H. Medick: Der Dreißigjährige Krieg

Cover
Titel
Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt


Autor(en)
Medick, Hans
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirstin Bentley, Historisches Seminar, Universität Basel

2018 jährte sich der Prager Fenstersturz zum 400. Mal und damit auch der Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Das Jubiläum gab Anlass für eine Fülle von einschlägigen Publikationen, die das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln neu beleuchteten, wobei besonders das Genre der Überblicksdarstellungen das Gebot der Stunde zu sein schien. Auch Hans Medick stellt sein Buch mit dem Anspruch einer „Gesamtdarstellung“ (S. 12) in diese Reihe. Doch aus der Fülle seiner Vorarbeiten der letzten 20 Jahre schöpfend, betont er die Andersartigkeit seiner Herangehensweise. Medick, Doyen der Mikrogeschichte im deutschsprachigen Raum und nach wie vor dem historisch-anthropologischen Ansatz verpflichtet, geht von der zentralen These aus, dass der Dreißigjährige Krieg nicht in erster Linie auf den Schlachtfeldern, sondern zu Hause und im Alltag stattfand. Dies wird für ihn vor allem in den Einquartierungen von Armeeangehörigen in der Zivilbevölkerung greifbar. Neben Zeitungen, Flugschriften und Einblattdrucken bilden daher vor allem Selbstzeugnisse sein Quellenmaterial und fungieren als „analytische und darstellerische Ausgangspunkte einer dokumentarischen Mikrogeschichte“ (S. 12). Von diesen ausgehend sucht Medick, die Vielzahl unterschiedlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen unter dem übergreifenden Thema der Gewalt zu einer „bottom-up“-Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zu verweben.

Als Klammer dient dem Buch die Chronologie. Folgerichtig befasst sich das erste Kapitel mit den Anfängen des Krieges, während die letzten beiden Kapitel (7 und 8) das Ende ausleuchten mit einem Schwerpunkt auf den langwierigen Friedensverhandlungen sowie der Wahrnehmung, Bedeutung und dem Stellenwert des Friedens für die Bevölkerung in den Kriegsgebieten. Dazwischen spannen sich die fünf übrigen Kapitel, die sich an einflussreichen Forschungsfragen der letzten Jahrzehnte zum Dreißigjährigen Krieg orientieren – der Religion, der Kriegsgewalt im Alltag, den Geißeln des Krieges, dem massenhaften Sterben und der Medialisierung.

Während die Kapitelstruktur also eher traditionell anmutet, entspricht die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel kaum den gängigen Erwartungen an eine historische Gesamtdarstellung. Mit Ausnahme des letzten Kapitels sind alle nach dem gleichen Muster strukturiert: Während der erste Teil des Kapitels der Darstellung dient, folgen als zweiter Teil „Zeugnisse und ihre Geschichten“. Dabei werden zwischen sechs und neun ausgewählte Quellenauszüge („Miniaturen“) vorgestellt und in einer kurzen Einleitung kontextualisiert, um danach für sich zu sprechen. Dem Original wird dabei viel Raum gegeben, nur sporadisch wird es in Fußnoten kritisch kommentiert. Dieses Vorgehen verleiht dem Buch eine große Quellennähe und macht es zu einer Mischung aus Geschichtserzählung und Quellenedition.

Das Nebeneinanderstellen und Aufzeigen der zeitgleich unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpretationen der Akteur/innen ist die große Stärke des Buches. Es vereint so verschiedenartige Quellen wie die Aufzeichnungen des Söldners Peter Hagendorf oder des Bürgermeisters und Ratsherren Christian Brandis, die Chronik der Nonne Klara Staiger, das Zeitregister des Schuhmachers Hans Heberle oder die Tagebucheintragungen Fürst Christians II. von Anhalt-Bernburg. So gelingt es Medick beispielsweise im ersten Kapitel plausibel darzustellen, dass es in der zeitgenössischen Wahrnehmung nicht nur einen Anfang des Dreißigjährigen Krieges und eine Sichtweise darauf gab, sondern mehrere. In ähnlicher Weise wird auch in den letzten beiden Kapiteln ersichtlich, dass der Westfälische Friede 1648 mitnichten sofortigen Frieden im gesamten Kriegsgebiet bedeutete. Erst die Satisfaktionszahlungen an die Armeeangehörigen, die 1650 auf den Nürnberger Exekutionstagen festgelegt wurden, führten zur allmählichen Zerstreuung und Auflösung der Söldnerheere, was auch für weite Teile der Bevölkerung den ersehnten Frieden brachte.

Eindrücklich gelingt es Medick durch seine Quellenauswahl, ohne das modernisierungstheoretische Narrativ der Vormoderne als gewalttätige Zeit zu bedienen, nachvollziehbar zu machen, wie die Gewalterfahrungen des Krieges in der Bevölkerung zum alltäglichen Hintergrundgeräusch gehörten. Die Einquartierung der Soldaten in den Häusern der Menschen in der Stadt und auf dem Land brachte den Krieg im wahrsten Sinne des Wortes „ins Haus“ und erzwang ein alltägliches und manchmal monatelanges Zusammenleben von Militär und Einwohner/innen (bes. Kap. 3).

Im zweiten Kapitel widmet sich Medick vordergründig der Frage, ob der Dreißigjährige Krieg als Religionskrieg gelten kann oder nicht. In der Verzahnung mit der Religion lenkt er auch den Blick auf Begrifflichkeiten von Gewalt und Macht. Das Label des Religionskriegs befindet Medick für den Dreißigjährigen Krieg als „problematisch“ (S. 59), schließt dann aber doch wiederum, dass religiöse Zugehörigkeiten sich im Alltag auswirkten und daher der Dreißigjährige Krieg „von Religionskonflikten bestimmt war“ (S. 60) – er ging also nicht in einem Religionskrieg auf, war aber „fundamental von religiösen Wahrnehmungen durchdrungen“ (S. 62). Es gelingt dem Autor nicht gänzlich, diese Widersprüchlichkeit aufzulösen, und er verschiebt das Problem, indem er sich auf die Ebene der symbolischen Gewalt konzentriert. Medick kommt zum Schluss, dass in den lokalen Spannungsfeldern die konfessionelle Religiosität ihre je eigenen Gewalthandlungen und Widerstandsformen hervorbrachte, die wiederum prägend für die Wahrnehmungen und Handlungen der Menschen waren.

Das dritte, vierte und fünfte Kapitel bilden mit ihren Fokussen auf den Kriegsalltag und verschiedene Formen von Gewalt sowie der Herausarbeitung und Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Kriegswahrnehmungen und -erfahrungen den Kern des Buches.

Im umfangreichsten dritten Kapitel konzentriert sich Medick auf das alltägliche Miteinander von und die Beziehungen zwischen ziviler und militärischer Bevölkerung. Da der Regelfall im gesamten Dreißigjährigen Krieg nicht die Kasernierung des Militärpersonals, sondern dessen Unterbringung in den Wohnhäusern und -quartieren der Ortsansässigen war, kam es zu vielfachen Kontakten, ja eigentlich zu einem Zusammenleben auf teilweise kleinstem Raum zwischen den Truppenangehörigen und der Zivilbevölkerung. Die Einquartierungen waren eine „besonders prekäre Schlüsselsituation“ und prägten das „Leben und Überleben“ der Zivilbevölkerung grundlegend. Neben dem Zusammenleben fokussiert sich Medick auf die Fluchten. Denn drohende Gewalt durch Truppendurchzüge trieb vor allem die Landbevölkerung oftmals zur Flucht in fortifizierte Orte wie benachbarte Städte und Klöster, zur Not aber auch einfach in den nächstgelegenen Wald. Eindrücklich gelingt es, aus den hier präsentierten Selbstzeugnissen sowohl die Sicht der Menschen vor Ort als auch den Blickwinkel der Militärangehörigen zu ergründen. Auch wenn Medick Letzteren als „Täterperspektive“ (S. 113) kennzeichnet, versucht er doch auch sichtbar zu machen, dass die Zivilisten nicht nur passive Opfer waren, sondern sich durchaus zu helfen und Vorteile für sich aus den Einquartierungen herauszuschlagen wussten.

Das vierte Kapitel ist den „Geißeln des Krieges“ gewidmet, den Begleitumständen wie Hunger und Krankheit, denen – wie die heutige Forschung weiß, und Medick schließt sich hier an – um ein Vielfaches mehr Menschen zum Opfer fielen als dem eigentlichen Kriegsgeschehen, den Schlachten und Belagerungen. Medick fragt vor dem Hintergrund des typisch frühneuzeitlichen Deutungsmusters von Krieg, Krankheit, Hunger und Tod als gerechte Strafen Gottes für die Sünden der Menschen nach den „realen Erfahrungen“ (S. 163), die in den Selbstzeugnissen Niederschlag fanden. Dabei zieht er die historische Demographie hinzu und konstatiert eine „regional und örtlich wechselvolle und phasenweise sehr unterschiedliche Dynamik von Tod und Überleben“ (S. 165). Während in Süd- und Mitteldeutschland ein Bevölkerungsrückgang zwischen 1618 und 1648 von bis zu 65 Prozent festgestellt werden kann, florierte der Nordwesten, wie etwa Hamburg oder das Oldenburger Land, und profitierte vom Kriegsgeschehen, das nicht in seinen Territorien stattfand.

Nur für das fünfte Kapitel rückt Hans Medick dann die direkten Kriegshandlungen – die Belagerungen, Massaker und Schlachten – ins Zentrum des Geschehens, dies meist anhand bekannter und bereits eingehend erforschter Beispiele, wie der Belagerung von Augsburg, der Zerstörung Magdeburgs und der Schlacht bei Lützen. Die Schwierigkeiten der Armeelogistik, also die Beschaffung von Ressourcen, Kriegsmaterial wie Waffen, Munition und Pulver oder auch Pferden sowie die Versorgung mit Lebensmitteln, wurden während des Kriegs zu einem so großen Problem, dass Feldschlachten mitunter zur Ausnahme wurden und Belagerungen deutlich häufiger vorkamen. So ging es dann immer mehr darum, wer Territorien und Ressourcen kontrollierte, sie dem Feind vorenthalten und ihn so in die Knie zwingen konnte.

Medick betont bei seiner Behandlung der Schlachten vor allem auch die desolate Nachrichtenlage. Oftmals erreichten Nachrichten von Ereignissen erst mit deutlicher Verzögerung die Außenwelt und die Druckerstuben, es vergingen nicht selten Tage oder Wochen, bis das Ausmaß eines Ereignisses und der genaue Verlauf bekannt waren, wenn überhaupt. Denn kaum waren Nachrichten nach außen gedrungen, begann auch schon ihre propagandistische Verwertung. Medick zeigt dabei beispielhaft auf, wie durch die Kreuzung medialer Quellen, wie Flugschriften oder Zeitungen, mit Selbstzeugnissen – oder im Fall von der Schlacht bei Lützen mit archäologischen Funden – hinter die Propaganda geblickt werden kann (S. 219ff.).

Im sechsten Kapitel wird dann auch folgerichtig ein kurzes Schlaglicht auf die Rolle der Medien geworfen und der medialen Rezeption des Todes zweier schon zeitgenössisch berühmter Personen – Albrecht von Wallenstein (1583–1634) und König Gustav Adolf II. (1594–1632) – nachgegangen. Vor dem Hintergrund der Forschungsdebatten um den Dreißigjährigen Krieg als „Medienkrieg“ (Johannes Burkardt) zeigt Medick, dass sowohl Wallensteins als auch Gustav Adolfs Tod bereits zeitgenössisch medial konstruiert, debattiert und produziert wurden.

Hier wird erneut ersichtlich, was Hans Medick konsequent versucht: durch die Wahl der Quellenart und den mikrohistorischen Ansatz alternative Blickwinkel auf die historischen Ereignisse zu gewinnen. Zeitweilig wirkt es zwar etwas redundant, wenn er aus Abgrenzungsgründen die bisherige Historiographie zum Dreißigjährigen Krieg als Erzählungen der großen Männer, großen Taten und großen Daten darstellt, deren Perspektive ausschließlich eine der „Schlachten-, Ereignis- und Politikhistoriker“ (S. 223) sei, die sich in „epischen Großerzählungen“ (S. 14) vor allem für fürstliche Akteure, Schlachtereignisse und machtpolitische Verschiebungen interessieren. Eine solche Abgrenzung ist eigentlich gar nicht nötig, denn Medicks Monographie lässt sich als Ergänzung lesen. In seiner Erzählung kommen Menschen, ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen zu Wort, die sonst selten eine Stimme haben: Wer wissen will, wie ein Schuhmacher auf dem schwäbischen Land den Dreißigjährigen Krieg wahrnahm und deutete und wie er darüber schrieb, wird hier fündig. Die Quellennähe des Buches ist dabei eine zusätzliche Stärke. Einziger Wermutstropfen in dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass man die Sprache der „Quellenminiaturen“ dem heutigen Deutsch anpasste. Grundsätzlich jedoch ist Medicks Schreiben eines Überblickswerkes ohne Meisternarrativ eine meisterliche Leistung.

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