S. Pukallus: The Building of Civil Europe 1951–1972

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Titel
The Building of Civil Europe 1951–1972.


Autor(en)
Pukallus, Stefanie
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 318 S.
Preis
€ 80,24
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Bruch, Georg Eckert Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig / Historisches Archiv der Europäischen Union, Florenz

Europäisierung ist ein vielschichtiges Konzept, das lange Zeit überwiegend Gegenstand von politik-, rechts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen war. Diese sind in der Regel gegenwartsorientiert; sie konzentrieren sich auf die vielfältigen Interaktionen und zunehmenden Verflechtungen zwischen den nationalen Mitgliedsstaaten und den Institutionen der supranationalen EU in ihren jeweiligen Politikfeldern. Doch der Europäisierungsprozess hat auch eine historische Dimension, die in den letzten Jahren durch die europäische Integrationsgeschichte zunehmend aufgegriffen und mittels neuerer ideen- und kulturgeschichtlicher Ansätze untersucht wird.1 Diese Forschungsrichtung setzt sich zum einen mit den Europavorstellungen verschiedenster Akteure in der Zwischen- und Nachkriegszeit auseinander, zum anderen zeichnet sie die Möglichkeiten, Strategien und Grenzen der Schaffung eines Europabewusstseins nach und fragt schließlich nach den historischen Bedingungen für die Gründung einer europäischen Zivilgesellschaft. Mit diesen Themenfeldern befasst sich auch die 2019 erschienene Studie The Building of Civil Europe 1951–1972 von Stefanie Pukallus, die Journalismus mit Schwerpunkt Public Communication and Civil Development an der Universität Sheffield lehrt.

Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die „Fabulous Artificers“. Unter dieser Bezeichnung summiert Pukallus 17 hochrangige Repräsentanten und Beamte der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie der EWG- und Euratom-Kommissionen, zu denen die Autorin zentrale Akteure wie Jean Monnet, René Mayer, Walter Hallstein, Albert Coppé, Jacques-René Rabier, Max Kohnstamm und Robert Schuman zählt. Zwischen der Gründung der EGKS 1951/52 und dem Jahr 1972 (unmittelbar vor der ersten Erweiterungsrunde) habe sich diese Gruppe – so die zentrale These der Untersuchung – nicht nur auf die wirtschaftlich-politische Vergemeinschaftung durch die Konstituierung supranationaler Institutionen konzentriert, sondern gleichzeitig aktiv die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft gefördert. Dabei sei es das Ziel gewesen, die Grundlagen für ein demokratisches, rechtsstaatliches und solidarisches Europa zu legen sowie ein pro-europäisches Bewusstsein in der Bevölkerung der anfangs sechs Mitgliedsstaaten zu generieren.

Zum Einstieg setzt sich Pukallus mit den von ihr ausgewählten Vertretern und Mitarbeitern der Hohen Behörde und der Kommissionen auseinander. Hierzu zeichnet sie einem sozialhistorischen Ansatz folgend komprimiert die Biographien der einzelnen Akteure nach und erläutert ihre jeweiligen Aufgabenbereiche innerhalb der europäischen Einrichtungen. Es zeigt sich, dass bei allen Unterschieden bezüglich der politisch-kulturellen Sozialisation und des beruflichen Werdegangs sowohl die oftmals frühen kosmopolitischen Prägungen als auch die persönlichen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer europäischen Friedensvision spielten. Diese umfasste die Neugestaltung eines politischen Ordnungsmodells (West-)Europas, die damit verbundene Überwindung destruktiver Nationalismen und den Appell, dass „Europa“ für die europäische Bevölkerung eine „Realität“ werden müsse (S. 13). Demzufolge kamen die Kommissare und Beamten zu der Schlussfolgerung, dass es unerlässlich sei, eine Reihe von Initiativen im Bildungs-, Kultur- und Medienbereich zu lancieren, um das gegenseitige Verständnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedsstaaten zu fördern und deren Identifikation mit den Normen, Werten und Zielen des europäischen Einigungsprojekts voranzubringen.

Diese Initiativen, die von den europäischen Institutionen im Rahmen einer supranational organisierten Öffentlichkeitsarbeit betrieben wurden, bilden den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Publikation. Anhand von drei Fallbeispielen rekonstruiert Pukallus die Zielsetzung, Organisationsstruktur und Arbeitsweise der europäischen Informationspolitik, die der Autorin zufolge eben nicht nur auf ausgewählte Entscheidungsträger und Multiplikatoren ausgerichtet war, sondern eine möglichst große Öffentlichkeit einbeziehen sollte. Betrachtet werden die Gründung der ersten Europäischen Schule in Luxemburg, die Teilnahme der EGKS an der Expo 58 in Brüssel sowie die Produktion von Informationsfilmen durch den Presse- und Informationsdienst der Europäischen Gemeinschaften. Auf Basis des umfangreichen Schriftguts aus den Historischen Archiven der Europäischen Union und der Europäischen Kommission, publizierter Abhandlungen und Reden sowie entsprechender Pressematerialien versucht Pukallus nachzuweisen, dass sich die Vision einer europäischen Zivilgesellschaft bereits in diesen drei frühen Kampagnen widerspiegelte.

In ihrem ersten Beispiel zeichnet die Autorin die Motive nach, die zur Gründung der Europäischen Schule in Luxemburg im Jahr 1953 führten. Der Anlass hierfür war zunächst pragmatischer Natur, da die neuen Beamten der EGKS, die mit ihren Familien nach Luxemburg umgezogen waren, vor der Frage standen, an welcher Schule die Kinder unterrichtet werden sollten. Es entwickelte sich – von institutioneller Seite unterstützt durch Jean Monnet und Paul-Henri Spaak – rasch eine Art Schulexperiment, das den Schülern und Schülerinnen gemeinsame Bildungserfahrungen unter „europäischen“ Vorzeichen ermöglichte. Neben dem mehrsprachigen Unterricht sahen die Verantwortlichen in der Schulgründung eine Chance, die Grundlage für eine „European civil disposition“ in der jungen Generation zu legen (S. 136). Mit diesem Leitbild war auch eine Neukonzeption des Unterrichts verbunden, der gegenseitigen Respekt, Toleranz und Solidarität vermitteln sollte. Entsprechend wurden die nationalen Curricula ergänzt und der Lehrstoff stärker „europäisiert“, d.h. auf die verbindenden kulturellen und politischen Gemeinsamkeiten ausgerichtet.2 Die Lehrkräfte wurden bei ihrer Arbeit unter anderem durch ein Historikergremium beraten, das etwa die Frage der kontroversen Darstellung von geschichtlichen Ereignissen in den nationalen Schulbüchern erörterte.

Bei der zweiten vorgestellten Initiative handelt es sich um die Teilnahme der EGKS an der Expo 58 in Brüssel. Die Hohe Behörde zeigte Präsenz durch die Errichtung eines modernen und im Verlauf der Weltausstellung preisgekrönten Pavillons, der das Prinzip der supranationalen Zusammenarbeit innerhalb der Montanunion architektonisch reflektierte und unter anderem ein realitätsgetreues, begehbares Modell eines Kohlebergwerks zur Schau stellte. Ferner wurden zahlreiche Informationsbroschüren herausgegeben, täglich Pressekonferenzen abgehalten und ein umfangreiches kulturelles Rahmenprogramm organisiert. Die abschließende Auswertung der Teilnahme zeigte jedoch, dass es den Organisatoren zwar gelungen sei, ausführliche Informationen über die wirtschaftlichen Erfolge und technologischen Fortschritte zur Verfügung zu stellen, dass aber der sachliche Stil der öffentlichen Kommunikation bei den Pavillonbesuchern nicht wirklich die gewünschte Bindung an die eher technokratisch erscheinenden Europäischen Gemeinschaften hervorgerufen habe. Die Referenten des Pressedienstes hatten sich bewusst für diese ergebnisorientierte Form entschieden, um sich nicht dem Vorwurf der Propaganda auszusetzen.

Auf eine subtilere Weise für das europäische Einigungsprojekt zu werben war das Ziel der Informationsfilme, die das dritte Beispiel für die Informationspolitik der Europäischen Gemeinschaften darstellen. Diese bis zu 30-minütigen Filme, die im Vorprogramm der Kinos und in Bildungseinrichtungen gezeigt wurden, galten aufgrund ihrer hohen Suggestivkraft und schnellen Reproduzierbarkeit als besonders geeignetes Mittel, um eine große Öffentlichkeit in den europäischen Mitgliedsstaaten zu erreichen. Entsprechend gab der Presse- und Informationsdienst zwischen 1951 und 1972 über 30 Filme in Auftrag, die Pukallus inhaltlich analysiert.3 Sie arbeitet die einzelnen visuellen Argumentationsstrategien und Motive der Filme klar heraus und erläutert, dass die Auftraggeber Wert auf die Themen Wohlstand, Fortschritt, Solidarität und Frieden legten. Mit der Visualisierung sollte demonstriert werden, dass das „alte“ Europa tatsächlich der Vergangenheit angehöre und durch die supranationale Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaften zwischenstaatliche Konflikte überwunden werden könnten. Die Autorin bezeichnet die Informationsfilme als eine wichtige Vermittlungsinstanz beim Versuch, das neue Europa zu legitimieren sowie das „civil norm-building“ der Europäischen Kommission durchzusetzen (S. 266).

Stefanie Pukallus legt mit ihrer Studie eine fundierte Darstellung der Informationspolitik der Europäischen Gemeinschaften vor. Dank ihrer umfassenden Archivarbeit und dichten Beschreibung aus den Quellen heraus kann sie durch die drei Fallbeispiele die Ziele, Arbeitsbedingungen und Herausforderungen aufzeigen, die sich für die Verantwortlichen bei der Konkretisierung der Vision eines zivilen Europas in der frühen Integrationsphase ergaben. Ihrer Einschätzung zufolge strebten die „Fabulous Artificers“ seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses danach, frühzeitig ein europäisches Bewusstsein in den Mitgliedsstaaten zu schaffen und dafür eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen. Doch an diesen zwei Thesen setzen auch die kritischen Anmerkungen an. Zum einen sind die „Fabulous Artificers“ zu keinem Zeitpunkt eine Gruppe gewesen, die das kohärente Konzept eines „zivilen Europas“ vorgelegt hätte. Ohne Zweifel waren die Visionen und Strategien der Kommissare einflussreich, aber ihre Bewertung erscheint hier doch zu sehr der Annahme verpflichtet, dass alle Verantwortlichen aus ideellen Gründen heraus agierten. Die Idee einer europäischen „Zivilgemeinschaft“ (wie man dies in Abgrenzung von der „Zivilgesellschaft“ nennen könnte) entwickelte sich pragmatisch in der Auseinandersetzung mit den Nationalstaaten sowie Europaverbänden und fand ihre offizielle Ausarbeitung erst im Kopenhagener „Dokument über die europäische Identität“ von 1973, das bei Pukallus unerwähnt bleibt. Zum anderen fehlt die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zu den Begriffen der (europäischen) Öffentlichkeit und des „Permissive Consensus“ (der „wohlwollenden Gleichgültigkeit“ bzw. „stillschweigenden Zustimmung“ breiter Bevölkerungsteile gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt), die wichtig sind für die Einschätzung, ob die Informationspolitik elitenorientiert oder auf ein großes Publikum ausgerichtet war. Die Bewertung der Autorin kann man für die Teilnahme der EGKS an der Expo 58 und die Informationsfilme gut nachvollziehen, doch bei der Schulgründung, die auf eine private Initiative der Eltern zurückging und nur eine sehr ausgewählte Zielgruppe betraf, ist die Einordnung zu bezweifeln.

Trotz dieser Kritikpunkte liefert das Buch erhellende Antworten auf die Frage, wie europäisches Bewusstsein bzw. Europäisierung bei den Bürgern und Bürgerinnen durch gezielte politische Kommunikationsstrategien seitens der Akteure und Institutionen generiert werden sollte. Pukallus zeigt ferner indirekt auf, warum der vertretene Top-Down-Ansatz die gewünschte Wirkung nicht entfaltete, und liefert damit die Gründe, warum sich die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Institutionen ab 1973 zum Beispiel durch das „Eurobarometer“ zunehmend professionalisierte.

Anmerkungen:
1 Ulrike von Hirschhausen / Kiran Klaus Patel, Europäisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.11.2010, https://docupedia.de/zg/hirschhausen_patel_europaeisierung_v1_de_2010 (19.06.2020); Hartmut Kaelble, Europäisierung, in: Matthias Middell (Hrsg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, S. 73–89.
2 Vgl. Raphaëlle Ruppen Coutaz, Introduire l’Europe dans l’école à la fin des années 1950. Une collaboration entre le Centre européen de la culture et l’Association européenne des enseignants, in: Revue Historique Neuchâteloise 156 (2019), S. 89–104.
3 Vgl. Gabriele Clemens (Hrsg.), Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme, Paderborn 2016. Siehe dazu auch die Datenbank „Advertising Europe Film Collection“, die auf der Website des Historischen Archivs der Europäischen Union (Florenz) zugänglich ist: https://archives.eui.eu/en/fonds/516099?item=AE (19.06.2020). Eine Fortsetzung des Projekts „Werben für Europa“, welches die nach 1973 produzierten Filme untersucht, ist derzeit in Vorbereitung.