J. Osterkamp (Hrsg.): Kooperatives Imperium

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Titel
Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie


Herausgeber
Osterkamp, Jana
Reihe
Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 39
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Schneider, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Die Habsburgermonarchie galt in der Geschichtsforschung lange Zeit als schwacher, in sich zerrissener und rückständiger Staat, der den zentrifugalen Tendenzen der im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismen hilflos ausgeliefert war und dessen Auseinanderbrechen 1918 die logische Konsequenz der multiethnischen Bevölkerungsstruktur darstellte. Gegen den modernen, demokratischen Nationalstaat konnte, so die Meistererzählung, ein altmodischer Vielvölkerstaat nicht bestehen.

Diesem Narrativ stellt die jüngere Forschung neue Interpretationen gegenüber, die den Fokus weg vom sogenannten Nationalitätenhader hin zu jenen Aspekten lenken, welche die Habsburgermonarchie als „Versuchslabor der Moderne“ (S. 315) erscheinen lassen. Wichtige Impulse lieferte in diesem Zusammenhang die Imperienforschung, die neue Konzepte und Deutungsmuster für multiethnische und multikonfessionelle staatliche Gebilde bereitstellt.

Im vorliegenden Tagungsband steht das Konzept des „Kooperativen Imperiums“ im Zentrum. Die Autoren untersuchen die „politische Zusammenarbeit als integralen Bestandteil und als Funktionsbedingung der späten Habsburgermonarchie“ (S. 13). Die insgesamt 15 Beiträge, die durch eine Einleitung von Jana Osterkamp und ein Schlusswort von Pieter Judson abgerundet werden, befassen sich mit supranationalen und suprakonfessionellen Kommunikationsmustern in verschiedenen politischen, institutionellen, wirtschaftlichen, religiösen und regionalen Kontexten.

Peter Becker fokussiert in seiner Analyse der Einführung der Sozialversicherung auf die „Stolpersteine“ auf diesem Weg. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden als Aufsichtsorganen und von Versicherungseinrichtungen war nicht immer friktionsfrei: Immer wieder kam es zu Dysfunktionalitäten, die durch mangelnde Kooperationsbereitschaft der Behörden, schlecht geschultes Personal in den Ämtern und grundsätzliche Missverständnisse verursacht wurden.

Während die Sozialfürsorge daher als Stiefkind der Verwaltung erscheint, gilt dieser Befund nicht für die Wirtschaftsverbände, wie Uwe Müller zeigt. Der von ihm untersuchte Industrierat setzte sich aus Vertretern der verschiedenen Industrieregionen mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Böhmen und Niederösterreich zusammen. Er gab regelmäßig Gutachten und Empfehlungen ab, welche die gesamte westliche Reichshälfte im Blick hatten und auf eine „politische Stärkung Cisleithaniens und die Integration der Volkswirtschaft in der Habsburgermonarchie“ (S. 73) abzielten.

Verbände begnügten sich häufig nicht damit, Empfehlungen auszusprechen und Gutachten abzugeben. Vielmehr gehörten zahlreiche Abgeordnete im Wiener Reichsrat verschiedenen Verbänden und Vereinen an und vertraten deren Interessen im Bereich der Legislative. Zudem ermöglichten sie durch ihre persönlichen Netzwerke Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Wirtschaftsregionen der Monarchie, da offizielle Kontakte zwischen den Kammern der verschiedenen Kronländer verboten waren. Mit diesen „Multifunktionären“, die sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene wirkten, setzt sich Franz Adlgasser in seinem kollektivbiographischen Beitrag auseinander.

Kooperationen im Bildungsbereich sind das Thema von Peter Urbanitsch. In den Beiräten der Schulen begegneten sich Vertreter des Staates, der Länder und der lokalen Bevölkerung. Strittig war über die Jahrzehnte jedoch, wer die Gesellschaft repräsentieren sollte: Priester, säkulare Laien, lokale oder nationale Politiker? Urbanitsch beschreibt einen Aushandlungsprozess, der von einem grundsätzlichen Gedanken der Kooperation getragen wurde.

Der Adel und das Militär sind gesellschaftliche Formationen, in welchen eine politische und ideelle Integration in das soziale Gefüge der Habsburgermonarchie durch die Verleihung von Sonderrechten erfolgen konnte. Jan Županič und Serhiy Choliy zeigen in ihren Beiträgen exemplarisch die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieser staatlichen Strategie auf und beleuchten nationale und territoriale Differenzen, die einer übergreifenden Kooperation im Weg standen.

Martin Klečacký, Pavel Kladiwa und Judith Brehmer thematisieren in ihren Untersuchungen verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen Wien und Böhmen. Die Institution des Landsmannministers, der in Wien die Interessen der böhmischen Länder vertrat und dabei zwar viele Kontakte knüpfte, aber wenig an transnationalen Kooperationen interessiert war (Klečacký), die Durchführung privater Bevölkerungszählungen aus Misstrauen gegenüber der Spracherhebungspraxis der staatlichen Statistik (Kladiwa) und die spezifisch nationale, „anti-imperiale“ (S. 203) Haltung der aktiven und erfolgreichen tschechischen Frauenbewegung (Brehmer) sind Beispiele für Hemmnisse einer übergreifenden Kooperation innerhalb der Habsburgermonarchie.

Beispiele für Kooperationen auf regionaler Ebene finden sich in den Ausführungen von Judit Pál und Vlad Popovici sowie von Ségolène Plyer. Im Zentrum der Darstellung von Pál und Popovici steht der Eisenbahnbau in Siebenbürgen. In diesem ethnisch, konfessionell und sprachlich gemischten Gebiet, das sich zudem durch eine ausgeprägte regionale Identität auszeichnete, war das supranationale und suprakonfessionelle Engagement von sogenannten power brokern essentiell, um die komplexe Aufgabe der Errichtung einer Eisenbahn zu bewältigen.

Plyer befasst sich im Gegensatz dazu nicht mit privaten Akteuren, sondern mit staatlichen Einrichtungen: den Bezirkshauptmannschaften in Ostböhmen. Sie untersucht die Kooperation zwischen dem Amt und der regionalen Bevölkerung beispielhaft anhand von Naturkatastrophen in den Jahren 1877 und 1897 sowie dem Kaiserjubiläum von 1908. Dabei analysiert sie das Selbstverständnis der Behörde und die Wahrnehmung der staatlichen Vertreter in der lokalen Bevölkerung und konstatiert eine „Gratwanderung zwischen Liberalität und Intervention“ auf Seiten der Verwaltung und eine „kontrollierte Partizipation“ auf Seiten der Gesellschaft (S. 247) – ein Verhältnis, das durch den schwelenden Nationalitätenkonflikt als einer zusätzlichen Komplikation beeinflusst wurde.

Kooperation innerhalb einer Religionsgemeinschaft – konkret der jüdischen Gemeinden – ist das Thema des Beitrags von Martina Niedhammer. Sie befasst sich mit der Versorgung jüdischer Migrant/innen, die auf ihren Reisen das Gebiet der Habsburgermonarchie passierten. Die nach dem Vorbild der „Deutschen Zentralstelle für Jüdische Wanderarmenfürsorge“ gestaltete Einrichtung in der Habsburgermonarchie stand einer Kooperation mit staatlichen Einrichtungen skeptisch gegenüber. Sie strebte vielmehr eine eigenständige Lösung auf der Ebene der Religionsgemeinschaft an. Der Kooperationsgrad der Kultusgemeinden in den Kronländern, so zeigen die Untersuchungen Niedhammers, war schwankend und hing mit dem Grad der Belastung durch die Wanderarmen zusammen.

Die interreligiöse Zusammenarbeit zwischen Muslimen, Orthodoxen und Katholiken in Bosnien-Herzegowina ist das Thema von Heiner Grunert. Um sich als periphere Provinz in Wien Gehör zu verschaffen und bürgerliche Rechte und Privilegien zu erstreiten, teilten die konfessionellen Gruppen ihr jeweiliges Know-how: analoge Vereinsgründungen förderten die Vergesellschaftung, kompetente Personen vertraten die Interessen unabhängig von ihrer eigenen religiösen Zugehörigkeit. Letztlich waren diese Kooperationen aber kein Selbstzweck, wie Grunert betont, sondern dienten als Mittel, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

John C. Swanson wiederum befasst sich mit Aushandlungsprozessen auf lokaler Ebene in der ungarischen Reichshälfte. Das Thema seines Beitrags ist der wachsende Einfluss des ungarischen Staats insbesondere auf konfessionelle, deutschsprachige Schulen. Dabei wird deutlich, dass die Magyarisierung von der Bevölkerung nicht nur als negativer staatlicher Zwang empfunden wurde. Vielmehr entwickelte sich ein Diskurs zwischen den involvierten Parteien, der vielfach in Kompromisse mündete.

Mit einem supranationalen Identitätskonzept setzt sich Peter Techet in seinem Beitrag über die italienischsprachigen Katholiken in Triest auseinander. Diese setzten sich in Zeitungsartikeln gegen nationale Aspirationen slowenischer Katholiken und liberaler Italiener zur Wehr und plädierten für eine gesamtstaatliche katholische Loyalität.

Der Band bietet einen reichen Überblick über unterschiedliche Formen mehr oder weniger ausgeprägter politischer Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen im imperialen Kontext der Habsburgermonarchie. Dabei wird die Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit dieser konzeptionellen Herangehensweise deutlich herausgearbeitet. Es bleibt zu hoffen, dass noch weitere ausführliche Studien, die auf diesem Ansatz aufbauen, folgen werden.

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