Cover
Titel
Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland


Autor(en)
Plaggenborg, Stefan
Erschienen
München 2018: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
X, 395 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gleb Kazakov, Historisches Institut, Osteuropäische Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Studien zur vormodernen Geschichte Russlands sind heutzutage selten auf dem deutschen akademischen Buchmarkt. Umso größer ist die Neugier, wenn ein solches Buch im Druck erscheint. Stefan Plaggenborgs Monographie widmet sich der russischen Geschichte ausgehend von der Kiever Rus’ bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts und trägt den umfassenden Titel „Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland“. Dabei werden bereits im Titel zentrale Kategorien der politischen und kulturellen Geschichte Altrusslands angesprochen: Herrschaft, Religion und Recht. Im Zentrum der Studie steht der Begriff „pravda“, zweifellos einer der grundlegenden Begriffe der vormodernen russischen Geschichte. Wie der Autor selbst bereits im Vorwort bemerkt (S. VIII), gibt es für das russische Wort pravda keine zu hundert Prozent passende deutsche Übersetzung, die alle Aspekte dieses vielschichtigen Konzepts abdecken könnte. Sein Bedeutungsspektrum umfasst Wahrheit, Gerechtigkeit, Richtigkeit, das Recht und die dieses Recht schützende Ordnung.

Um sich diesem komplexen kulturellen Konzept zu nähern, wählt Stefan Plaggenborg eine chronologische Vorgehensweise: Er beginnt seine Ausführungen in der Epoche unmittelbar nach der Christianisierung der Rus’ im 10. Jahrhundert und verfolgt die Entwicklung der pravda-Idee bis zum Vorabend der petrinischen Reformen am Ende des 17. Jahrhunderts. Es fällt dem Leser jedoch schnell ins Auge, dass der Autor trotz des behaupteten breiten Bedeutungsspektrums des Begriffs mit pravda hauptsächlich eine ganz konkrete Idee verbindet – die Idee von gerechter Herrschaft – und sich vor allem auf den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Herrschaft konzentriert. Da es in Altrussland „keine Widerstandslehre und schon gar kein Widerstandsrecht“ gegeben habe (S. 5), so Plaggenborg, rückt ins Zentrum der Analyse in den Kapiteln I bis IV die religiös-publizistische Polemik über die Herrschaftslegitimation und das Bild des gerechten Herrschers bei den „großen Denkern“ der altrussischen Geschichte: Metropolit Ilarion, Vassian Rylo, Iosif Volockij, Ivan Peresvetov, Mönch Filofej und anderen. Bei der Suche nach dem Ursprung dieses Bilds distanziert sich Plaggenborg von der historiographischen Tradition, die primär das Byzantinische Reich als Vorbild für die altrussische Herrschaftsidee gesehen hat, und verweist zu Recht auf den starken Einfluss der alttestamentarischen Ideologie. In den Kapiteln III und IV münden Plaggenborgs ideengeschichtliche Ausführungen über die altrussische pravda zum Teil in die Diskussion über die Etablierung der grenzlosen Alleinherrschaft des Moskauer Zaren unter Ivan Groznyj. Den Mehrwert seiner Studie sieht Plaggenborg im Vergleich zur bisherigen Historiographie darin, dass er hinter den Vorstellungen der altrussischen Quellen über die gerechte Herrschaft eine das vormoderne Russland definierende „pravdaistische Ordnung“ zu sehen vermag.

Dieser für die Monographie grundlegende Gedanke erweckt jedoch eine ganze Reihe von kritischen Fragen. Erstens scheint diese von Plaggenborg rekonstruierte „pravdaistische Ordnung“ allzu pauschal und fast transzendental zu sein. „In Altrussland war sie [pravda] kosmische Weltordnung, gelebte und erlittene Realität, Weltvorstellung und dessen Grenze, hinter der es weder Gerechtigkeit noch Wahrheit, weder rechten Glauben noch wahres christliches Reich geben konnte“ (S. 337) – diese Definition ist so vage, dass es einem schwerfällt, die Bereiche zu nennen, die nicht Teil dieser „pravdaistischen Ordnung“ waren. Das liegt teilweise daran, dass der Autor sich in seinem Werk nicht mit der Geschichte des historischen Begriffs pravda auseinandersetzt. Vergeblich sucht man im Literaturverzeichnis nach Verweisen auf die Lexika der altrussischen Sprache. Dabei gibt es zahlreihe Hinweise, dass der Begriff vor allem in der früheren Epoche (vom 11. bis 15. Jahrhundert) in den Quellen sehr oft im rechtlichen Kontext auftauchte und offenbar primär in der Bedeutung “Gesetz, Gericht, Vertrag, Versprechung” verwendet wurde.1 Beispiele aus altrussischen Chroniken und Rechtsbüchern demonstrieren das semantische Feld der rechtlichen Natur, in dem der Begriff pravda in Altrussland Verwendung fand: “v pravdu” - “gemäß dem Gesetz”, “pravdu dati” - “einen Eid schwören”, “vzjati pravdu” - “einen Rechtsstreit gewinnen”.2 Da Plaggenborg jedoch als Quellen hauptsächlich die Schriften der Kleriker heranzieht, sieht er die altrussische pravda primär in ihrer kirchlichen Bedeutung – als sakrale alttestamentarische Gerechtigkeit göttlichen Ursprungs. Zwar wird dem vormodernen russischen Recht ein ganzes Kapitel V gewidmet, jedoch behandelt es hauptsächlich die Sudebniki (Gesetzbücher) des 16. und 17. Jahrhunderts und nur wenige Seiten werden der Analyse des altrussischen Rechts der früheren Epoche geschenkt – trotz der Tatsache, dass die älteste Rechtssammlung der Ostslaven Russkaja Pravda das Wort pravda in ihrem Titel trägt. Plaggenborgs Bemerkung, dass der Begriff „in keinem der Artikel der verschiedenen überlieferten Fassungen“ dieser Rechtssammlung „weder begrifflich noch irgendwie konzeptionell“ vorkäme (S. 219), ist schlicht irrtümlich, da die so genannte „Erweiterte Pravda“ das Wort pravda in den Artikeln 21, 56 und 85 kennt.3

Die Behauptung, es habe eine „pravdaistische Weltordnung“ in Altrussland gegeben, bei der pravda eine sakrale, allumfassende von Gott ausgehende Gerechtigkeit bedeutete, deren Erhalt der altrussische Herrscher als Gottes Stellvertreter auf Erden zu sorgen hatte, stößt auf weitere Probleme, wenn man die altrussischen Chroniken genauer heranzieht. So wird ersichtlich, dass der Ausdruck svoja pravda („eigenes Recht, eigene Meinung“) in den Texten häufig vorkommt, was eher einen pravdaistischen Pluralismus in Altrussland impliziert. Verschiede pravdas – in diesem Fall als „Ansichten, Rechtsvorstellungen“ übersetzt – könnten z. B. konkurrierende Fürsten haben, manchmal wird svoja pravda sogar dem Willen Gottes gegenübergestellt: „Und wollten alle Bojaren ihre eigene pravda durchsetzen und lehnten Gottes pravda ab, meinend, wie es ihnen lieb wäre, so würden sie es tun“.4

Strittig scheint auch das abschließende Kapitel VI des Buches – „Das Zeitalter der nepravda“. Hier beleuchtet Plaggenborg den angeblichen Untergang der altrussischen „pravdaistischen Ordnung“ im 17. Jahrhundert nach den tragischen Ereignissen der Smuta. Als Beleg dafür sieht er die Intensivierung sozialer Proteste – in Form der städtischen und kosakischen Aufstände sowie des religiösen Dissenses der Altgläubigen – dessen Teilnehmer immer häufiger, so Plaggenborg, mit dem Dasein der Ungerechtigkeit in ihrem Alltag konfrontiert worden seien und an die gerechte Herrschaft nicht mehr zu glauben schienen. Es ist unumstritten, dass die Smuta eine tiefe Krise in der politischen Ideologie des Moskauer Reichs verursachte. Doch soziale Rebellionen, die aus der Vorstellung der fehlenden oder bedrohten Gerechtigkeit erwuchsen, waren in der vormodernen Geschichte Russlands keineswegs nur für das 17. Jahrhundert typisch – zu nennen sind etwa der Kiewer Aufstand von 1113 oder der Moskauer Aufstand von 1547, der sehr enge Parallelen zu den städtischen Revolten des 17. Jahrhunderts aufweist. Die Behauptung Plaggenborgs, dass „im Verlauf des 17. Jahrhunderts […] die soziale Gerechtigkeit in das Konzept der pravda einzurücken“ begonnen habe (S. 295), scheint daher etwas überspitzt. Die Zäsursetzung ist nur bedingt nachvollziehbar, da es sowohl davor als auch danach immer wieder zu Rebellionen „in the name of the tsar“ kam.5

Was bleibt? Das Buch behandelt ein sehr wichtiges und etwas vernachlässigtes Thema der vormodernen russischen Geschichte und bietet eine chronologisch geordnete Ideengeschichte des Konzepts der gerechten Herrschaft in Altrussland an. Sehr lobenswert ist der Verweis auf das Alte Testament als Referenztext für altrussische Großdenker. Allerdings zerfällt das Konstrukt der „pravdaistischen Ordnung“ bei der genauen Inspektion aus der Nähe in einzelne, zum Teil sehr strittige Striche. Wichtige Bereiche, wie die Geschichte des Begriffs pravda und dessen Einsatz in der rechtlichen Sphäre blieben in der Studie größtenteils unberücksichtigt. In der Geschichte des Konzepts der pravda in der (alt)russischen Kultur hat das rezensierte Buch zwar wichtige Fragen hervorgehoben, wird jedoch kein Ausrufezeichen setzen können. Vielmehr verdient das Thema eine weitere Abhandlung mit Berücksichtigung eines deutlich breiteren Quellenkorpus.

Anmerkungen:
1 Izmail I. Sreznevskij, Materialy dlja slovarja drevnerusskogo jazyka po pis’mennym pamjatnikam, Bd. II, Sankt Petersburg 1902, S. 1355–1360.
2 Slovar’ russkogo jazyka XI–XVII vv, Vypusk 18, Moskau 1992, S. 96–99.
3 Günter Baranowski, Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches Rechtsdenkmal, Rechtshistorische Reihe 321, Frankfurt am Main 2005, S. 21, 27, 31.
4 Polnoe sobranie russkich letopisej, Bd. I, Lavrent’evskaja letopis’, Vypusk 2, Leningrad 1927, Spalte 378.
5 Daniel Field, Rebels in the name of the Tsar, Boston 1976.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension