Selektionstheorien und zur psychologischen Erinnerungs- und Gedächtnisforschung auskommt.

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